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Spur der Toten

Drei Thriller in einem eBook: »Die Spur der Katze«, »Einer zuviel an Bord« und »Zeugen aus Stein«

©2023 1071 Seiten

Zusammenfassung

Eine Frau allein in der Wildnis – ein Kampf ums Überleben! Der Spannungs-Sammelband »Spur der Toten« von Nevada Barr jetzt als eBook bei dotbooks.

Drei abgründige Kriminalfälle – drei Spannungs-Highlights … In den einsamen Nationalparks Nordamerikas hofft die Rangerin Anna Pigeon, ihre düstere Vergangenheit endlich hinter sich zu lassen. Doch noch ahnt sie nicht, dass ihre schlimmsten Albträume sich genau hier bewahrheiten werden: In diesem Niemandsland gilt scheinbar kein Gesetz, keine Moral, nur der Stärkste überlebt … Während einer ihrer Patrouillen stößt Anna auf die Leiche ihrer Kollegin, offensichtlich von Raubkatzen zerfetzt. Bald schon kommen ihr allerdings Zweifel – und je mehr Fragen Anna stellt, desto mehr beschleicht sie der Verdacht, nur ein Puzzleteil in einem grausamen Spiel auf Leben und Tod zu sein …

»Eine außergewöhnliche Erzählerin!« Los Angeles Times

Jetzt als eBook kaufen und genießen! Der fesselnde Thriller-Sammelband »Spur der Toten« vereint die ersten drei Bände der Anna-Pigeon-Reihe von Nevada Barr: »Die Spur der Katze«, »Einer zuviel an Bord« und »Zeugen aus Stein«. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Über dieses Buch:

Drei abgründige Kriminalfälle – drei Spannungs-Highlights … In den einsamen Nationalparks Nordamerikas hofft die Rangerin Anna Pigeon, ihre düstere Vergangenheit endlich hinter sich zu lassen. Doch noch ahnt sie nicht, dass ihre schlimmsten Albträume sich genau hier bewahrheiten werden: In diesem Niemandsland gilt scheinbar kein Gesetz, keine Moral, nur der Stärkste überlebt … Während einer ihrer Patrouillen stößt Anna auf die Leiche ihrer Kollegin, offensichtlich von Raubkatzen zerfetzt. Bald schon kommen ihr allerdings Zweifel – und je mehr Fragen Anna stellt, desto mehr beschleicht sie der Verdacht, nur ein Puzzleteil in einem grausamen Spiel auf Leben und Tod zu sein …

»Eine außergewöhnliche Erzählerin!« Los Angeles Times

Über die Autorin:

Nevada Barr wurde 1952 in Yerington, Nevada geboren. Sie arbeitete als Schauspielerin, bevor ihre Liebe zur Natur sie als Rangerin in verschiedene Nationalparks führte. Dies inspirierte sie zu ihrer Serie über Anna Pigeon, die mehrfach preisgekrönt wurde – unter anderem erhielt der erste Band, »Die Spur der Katze«, den renommierten Agatha-Award als bestes Debüt – und international erfolgreich ist. Nevada Barr lebt heute in Mississippi.

In der Anna-Pigeon-Reihe erscheinen bei dotbooks außerdem:

»Feuersturm«, Band 4

»Paradies in Gefahr«, Band 5

»Blutköder«, Band 6

»Wolfsspuren«, Band 7

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Sammelband-Originalausgabe Februar 2022

Copyright © der Sammelband-Originalausgabe 2021 dotbooks GmbH, München

Eine Übersicht über die Copyrights der einzelnen Romane finden Sie am Ende dieses eBooks.

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Wildes Blut – Atelier für Gestaltung Stephanie Weischer unter Verwendung mehrerer Bildmotive von © shutterstock / Joel.bourgoin / Amanda.Reynolds / Magnus Binnerstam / Anasta_Rass / VICUSCHKA

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (rb)

ISBN 978-3-96655-760-3

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Nevada Barr

Spur der Toten

Drei Thriller in einem eBook

dotbooks.

Die Spur der Katze

Aus dem Amerikanischen von Adelheid Zöfel und Christine Strüh

Guadalupe Mountains, Texas. In den abgeschiedenen Gebirgszügen des Nationalparks kann die Parkhüterin Anna Pigeon endlich Abstand von ihrer schmerzlichen Vergangenheit gewinnen – bis sie auf einer ihrer Patrouillen ein Albtraum erwartet: die Leiche ihrer Kollegin, offensichtlich von Tieren zerfetzt. Aber hat hier tatsächlich die Wildnis ihr erbarmungsloses Gesicht gezeigt? Als der Todesfall ohne weitere Ermittlungen auf den Angriff eines Pumas zurückgeführt wird, kommen Anna Zweifel. Es gibt zu viele Ungereimtheiten – und zu viele Rancher, die darauf brennen, Jagd auf die »Bestien« zu machen. Anna beginnt zu ermitteln – und stößt auf eine Verschwörung, die grausamer ist, als jedes Tier es sein könnte …

