Lade Inhalt...

Die Toten von Irland

Drei Thriller in einem eBook: »Mörderspiel«, »Eiskönigin« und »Seelengrund«

©2023 1236 Seiten

Zusammenfassung

Irische Hochspannung: Der düster-fesselnde Sammelband »Die Toten von Irland« von Julie Parsons jetzt als eBook bei dotbooks.

Drei Frauen, die den Schatten ihrer Vergangenheit hilflos ausgeliefert scheinen – bis die Jäger zu Gejagten machen … Es ist der Albtraum jeder Mutter: Als ihre Tochter vermisst gemeldet wird, hofft und bangt Margaret jeden Tag. Als dann das Unfassbare wahr wird und man die Leiche ihres Kindes findet, hält Margaret nur noch eines am Leben: Den Mörder zu finden. Doch der scheint sie bereits im Visier zu haben … Zwölf Jahre hat Rachel unschuldig hinter Gittern gesessen: Jetzt, am Tag ihrer Entlassung, hat sie nur noch einen Gedanken – den wahren Täter finden, auch wenn sie dafür all das Schlimme, was ihrer Familie widerfahren ist, nicht ruhen lassen darf … Auch Lydia hat einen schrecklichen Preis gezahlt, als sie ihrer Tochter den Rücken kehrte. Nun will Lydia sie wiederfinden – doch die Suche nach ihrer Tochter vertraut sie genau dem Falschen an …

Abgründige Irlandspannung für alle Fans der Serie »The Fall – Tod in Belfast«: »Julie Parsons hat ein ungewöhnliches Gespür für das Böse, ein sublimes Talent, Angst aufzubauen«, urteilt Die Welt.

Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der Thriller-Sammelband »Die Toten von Irland« von Julie Parsons vereint die drei Spannungs-Highlights »Mörderspiel«, »Eiskönigin« und »Sündenherz«. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Über dieses Buch:

Drei Frauen, die den Schatten ihrer Vergangenheit hilflos ausgeliefert scheinen – bis die Jäger zu Gejagten machen … Es ist der Albtraum jeder Mutter: Als ihre Tochter vermisst gemeldet wird, hofft und bangt Margaret jeden Tag. Als dann das Unfassbare wahr wird und man die Leiche ihres Kindes findet, hält Margaret nur noch eines am Leben: Den Mörder zu finden. Doch der scheint sie bereits im Visier zu haben … Zwölf Jahre hat Rachel unschuldig hinter Gittern gesessen: Jetzt, am Tag ihrer Entlassung, hat sie nur noch einen Gedanken – den wahren Täter finden, auch wenn sie dafür all das Schlimme, was ihrer Familie widerfahren ist, nicht ruhen lassen darf … Auch Lydia hat einen schrecklichen Preis gezahlt, als sie ihrer Tochter den Rücken kehrte. Nun will Lydia sie wiederfinden – doch die Suche nach ihrer Tochter vertraut sie genau dem Falschen an …

Über die Autorin:

Julie Parsons wurde 1951 als Tochter irischer Eltern in Neuseeland geboren. Sie war noch ein Kind, als ihr Vater unter ungeklärten Umständen auf hoher See verschwand – ein Trauma, das sie nie loslassen sollte: »Ich werde niemals herausfinden, was mit meinem Vater geschehen ist, und vielleicht erzähle ich auch deswegen Geschichten, in deren Mittelpunkt Geheimnisse stehen – um sie selbst aufklären zu können.« Julie Parsons studierte in Dublin und arbeitete später als Radio- und TV-Produzentin, bevor sie als Schriftstellerin erfolgreich wurde. Ihr Debüt »Mörderspiel«, auch bekannt unter dem Titel »Mary, Mary«, wurde in 17 Sprachen übersetzt und ein internationaler Bestseller. Julie Parsons lebt heute in der irischen Hafenstadt Dun Laoghaire.