Kapitel 1

Einen Gott gab es schon seit Jahren nicht mehr. Weder den Nachthemdpatriarchen aus dem Kindergottesdienst noch den sensiblen jungen Mann mit den unvermeidlichen goldbraunen Ringellocken aus dem Kirchenfenster, durch den Anna während der Messe hindurchgeschaut hatte, noch die vielarmigen und facettenreichen Gottheiten der Bhagawadgita, die sie während ihrer Collegezeit neben Haschisch und Dustin Hoffman angebetet hatte. Vorbei war auch der kurze, aber angenehme Auftritt der Erdgöttinnen, die sie mit Anfang dreißig an ihre üppigen Brüste gedrückt hatten. An diese Göttinnen dachte Anna allerdings lieber als an den ganzen Rest.

Gott war tot. Friede seiner Asche. Endlich gehörte die Erde ihr, ohne Himmelsmakel.

Anna setzte sich auf einen glatten Felsen, der oben eine Mulde hatte wie ein natürlicher Sessel. Die rötlich faserigen Zweige einer texanischen Madrona breiteten ein staubiges Schattendach über ihre Augen. Es war der dritte Tag ihrer Tour. Am Abend würde sie wieder die Zivilisation erreichen: Menschen. Eigentlich ein Widerspruch, dachte sie. Elektrisches Licht, Fernsehen und menschliche Gesellschaft lockten sie nicht. Aber sie brauchte eine Badewanne und einen Drink. Vor allem einen Drink.

Und vielleicht noch Rogelio. Rogelio hatte ein Lächeln, bei dem Ehefrauen schnell die Hand mit dem Ehering verbargen. Ein Lächeln, für das Frauen lügen und dem Männer in die Schlacht folgen würden. Ein Lächeln, so dachte Anna, zynisch wie immer, das die geschäftstüchtigen Händler in Juárez für die reichen Gringos aus Minnesota aufblitzen ließen.

Vielleicht Rogelio. Vielleicht aber auch nicht. Rogelio kostete viel Energie.

Eine stachelige Bergeidechse starrte Anna aus schwarzen Augen an. Mit ihren grauschwarzgefleckten Stacheln hätte man sie jederzeit für ein Häufchen vertrockneter Blätter und Zweige halten können, die in eine Felsspalte gefallen sind.

»Ich seh dich«, sagte Anna, während sie versuchte, ihren Rucksack abzusetzen. Er wog nicht mal mehr dreißig Pfund. In den vergangenen beiden Tagen hatte sie ihn von siebenunddreißig Pfund auf dieses Gewicht heruntergegessen und –getrunken. Das Poetische daran gefiel ihr. Es war sozusagen ein Naturgesetz: Je mehr man aß, desto leichter wurde das Leben. Diäten gehörten für Anna zu den ärgerlichsten Phänomenen der Überflußgesellschaft.

Vorsichtig ließ sie den Rucksack auf den Stein gleiten. Aber nicht vorsichtig genug. Ein kurzes Rascheln, und die Eidechse war verschwunden. »Meinetwegen brauchst du nicht umzuziehen«, sagte Anna in die scheinbar leere Felsspalte. »Ich bin nur auf der Durchreise.«

Sie fischte eine Plastikflasche mit Wasser aus der Seitentasche ihres Rucksacks und schraubte den Verschluß auf. Gelber Glibber schwamm auf der Oberfläche. Das nächste Mal würde sie keine Zitronenscheiben mehr beigeben; das Experiment war mißlungen. Der bittere Geschmack wurde nach ein paar Tagen ziemlich ätzend. Außerdem hatte sie immer das peinliche Gefühl, sie würde aus Fingerschälchen trinken.

Bei dem Gedanken mußte sie grinsen. Fingerschälchen, Manhattan – das war nun Lichtjahre von ihr entfernt, und Molly und das Telefon waren die einzige Verbindung.

Das Wasser hatte Körpertemperatur, wie sie es mochte. Bei Eiswasser taten ihr die Plomben so weh, daß sie innerlich fröstelte. »Wenn was Kaltes, dann lieber Bier«, sagte sie immer zur Kellnerin in Lucys Restaurant in Carlsbad. Manchmal kriegte sie warmes Wasser, manchmal ein kaltes Tecate. Es kam darauf an, wer an dem Tag bediente. Anna trank beides. In der Wüste von West-Texas trockneten die mit ihrer weichen Haut so schutzlosen Menschen sofort aus.

Keine Stacheln, sinnierte Anna. Keine grüne Wachshaut. Nichts, was uns davor bewahrt, zu verdorren und weggepustet zu werden. Sie nahm noch einen Schluck Wasser und grinste bei der Vorstellung, wie sie Hals über Kopf wie ein riesiges grüngraues Tumbleweed-Büschel über die Prärie südwärts wirbelte.

Sie schraubte die Wasserflasche wieder zu und betrachtete den eigentlichen Grund ihres Aufenthalts: das säuberliche Häufchen Kot vor ihren Füßen. Es war ihr bisher bester Fund, obwohl sie schon seit der Morgendämmerung zwischen Felsen und Kakteen herumgeklettert war. Jedes Frühjahr und jeden Herbst machten die Rangers quer durch das unerschlossene Hochland der Guadalupe Mountains von den Naturparkbiologen ausgearbeitete Touren, auf denen nach Pumaspuren gesucht wurde. Was man fand, wurde vermessen, fotografiert und genau registriert, damit das Ressourcen-Management die Pumas im Park nicht aus den Augen verlor: Wo steckten sie? War der Bestand gesund?

Anna ging in die Hocke, um ihren Fund genauer zu inspizieren. Der Kot war zwar alles andere als frisch, aber haarig und an den Enden vielversprechend gedreht. Das Tier, das diese Exkremente ausgeschieden hatte, ernährte sich auf jeden Fall von kleinen behaarten Lebewesen. Anna holte einen Tastzirkel aus der Box, in der sie ihre Ausrüstung transportierte: Fotoapparat, Karteikarten mit Rubriken für Uhrzeit, Datum, Fundstelle und Witterungsbedingungen und außerdem ein Formular, auf dem sie die Größe des Funds und die Art des verwendeten Films notieren konnte.

Der mittlere Teil der Losung hatte einen Durchmesser von fünfundzwanzig Millimetern, war also fast groß genug für eine erwachsene Raubkatze. Trotzdem – von einem Puma stammte sie nicht. Das war Annas zweite Pumatour in zwei Wochen, ohne daß sie auch nur auf ein einziges richtiges Zeichen gestoßen wäre: keine Pfotenabdrücke, keine Kratzspuren, kein Kot. Zwanzig wunderschöne Raubkatzen waren mit einem Funkhalsband ausgestattet worden, aber nach weniger als drei Jahren hatten alle außer zweien den Nationalpark verlassen oder ihre Halsbänder abgestreift – jedenfalls waren sie irgendwie aus dem Funkbereich des Parks verschwunden.

Es gab Rancher in der Gegend rund um die Guadalupe Mountains, die behaupteten, der Nationalpark sei eine Brutstätte für die »Bestien« – die Raubkatzen würden ihre Rinder anfallen. In den zwei Jahren, die Anna jetzt als Parkhüterin mit polizeilichen Befugnissen in Guadalupe arbeitete, hatte sie jedoch noch keinen einzigen Puma zu Gesicht bekommen, nicht einmal von weitem. Dabei verbrachte sie mehr als die Hälfte ihrer Zeit damit, durch das Hochland zu streifen, unter den Goldkiefern zu sitzen, die weißen Kalksteinpfade entlangzuwandern oder unter dem weiten texanischen Himmel zu liegen. Noch nie hatte sie eine Raubkatze gesehen, und wenn man mit Wünschen und Hoffen etwas bewirken könnte, dann hätten schon ganze Rudel auf leisen Pfoten ihren Pfad kreuzen müssen.

Was da vor ihr lag, war vermutlich Kojotenkot.

Weil sie es haßte, mit leeren Händen nach Hause zu kommen, fotografierte sie das kleine Häufchen sorgfältig, vermaß es und notierte die Daten. Sie wünschte sich, alle Tiere wären so anpassungsfähig wie der Kojote. »Trickster« nannten ihn die Indianer. Er mußte ja wohl auch einer sein, um so nahe bei den Menschen überleben zu können.

Neben dem Kojotenprodukt lag das unverwechselbare, rötliche, mit Beeren durchsetzte Häufchen des Katzenfretts. »Meine Schlucht«, verkündete es. »Mein Canyon. Ich war als zweiter hier.«

Anna lachte. »Dein Canyon«, bestätigte sie laut. »Ich gehe sowieso gleich nach Hause.«

Um ihre verkrampften Muskeln zu lockern, legte sie den Kopf in den Nacken. Über ihr, ein Stückchen weiter östlich, zogen Geier ihre Kreise, stiegen in engen Spiralen aus dem Bachbett zwischen den steilen Felswänden des Middle McKittrick Canyon hoch, wo Anna unterwegs war.

Elf Riesenvögel, ein träger Tanz aus Schnäbeln und Schwingen. Das, worüber sie sich hermachen wollten, war durch die steil aufsteigenden Klippen des Permian Reef verdeckt. Ein kleines Stück Aas, nicht größer als ein Gänseei, genügte schon, um einen Geier anzulocken. Aber elf? Elf, das waren zu viele.

»Verdammt«, flüsterte Anna. Vermutlich hatte sich ein Reh ein Bein gebrochen, und die Kojoten hatten es erwischt. Vermutlich.

Ein zwölftes Federvieh schloß sich dem hungrigen, erwartungsvollen Ballett an. »Verdammt.«

Anna setzte ihren Rucksack wieder auf und zog ihn zurecht. »Du kannst deinen Felsen wiederhaben«, sagte sie zu der scheinbar leeren Spalte. Dann begann sie den Abstieg in den Canyon.