Bei dotbooks veröffentlichte Julie Parsons auch ihre psychologischen Thriller »Todeskälte – Der zweite Roman um Marys Tod«, »Giftstachel« und »Sündenherz«.

***

Sammelband-Originalausgabe Juni 2023

Copyright © der Sammelband-Originalausgabe 2023 dotbooks GmbH, München

Unter dem Titel »Mary, Mary« erschien die englische Originalausgabe von »Mörderspiel« bei Macmillan, London, und die deutsche Erstausgabe 1998 bei Lichtenberg. Copyright © der Originalausgabe 1998 by Julie Parsons; Copyright © der deutschsprachigen Erstausgabe 1998 bei Lichtenberg Verlag GmbH, München; Copyright © der Neuausgabe 2018 dotbooks GmbH, München

Die englische Originalausgabe von »Eiskönigin« erschien unter dem Titel »Eager to Please« bei Macmillan, London, und die deutsche Erstausgabe erschien 2001 unter dem Titel »Rache kennt kein Gebot« im Droemer Verlag. Copyright © der Originalausgabe 2001 by Julie Parsons; Copyright © der deutschsprachigen Erstausgabe 2001 bei Droemersche Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf., München; Copyright der Neuausgabe © 2018 dotbooks GmbH, München

Die englische Originalausgabe von »Seelengrund« erschien 2005 unter dem Titel »The Hourglass« bei Macmillan, London, und die deutsche Erstausgabe erschien 2006 unter dem Titel »Zähl die dunklen Stunden nur« im Droemer Verlag. Copyright © der Originalausgabe 2005 by Julie Parsons; Copyright © der deutschsprachigen Erstausgabe 2006 bei Droemer Verlag. Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf. GmbH & Co.KG, München; Copyright © der Neuausgabe 2019 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Wildes Blut – Atelier für Gestaltung Stephanie Weischer unter Verwendung mehrerer Bildmotive von © shutterstock

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (rb)

ISBN 978-3-98690-621-4

***

Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: info@dotbooks.de. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags

***

Sind Sie auf der Suche nach attraktiven Preisschnäppchen, spannenden Neuerscheinungen und Gewinnspielen, bei denen Sie sich auf kostenlose eBooks freuen können? Dann melden Sie sich jetzt für unseren Newsletter an: www.dotbooks.de/newsletter (Unkomplizierte Kündigung-per-Klick jederzeit möglich.)

***

Wenn Ihnen dieser Roman gefallen hat, empfehlen wir Ihnen gerne weitere Bücher aus unserem Programm. Schicken Sie einfach eine eMail mit dem Stichwort »Die Toten von Irland« an: lesetipp@dotbooks.de (Wir nutzen Ihre an uns übermittelten Daten nur, um Ihre Anfrage beantworten zu können – danach werden sie ohne Auswertung, Weitergabe an Dritte oder zeitliche Verzögerung gelöscht.)

***

Besuchen Sie uns im Internet:

www.dotbooks.de

www.facebook.com/dotbooks

www.instagram.com/dotbooks

blog.dotbooks.de/

Julie Parsons

Die Toten von Irland

Drei Thriller in einem eBook

Aus dem Englischen von Doris Styron

dotbooks.

Mörderspiel

Marys Tod – Erster Roman

Aus dem Englischen von von Doris Styron

Er will mit ihr spielen. Er will sie besitzen. Er will sie töten … Zuerst sind es nur ein paar Stunden. Margaret weiß, dass sie sich keine Sorgen machen sollte: Ihre Tochter ist alt genug, sie darf später als verabredet nach Hause kommen. Doch dann vergeht ein Tag. Und noch einer. Und noch einer. Viel zu spät beginnt die Polizei zu ermitteln. Als Marys Leiche gefunden wird, scheint die Zeit still zu stehen. Der Schmerz und die Verzweiflung reißen Margaret in einen düsteren Abgrund. Und dann sind da auf einmal diese rätselhaften Anrufe und Botschaften. Margaret weiß, wer dahinter steckt: der Killer, der ihr das Kind genommen hat. Der Sadist, der sich an ihrem Elend weiden will. Das Tier, das sie jagen muss, um zu überleben …

Kapitel 1

Man könnte sagen, daß alles mit einem Anruf begann. Schließlich fangen die meisten Fälle so an. Und man stellt sich dann rückblickend die Frage, ob es irgend etwas gab, das einen vorgewarnt, das einen gepackt und einem gesagt hat: Paß auf, die Sache ist ernst.