Während ihrer Rast hatte der grellweiße Felsboden des Middle McKittrick Canyon eine sanfte blaßgoldene Färbung angenommen. Die Schatten wurden länger. Eidechsen krochen auf die Felsen hoch, um die letzten Sonnenstrahlen des Tages zu erwischen. Eine Tarantel, die gefährlichste aller kleinen Kreaturen, kaum so groß wie eine Frauenhand, kreuzte langsam Annas Pfad.

»Als Parkranger schütze und behüte ich dich.« Sie redete aus einer Sicherheitsentfernung von drei Metern mit dem Tier. »Aber Freunde werden wir nicht. Ich hoffe, das stört dich nicht.«

Die Tarantel blieb stehen, die Vorderbeine in der Luft. Dann machte sie eine Wendung und ging bedächtig auf Anna zu, wobei sich jedes ihrer acht Beine unabhängig von den sieben übrigen zu bewegen schien.

»Offensichtlich doch.« Anna war froh, daß keine Parkbesucher in der Nähe waren und diese absurde Szene beobachteten. Sie trat einen Schritt zur Seite und ließ der Spinne mehr Raum, als die Wissenschaft und der gesunde Menschenverstand es für nötig erachtet hätten.

Knapp einen Kilometer weiter abwärts wurde der Canyon enger. Zwischen den Felswänden lagen riesige Steinbrocken, so groß wie ein VW-Käfer. Anna kletterte mühsam von einem zum nächsten. Im Middle McKittrick konnte man sich wunderbar den Knöchel oder das Genick brechen. Willkommen beim Festschmaus der Truthahngeier.

Die Sonne sank tiefer, Schatten krochen in den Canyon, und die Luft kühlte rasch ab. Eine frische Brise kam auf, die einen neuen Geruch mit sich führte. Aber es war nicht der ekelerregend süßliche Gestank von verfaulendem Fleisch, nein, es roch nach frischem Wasser – in der Wüste unverkennbar und immer verblüffend. An Wunder gewöhnte man sich nie. Mit neuer Energie ging Anna weiter.

Die Felswände wurden steiler, sie ragten am Bachrand gut zwanzig Meter empor. Über den hellen Klippen erhoben sich dunkle Hügel mit Catclaw und Agaven. Im Bachbett lagen keine Felsbrocken mehr wie im oberen Teil des McKittrick. Hier, im Herzen des Canyon, wanderte Anna über glatten Kalkstein. Im Lauf der Jahrhunderte hatte das Wasser eine tiefe Rinne gegraben, die dann vom ausgewaschenen Travertin mit einer natürlichen Zementschicht überzogen worden war.

Im Juli und August sollte man sich hier nicht von den texanischen Monsunwinden erwischen lassen. Jedesmal, wenn Anna ihre Raubkatzentour machte, ging ihr dieser Gedanke durch den Kopf. Und jedesmal empfand sie denselben verrückten Drang, vielleicht doch eines Tages diese Naturgewalt mitzuerleben, die im Vorbeistürmen halbe Berge wegfegen konnte.

Der Geruch des Wassers wurde stärker, und Anna konnte das leise Rauschen hören, vermischt mit dein Ächzen und Stöhnen des Windes. Im Bachbett tauchten Strudellöcher auf – Anzeichen dafür, daß es hier vor kurzem eine Überschwemmung gegeben hatte. Vor kurzem – nach geologischen Maßstäben. Zu lange her, um hier noch Feuchtigkeit zu erwarten. Manche der Löcher hatten einen H )Durchmesser von zehn Metern und waren über sechs Meter tief. In dem Loch, um das Anna eben herumging, lag ein H Haufen aus Laub und Knochen. Ein Tier – vermutlich ein Kitz, nach den intakten Beinknochen zu schließen – war gestürzt und hatte nicht mehr herausklettern können.

Diesen Teil des Canyon durchquerte Anna nicht gern, obwohl seine karge Schönheit sie immer wieder lockte. Die steil abfallenden, glatten Felswände machten ihr Beklemmungen. Weiter unten kam man zu weißen, kristallklaren Wasserbecken, in denen gelbe Sonnenfische blitzschnell hin und her schossen: Leben. Hier jedoch hatte der Creek den Canyon verlassen, war in den Untergrund gegangen und hatte nur diese seltsam geformten Todesfallen hinterlassen. Anna machte sich keine falschen Hoffnungen, daß sie mit ihrem Funksignal über die Klippen und Höhen hinweg um Hilfe rufen konnte, falls sie einmal den Halt verlor.

Sie krabbelte ein Stück auf allen vieren.

Obwohl der Duft und das leise Rauschen es angekündigt hatten, war sie doch überrascht, als sie das Wasser sah. In dem schroffen, knochenbleichen Canyon lag ganz unerwartet ein goldgrüner Teich vor ihr, gefüllt mit glasklarem Wasser. Das Platschen der fliehenden Kröten begrüßte sie, und einen Moment lang blieb Anna stehen, um die Szenerie zu bewundern.