Aber damals schien es sich nur wieder einmal um eine ängstliche Mutter zu handeln, die besorgt und unsicher war. Sie wußte nicht genau, ob sie überhaupt hätte anrufen sollen. War nicht sicher, ob sie das Richtige tat. Dann wurde aus ihrer Angst Ärger.

»Wenn sie gesagt hätte, daß sie nicht heimkommt, sich gemeldet hätte. Wenn sie mir Bescheid gegeben hätte.«

Das alles hatte er schon oft gehört und kritzelte etwas auf den Rand seiner Zeitung. Waffeltüten mit Softeis, das spitz und cremig nach oben zulief, und altmodische Biergläser mit dem kleinen Wulst, der sich in Dreiviertelhöhe an der Seite des Glases wölbte. Er trug die Zeit im Verzeichnis der Anrufe ein. 21.48 Uhr. Noch zwölf Minuten bis zum Ende seiner Schicht. Sonntag, der 6. August 1995. An einem langen Feiertagswochenende. Es war zu dieser späten Stunde noch warm. Zu warm. Er hatte feuchte Flecken unter den Armen, und in der Leiste juckte es. Bestimmt waren die Krankenhäuser schon voll von Fällen mit Sonnenstich, und in zwei Stunden, wenn die Pubs schlossen, würde es wer weiß wie viele Schlägereien geben. All diese Erregung, die Menschen aufgestachelt durch nackte braune Haut, Arm an Arm, Bein an Bein. Hoffnung flammte auf, Begehrlichkeit, die an die Oberfläche aufstieg wie die kleinen Bläschen im Bier. Und dann das Zucken des hellen weißen Neonlichts – an und aus. Es ist Zeit, werte Gäste, Gentlemen, Ladies, bitte. Zigarettenstummel über den fleckigen Boden verstreut. Lippenstift verschmiert. Der Sonnenbrand juckt, und die Haut beginnt sich schon zu schälen. Seine Hand auf ihrem Bein. Du Nutte, du. He, was soll das? Und dieser Moment purer Wut, der das Glas krachend auf dem Tisch landen läßt.

»Hören Sie mir zu? Machen Sie sich Notizen?«

Er seufzte, reckte den schmerzenden Rücken. Der Schmerz saß zwischen Nacken und Taille. Er vermutete, daß es vielleicht vor ein paar Monaten beim Golfspielen passiert war. Er war nicht mehr so fit wie früher. Zu viel Schreibtischarbeit. Nicht wie in der guten alten Zeit. Als er in Belmullet Dienst getan hatte und auf dem Achill Sound hinausgerudert war, wo die blaßblauen Iniskeen Islands als dunstige Schatten am Horizont lagen und die Makrelen ins Boot sprangen. Da unten waren die langen Wochenenden etwas anderes. Es ging immer um Selbstmorde. Jemand hatte einen Schuß gehört. Überall Gehirnmasse, auf die alte Kommode gespritzt, und der Hund lag winselnd in der Ecke.

»Haben Sie es bei all ihren Freunden versucht? Überall angerufen und gefragt, ob jemand sie gesehen hat?«

Das machte das Maß voll. Er mußte den Hörer vom Ohr weghalten.

»Hören Sie. Sie verstehen anscheinend nicht. Wir sind auf Besuch hier. Meine Tochter kennt hier kaum jemanden. Ich habe Ihnen das doch schon gesagt. Sie ist gestern abend in die Stadt gegangen, um sich mit ein paar jungen Leuten aus dem Ballettunterricht zu treffen. Sie ist schon mehr als vierundzwanzig Stunden weg. Ich hätte Sie nicht angerufen, wenn ich nicht Grund dazu hätte.«

Und die Stimme wurde höher und lauter. »Da stimmt etwas nicht.«

»Wie alt, sagten Sie, ist sie?«

»Zum dritten Mal: Sie ist zwanzig.«

Er mußte es ihr sagen. Gern würde sie es nicht hören. Eltern hörten das nie gern.

»Es ist nur so: In ihrem Alter kann sie, wenn sie will, ihr Elternhaus verlassen. Wir können da nicht viel machen. Sie ist nicht mehr minderjährig. Es tut mir leid, aber junge Leute verschwinden oft.«

Schweigen. Dann tiefes Atemholen. In angespannter Erwartung verzog er. das Gesicht. Er schaute im Raum umher. In der Ecke drüben saß der vertrottelte alte Pat Byrne, hatte die Mütze noch auf dem Kopf, las die Sunday World und kaute an den Nägeln. Systematisch arbeitete er sich knirschend von Finger zu Finger. Durch die offene Tür zur Teeküche sah er Nuala Kenny, die gerade Tee machte. Er winkte ihr zu und machte mit der freien Hand eine Trinkbewegung.

»Hören Sie. Ich verstehe, was Sie meinen. Aber ich mache mir Sorgen. Ich möchte, daß Sie ihre persönlichen Daten aufschreiben und alles unternehmen, um sie zu finden. Haben Sie mich verstanden?«

Scheiße. Noch mehr Papierkram. Er stemmte sich in seinem hohen Stuhl hoch und spürte einen Stich im Rücken, als er sich nach einem Vermißtenformular auf dem obersten Regal ausstreckte. Seine Hose war zu eng. Wenn er sich abends auszog, zeichnete sich über dem Nabel immer ein rotes X von der Gürtelschnalle ab. Wie war das nur passiert, daß er so zugenommen hatte? Wo war nur der dünne junge Kerl geblieben, der vor dreißig Jahren an der Templemore-Polizeischule seinen Abschluß gemacht hatte?

»Also, fangen wir mit dem Wichtigsten an: Name?«

Er setzte sich wieder hin und klemmte den Hörer zwischen Schulter und Ohr. Als er fertig war, trank er seinen lauwarmen Tee, der Zucker lag wie eine dicke Schicht aus feinem Flußsand auf dem Boden der Tasse. Er sah die Seite noch einmal durch und versuchte, sie sich vorzustellen, das Mädchen aus den sorgfältig getippten Worten erstehen zu lassen. Groß. Eins einundsiebzig. Schlank. Zweiundfünfzig Kilo. Dunkelhaarig. Schwarzes, lockiges Haar, blasse Haut, blaue Augen. Auf dem Formular gab es keine Zeile für hübsch, unscheinbar oder häßlich. Danach fragte man nicht. Aber in diesem Fall konnte er es erraten. Er wußte, wie er sich fühlen würde, wenn es sein Kind wäre. Die Jahresstatistik war erschreckend. Acht Frauen ermordet, fast zweihundert Anzeigen wegen Vergewaltigung, fünfhundertmal sexuelle Nötigung. Zu viele. Zu viele unaufgeklärte Fälle. Plötzlich war er froh, daß er am Schreibtisch Dienst tat, daß er nur mit schwarzen Zeichen auf weißem Papier zu tun hatte, nicht mit Fleisch und Blut.