Auf einmal schmerzte ihre Schulter. Sie lockerte die Träger ihres Rucksacks und ließ ihn auf den Kalkstein plumpsen. Auf das plötzliche Geräusch antwortete ein hastiges Rascheln und Rauschen, das ihr das Herz bis zum Hals schlagen ließ. Mit empörtem Kreischen erhob sich eine schwarzgefiederte Geierwolke aus dem Riedgras am südlichen Ufer des Teichs.

Die Geier flogen nicht weit, sondern ließen sich als rußfarbene Bündel auf dem Felsgesims nieder und äugten gierig nach dem Festschmaus, von dem man sie vertrieben hatte.

Anna schaute zu der Stelle, zu der die gekränkten Geierblicke wanderten.

Das Riedgras, dreikantig und spitz, wuchs am Felsenriff jenseits des Teichs fast schulterhoch. Von weitem wirkten die dunkelgrünen, zum Rand hin etwas helleren Halme weich und biegsam, aber Anna wußte aus Erfahrung, daß alles, was in dieser kargen Landschaft eßbar war, sich zu schützen wußte. Jeder Halm hatte fein gezackte Ränder, so scharf wie die Schneide einer hauchdünnen Metallsäge.

Der sandfarbene Stein darüber war feuchtdunkel, weil hier Wasser über die Klippe rann. Farnkräuter, eine Seltenheit in der Wüste, hingen in grünen Schleiern von den Felsen, und Veilchen, die so groß waren wie Annas Daumennagel, sprenkelten den Stein mit violetten Tupfern.

Dort drüben im Gras befand sich also der Leichenschmaus, auf den sie zufällig gestoßen war, geschützt von den messerscharfen Klingen des Grases. Obwohl Anna wenig Lust hatte, sich durch die abweisende Vegetation zu kämpfen, begann sie schon mal die Ärmel herunterzurollen, um die Haut an den Armen zu schützen. Aber da waren gar keine Ärmel, nur Haut. Ihr fiel ein, daß der National Park Service beschlossen hatte, jetzt sei Sommer, und seit dem ersten Mai wurden keine Uniformen mit langen Ärmeln mehr getragen, obwohl West-Texas nach Sonnenuntergang immer noch dem kühlen Zugriff des Frühlings ausgesetzt war.

Anna balancierte den Fels hinunter. Dank des Wassers war er hier nicht mehr so abschüssig. Am Teichufer bahnte sie sich einen Weg durch das Riedgras, wobei sie die Hände hoch über den Kopf hob wie ein Teenager in der Achterbahn.

Die scharfkantigen Gräser schnappten nach ihren Hosenbeinen und preßten ihr Hemd dicht an den Körper. Manchmal ragten sie ihr über den Kopf. Unter ihren Füßen bildeten die Halme eine Art Flechtmatte, aber ihre Stiefel versanken bis zu den Schnürsenkeln im Schlamm. Wasser drang ein, und ihre Socken waren im Nu klatschnaß.

Ihre Zuschauer stießen drohend ein kehliges Krächzen aus. »Ich freß euch schon nicht euer Aas weg«, beruhigte Anna die Geier. »Ich will nur sehen, ob ein Puma zugange war.« Noch während sie redete, überlegte sie, was psychologisch gesehen wohl ein schlechteres Zeichen war: sich mit Geiern zu unterhalten oder Selbstgespräche zu führen.

Sie durfte nicht vergessen, Molly danach zu fragen.

Beim nächsten Schritt schlug ihr plötzlich ein unglaublicher Gestank entgegen, den das Gras bisher abgehalten hatte. Eine Dunstwolke, die man fast mit Händen greifen konnte. Der Tod schien die ganze Luft zu verpesten.

Anna verschlug es fast den Atem.

Zwischen den dichten Halmen war das Grüngrau einer Rangeruniform zu erkennen. Da lag Sheila Drury, Ranger im Dog Canyon, halb zusammengerollt mit angezogenen Knien. Der grünschwarz schillernde Rucksack, schwer vom Wasser und von seinem übrigen Inhalt, hatte die Leiche nach hinten gezogen und so gedreht, daß der Bauch nach oben zeigte. Ein gefundenes Fressen für die Geier: Sie mußten nicht einmal nach den delikatesten Teilen wühlen.

Anna kannte Ranger Drury nur vom Sehen – Sheila hatte erst seit sieben Monaten im Park gearbeitet. Jetzt lag sie da auf dem Rücken; die von gierigen Krallen herausgerissenen Eingeweide verklebten ihr Gesicht, hingen in ihrem braunen Haar. Gott sei Dank verdeckten ihre dichten Locken die gebrochenen Augen, die untere Gesichtshälfte und den Hals.

Ein Geier, der wagemutiger war als die anderen, flog mit weit gebreiteten Schwingen vom Felsvorsprung herunter und rauschte durch die modrige Luft. Unpassenderweise fiel Anna ein Cartoon von Gary Larson ein. Geier, um ein Aas versammelt: »Uiuiuiuiui! Das Ding liegt ja schon laaaaang hier rum. Na ja – zum Glück gibt’s Ketchup.«

Plötzlich würgte Anna ein entsetzlicher Brechreiz. Sie wandte sich ab und stolperte in Richtung Teich. Wo das Riedgras einschnitt, erschienen auf Gesicht und Armen rasierklingenfeine Linien. Sie ignorierte den Schmerz und kämpfte sich frei.

Ihr Magen war längst leer, als das Würgen endlich nachließ. Sie krabbelte zum Wasserrand, wischte sich mit dem angefeuchteten Taschentuch den Mund und holte dann ihr Funkgerät aus seinem Lederbehälter am Hüftriemen des Rucksacks. Große Hoffnungen machte sie sich nicht.

»Drei-elf, drei-eins-fünf.«

Dreimal versuchte sie es. Die magische Zahl, dachte sie, wobei ihr lauter Trivialitäten einfielen: die Heilige Dreifaltigkeit, drei Wünsche, aller guten Dinge sind drei.

»Keine Verbindung. Drei-fünfzehn Ende.«

Die Geier hatten ihre unterbrochene Mahlzeit wieder aufgenommen. Schwarzer Flügelschlag lenkte Annas Aufmerksamkeit erneut auf das Riedgras. Ein dunkler Schatten stieg zum Himmel empor, etwas Glitschiges, Schlangenartiges in den Klauen. Ein zweiter Schatten folgte und versuchte, ihm die Beute zu entreißen.

Gar nicht übel, dachte Anna unwillkürlich, im Tod so geschätzt zu werden. Viele der Naturschützer hier im Park würden sich geehrt fühlen, ein so dankbares Publikum zu finden. »Entschuldige, Sheila«, sagte Anna laut. Sie wußte, daß nicht allzu viele Leute diese Einstellung teilen würden. »Ich mache, so schnell ich kann.«

Sie schnallte das Funkgerät wieder um und begann nach oben zu klettern, wobei sie nur darauf achtete, wohin sie mit den Händen griff. Spitze Agave-Dolche, die wie scharfe Messer aus dem felsigen Boden ragten, Catclaw, ein Gewirr von Zweigen mit kleinen gekrümmten Dornen, und der gezackte Sotol, das schwarze Schaf in der Familie der Lilien. Alles attackierte ihre Haut und ihre Kleidung. Diese wehrhaften Drachen waren der Grund, warum der kleine Garten Eden hier noch nicht von Menschen mit biergefüllten Kühltaschen und von eingeölten Sonnenanbetern belagert wurde.

Vierzig oder fünfzig Meter über der Talsohle des Canyon entdeckte Anna zwischen einem Felsblock und einer verkrüppelten Yucca, die sich unbeirrt an die dünne Erdschicht klammerte, eine sichere Nische. »Drei-elf, drei-eins-fünf«, wiederholte sie. Diesmal war das ermutigende statische Knistern zu hören, das entstand, wenn die Funksignale die Relaisstation auf dem Bush Mountain erreichten.

»Drei-elf«, antwortete Paul Deckers vertraute Stimme.

Zu ihrer eigenen Überraschung begann Anna zu schluchzen. Der tröstliche Klang von Pauls Stimme war eine solche Erleichterung, daß sie erst einmal völlig aus der Fassung geriet. Paul, der Frijole District Ranger, antwortete immer. Ob im Dienst oder nicht. Er nahm sein Funkgerät sogar mit aufs Klo.

»Paul – Anna«, sagte sie überflüssigerweise, um Zeit zu gewinnen. »Ich bin etwa eine Stunde nördlich von der Gabelung Middle McKittrick und North McKittrick. Wir hatten hier einen … Zwischenfall. Ich brauche eine Trage und ein paar starke Leute.« Sie wußte, daß sie nicht auf einen Hubschrauber hoffen konnte. Der nächste war in El Paso, zwei Stunden entfernt. Von einem Hubschrauber konnte man einen Leichensack herunterlassen, aber das Seil hätte in diesem Fall sehr lang sein müssen, was in einer so tückischen Landschaft viel zu gefährlich war. Man brachte grundsätzlich nie die Lebenden um der Toten willen in Gefahr.

»Das Opfer ist …« Ist was? Anna suchte blitzschnell nach dem funkgerechten Ausdruck für »tot«. »Entsorgen« war das Wort, welches die Rangers benutzten, wenn ein Lebewesen getötet werden mußte – egal, ob Mensch oder Tier. Aber was sagte man für eine tote Parkhüterin, die von Geiern verspeist wurde? »Dem Opfer ist nicht mehr zu helfen«, sagte sie. Das war die Sprachregelung im Rettungswagen.

Ein beunruhigendes Schweigen folgte. »Paul, hast du verstanden?« fragte Anna nervös.