Er heftete die Vermißtenanzeige ab und räumte seinen Schreibtisch auf. Er hatte sie beruhigt, ihr gesagt, sie solle sich keine Sorgen machen, solle erst einmal vierundzwanzig Stunden abwarten. Und wenn ihre Tochter dann noch nicht heimgekommen sei, solle sie ein Bild vorbeibringen, dann würden sie an die Öffentlichkeit gehen. Er trat in die warme Nacht hinaus und ging über den Parkplatz. Von dem Imbißstand her, der immer vor dem großen Pub an der Ecke aufgebaut war, roch es nach Pommes frites. Aber er hatte keinen Hunger. Er sah zum Mond hoch, noch zwei Tage bis Vollmond Immer noch so schön wie in seiner Kinderzeit, wenn der Mondschein ihm auf dem Heimweg in Nächten gefolgt war, die so schwarz waren, daß er die Dunkelheit im Gesicht zu spüren glaubte.

Sie war irgendwo da draußen unter dem graublauen Licht. Mary Mitchell, zwanzig Jahre alt, blaue Augen, schlank. Als sie zuletzt gesehen wurde, trug sie ein schwarzes T-Shirt, einen Minirock aus rotem Wildleder und eine schwarze Jeansjacke. Hat einen neuseeländischen Akzent.

Er ließ den Motor an und fuhr langsam vom Parkplatz auf die Hauptstraße. Vergiß es, sagte er sich. Du kannst eh nichts machen. Und er seufzte tief. Ein langer Seufzer des Bedauerns.

Kapitel 2

Man könnte sagen, daß alles mit einem Anruf anfing, aber mit welchem? Der, mit dem sie sich auf der Polizeiwache gemeldet, oder der andere, der sie vor vier Monaten aus dem Schlaf gerissen hatte, als die roten Zahlen auf dem Wecker 1.02 Uhr zeigten? Automatisch hatte sie die Hand ausgestreckt. Jahre im Bereitschaftsdienst ließen immer noch die Sehnen und Bänder ihres Arms sich in Bewegung setzen, wirkten auf die Nervenenden ihrer Finger. Sie nahm den Hörer ab, fühlte das harte Plastik kalt am Ohr und meldete sich mit ihrer Telefonnummer. Ihre Stimme war ruhig, nüchtern, jede Spur von Schläfrigkeit war verschwunden. Nach einer Pause kam ein Zischen wie das Rauschen der See im Inneren einer Muschel. Und die andere Stimme war mißmutig, aber unverwechselbar.

»Margaret. Komm zu mir. Ich brauche dich.«

Dieselbe Stimme rief sie jetzt wieder.

Sie legte den Hörer auf und betrachtete sich in dem staubigen, goldgerahmten Spiegel, der immer noch über dem kleinen Tisch im Flur hing. Sie löste ihr Haar aus der Holzspange, glättete es mit beiden Händen, befestigte es wieder ordentlich in der Spange. Von den feinen Fältchen zwischen den Augenbrauen wischte sie einen imaginären Fleck und versuchte, ihr Spiegelbild anzulächeln. Aber ihr Mund zitterte, und der Glanz in ihren Augen verriet, daß sie den Tränen nah war.

»Margaret.« Wieder die Stimme, diesmal lauter. Sie wandte sich vom Spiegel ab und trat in das große Zimmer rechts vom Flur. Eine Frau saß in einem Schaukelstuhl neben einem hohen Bett. Sie war sehr klein, ihr Körper versank in dem roten Morgenrock aus Seide, den ein Gürtel um die Taille zusammenhielt. Rund um ihr herzförmiges Gesicht standen die weißen Haare hoch in die Luft. Sie schaukelte unablässig, die Füße in Pantoffeln auf den Boden gestützt, während die Holzkufen des Stuhls laut durch das stille Haus knarrten.

Margaret ging zum Erkerfenster und sah auf die See hinaus. Hoch oben am östlichen Himmel leuchtete das glänzende Gesicht des Mondes auf die Erde herab. Weiter unten am Horizont schimmerte die Venus. Sie lehnte den Kopf gegen die Fensterscheibe. Hinter ihr war immer noch die Stimme zu hören. Eine Reihe von Klagen. Ich habe Kreuzweh. Warum wirken die Tabletten nicht? Wann kommt mein netter Doktor wieder? Ich mag die Schwester von der Sozialstation nicht. Ich werde nicht sterben. Warum muß sie mich besuchen? Kannst du nichts dagegen tun? Deshalb hab' ich dich doch gebeten heimzukommen. Um mir zu helfen. Ich habe gedacht, du würdest mir helfen.