»Ja«, kam die mechanische Antwort. Dann: »Anna, es ist zu spät, um heute abend noch jemanden zu schicken. Kannst du bis zum Morgen durchhalten?«

Anna bejahte und meldete sich ab. »Drei-eins-fünf Ende.« Während sie das Funkgerät wieder in das Lederhalfter steckte, wünschte sie sich sehnlichst, sie hätte noch mehr zu sagen gehabt, hätte den Kontakt noch länger aufrechterhalten können.

Beim ersten Tageslicht würde Paul aufbrechen. Sie konnte sich genau vorstellen, wie er den Rettungskoffer aus dem Flurschrank holte. Vermutlich schlief er genausowenig wie sie. So war Paul. An einem Abend, als der Alkohol und die Erinnerungen Anna lange wach hielten, hatte sie beobachtet, wie er morgens um drei aus dem Haus geschlichen war, um die Fahrzeuge zu zählen. Er wollte sich vergewissern, daß alle seine kleinen Saisonarbeiter wieder gut aus dem Hochland heimgekommen waren und wohlbehütet in ihren Betten lagen.

Anna atmete tief durch und lehnte sich gegen den ausgehöhlten Stein. Von dieser Höhe konnte man die Sonne im Westen noch sehen. Rund und rot glitt sie langsam auf den Guadalupe Peak zu, den höchsten Berg in Texas. Anna mochte die Texaner einigermaßen, konnte sie aber nicht ganz ernst nehmen. Sie sind solche Angeber, dachte sie. Aber was den Himmel anging, da hatten sie echt was drauf. Der Himmel von Texas war wunderbar. Purpurgoldene Sonnenuntergänge, blitzende Sterne, Wolken, höher als die berühmten Stetsonhüte.

Gewitterwolken brauten sich im Norden und Westen zusammen. In der vergangenen Nacht hatte es über dem Dog Canyon geblitzt. Anna hatte das von ihrem Lagerplatz auf dem Kamm zwischen Dog Canyon und Middle McKittrick beobachtet. Es war das erste Gewitter der Saison gewesen – nur Blitze, kein Niederschlag. Das würde bis Juli so weitergehen, dann kam der Regen. Die Brandgefahr war groß. Schon jetzt tobten in New Mexico und Arizona an einem halben Dutzend Stellen große Flächenbrände. Jeder im Park hielt die Augen offen und achtete auf Rauch.

Rotgoldene Lichtfinger drangen durch die trockenen Gewitterwolken und verwandelten die Wüste in eine grünfunkelnde Illusion – das echte Grün kam erst mit den Monsunstürmen.

»Sieben-zwei-vier Echo ist zehn-sieben.« Die kleine Stimme des Carlsbad-Cavern-Dispatcher holte Anna aus ihren Himmelsbetrachtungen. In Carlsbad machte man immer erst spät Schluß, um dann die Höhle den Fledermäusen zu überlassen.

Zum Glück war es noch hell genug, daß Anna mühelos den Weg hinunter zum Bachbett finden konnte. Sie hatte nichts zum Abendessen, aber irgend etwas hatte ihr ohnehin den Appetit verdorben.

Der Abstieg war schlimmer als der Aufstieg. Die Schwerkraft wollte unbedingt nachhelfen und zerrte bei jeder falschen Bewegung an ihr. Aber schließlich stand Anna mit beiden Füßen auf dem glatten Kalkstein, Wasser direkt vor der Nase, eine Leiche im Riedgras. Sie versuchte sich die Tote ins Gedächtnis zu rufen: Sheila Drury, 29? 30? 35?, weiblich, weiß, Parkranger, jüngst verstorben.

Sheila hatte im vergangenen Dezember ihre Stelle hier angetreten. In den sieben Monaten ihrer Dienstzeit hatte sie für relativ viel Unruhe gesorgt. Es hatte einigen Wirbel gegeben, als sie vorgeschlagen hatte, im Dog Canyon einen RV-Campingplatz einzurichten, das heißt, Stellplätze für Campingwagen und Wohnmobile zu schaffen. Und sie hatte sich heftig und lautstark gegen den Plan gewehrt, im Parkgebiet wieder die auch als Erdhörnchen bekannten Präriehunde einzuführen.

Parkpolitik und Tratsch – das war alles, was Anna über Sheila Drury wußte. Der Dog-Canyon-Distrikt war zwei Autostunden vom Frijole-Distrikt entfernt. Anna hatte nie Gelegenheit gehabt, mit Sheila zusammenzuarbeiten.

Und jetzt ist es zu spät, sie kennenzulernen, dachte Anna lakonisch. Allein der Himmel und die Geier wußten, was bei Sonnenaufgang noch von Sheila übrig sein würde. Anna wünschte sich nicht zum ersten Mal, sie hätte in Biologie besser aufgepaßt. Fraßen Geier auch nachts? Würde das Gegrummel und Gezerre sie noch in der Dunkelheit belästigen?

Sie holte ihre Kopflampe aus dem Rucksack und zurrte sie über den Brauen fest. Spuren. Das hatte sie in Polizeirecht an der Fachschule in Georgia gelernt: Suchen Sie nach Spuren. Blutige Fingerabdrücke, an ungewöhnlichen Orten geparkte Autos, weißes Pulver im Kofferraum. In den stärker besuchten Nationalparks wie Glen Canyon und Yosemite oder in Parks, die sich in der Nähe einer größeren Stadt befanden, wie Joshua Tree und Smoky Mountains, gab es häufiger Verbrechen. Aber als Anna aus Manhattan und vor ihren Erinnerungen geflohen war, hatte sie bewußt einen entlegenen Ort ausgesucht. Und bisher hatte sie bei der Erfüllung ihrer Dienstpflicht nur mit Hunden ohne Leine zu tun gehabt. Oder mit Pfadfindern, die außerhalb der markierten Bereiche campten. Trotzdem war sie eine von der Bundesregierung eingesetzte Parkhüterin mit polizeilichen Befugnissen. Sie mußte nach Spuren suchen. Egal, wie ekelhaft sie waren.

Kapitel 2

Anna fischte zwei der aufgeweichten Zitronenscheiben aus der Wasserflasche, zerdrückte sie und rieb das Fruchtfleisch in das nasse Taschentuch, das sie sich über Mund und Nase band. Hoffentlich reduzierte das den Leichengestank auf ein erträgliches Maß.

Dann nahm sie den Fotoapparat, den sie für ihre Tour gebraucht hatte, hängte ihn um den Hals, knipste die Kopflampe an, obwohl es noch nicht so dunkel war, und watete in das Riedgras.

Die Kamera war hilfreich. Sie gab ihr Distanz. Durch das Objektiv konnte Anna alles genauer betrachten. Sheila Drury wurde in kleine fotografische Einheiten zerlegt. Beim Knipsen machte sich Anna im Kopf Notizen: keine Kratzer, keine blauen Flecken, keine ausgerenkten Gelenke. Drury war also höchstwahrscheinlich nicht abgestürzt.

Manchmal gab es allerdings merkwürdige Zufälle. Anna blickte die Klippe hoch und stellte sich Drurys Sturz vor. Beim Aufprall wäre sie sofort tot gewesen: keine Prellungen. Sehr unwahrscheinlich, selbst wenn am Abgrund kein drei Meter hohes Catclaw gewachsen wäre. Warum hätte sich Sheila mit ihrem vollen Rucksack da durchkämpfen sollen?

Anna wandte sich wieder der Leiche zu.

Die Haut an Gesicht und Armen war glatt, die Zunge nicht geschwollen. An Hunger oder Durst war Sheila nicht gestorben, und erfroren war sie auch nicht. Das hatte Anna ohnehin nicht in Erwägung gezogen. Der Guadalupe Mountains National Park war zwar schroff und erbarmungslos, aber kaum zwanzig Kilometer lang. Ein Ranger, der die Gegend kannte, würde sich nie so verlaufen, daß er verhungerte oder verdurstete. Außerdem hatte Drury sicher Wasser und Proviant im Rucksack gehabt – was man eben zum Überleben brauchte. Ein Zelt und ein Schlafsack waren außen festgeschnallt.

Keine sichtbaren Pulverimprägnationen, keine Kugeleinschüsse, keine Stichwunden. Allem Anschein nach war Sheila nicht von irgendwelchen Drogenkurieren überfallen worden, die sich in der Wildnis verkrochen hatten.

Trotz der schrecklichen Situation mußte Anna grinsen. Ihre Schwiegermutter Edith, die die Bronx überlebt hatte (»Aber Schätzchen, in den vierziger Jahren war es da sehr ordentlich!«), die große Depression, den Zug Nummer zwei aus der Wall Street und den Zweiten Weltkrieg, war immer fassungslos, wenn sie hörte, daß Anna als Frau allein in der Wildnis campte (»Aber Anna, da ist doch niemand. Und überall könnte jemand sein …«).

Anna sah das anders. Ihrer Meinung nach bedeutete Alleinsein Sicherheit. Kriminelle waren faul. Sonst hätten sie einen Universitätsabschluß in Betriebswirtschaft gemacht und dann ohne jedes Strafrisiko andere ausgeraubt. Jedenfalls würden sie bestimmt keine acht Meilen durch unwegsames Gebiet wandern, um sich irgendwo zu verstecken. Sie würden sich in einem Motel an der Bundesstraße einquartieren, sich das Nachmittagsprogramm im Fernsehen reinziehen und das Beste hoffen.

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
2023
ISBN (eBook)
9783966557603
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2023 (Februar)
Schlagworte
Kriminalroman Psycho-Thriller Ökothriller Umwelt-Thriller Umweltkrimi Nationalparks Amerika Nele Neuhaus Rachel Caine Neuerscheinung eBooks
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Titel: Spur der Toten