Sie wandte sich von der dunklen Nacht ab, stützte sich gegen das Fenstersims und sah sich um. In ihrer Kindheit war dies hier das Wohnzimmer gewesen, hell und schön mit gelber Tapete und dazu passenden Vorhängen mit Blümchen. Jetzt war es der Zufluchtsort und das Lager ihrer Mutter. Wackelige Zeitungsstöße türmten sich. Pappschachteln standen überall auf dem Boden herum. Sie hatte ein paarmal versucht, sie wegzuräumen, aber ihre Mutter hatte geschimpft und gemurrt, also ließ sie jetzt alles so, wie sie es vorfand.

Das Bett, das ihre Eltern einst geteilt hatten, war in die Ecke gerückt. Dieselbe rosa Steppdecke von damals lag darauf, die jetzt verblaßt und knubbelig war, weil sich die Gänsefedern unter dem angegriffenen Satin zu Klumpen zusammengeknäuelt hatten. Sie erinnerte sich an den Geruch dieses Betts. Das Parfüm ihrer Mutter, Ma Griffe, nahm sie an, und das Haaröl ihres Vaters und ein anderer Geruch, den sie erst viele Jahre später zu benennen wußte. Wenn der Ostwind nachts an den Fenstern rüttelte und Seeungeheuer sich erhoben und über die Küste herzufallen drohten, war sie in dieses Bett gekrochen. Sie hatte sich mit ihrem kalten Körper an die Wärme ihres Vaters gedrückt und sich so klein wie möglich gemacht. Immer hatte sie sich an ihn geschmiegt, niemals an ihre Mutter. Denn die hätte sich aufgesetzt, die Nachttischlampe angeknipst und ihr gesagt, sie solle nicht so albern sein, sofort in ihr eigenes Bett zurückgehen und sie nicht zu nachtschlafender Zeit aufwecken. Aber er schlang einfach die Arme um sie, sein Atem berührte ihr Gesicht.

»Wo ist John? Warum ist er nicht hier? Warum läßt du ihn nicht herein?«

Tot und längst fort, mein lieber Vater.

»Du hörst mir nicht zu, oder?«

»Was?«

»Ich hab's dir doch gesagt. Die Schmerzen. Es ist schlimm.« Tränen rannen über ihr faltiges Gesicht, und sie stieß einen schwachen Laut wie ein verletztes Kätzchen aus. Immer noch schaukelte sie vorwärts und rückwärts und hielt sich mit den winzigen Händen an den Stuhllehnen fest. Margaret fühlte, wie der gleiche Laut in ihrer Kehle aufsteigen wollte. Sie stand auf und sah noch ein letztes Mal zum Mond hinauf. Dann ließ sie die Rolläden herunter und schloß die Nacht aus.

Kapitel 3

»Du hast schönes Haar«, sagte er, wand eine lange Strähne um seine Faust und legte sich das Ende wie einen Schnurrbart über die Oberlippe. »Es wird dir fehlen.«

Die Küchenschere mit dem orangefarbenen Plastikgriff streifte ihre Wange. Sie hielt die Augen zu Boden gerichtet. Die schwarzen Locken fielen wie Federn. Schwanenflaum, dachte sie. Wie Odile in Schwanensee.

»Hier«, sagte er, als er fertig war. Er hielt ihren Kopf mit einer Hand fest und stieß ihr Gesicht mit der anderen vor den gesprungenen Taschenspiegel.

»Warum?« fragte sie, das Wort kam mühsam aus ihrem Mund, der noch voll war von seinem Geschmack und dem nach Blut.

»Warum nicht?« antwortete er und warf sie zu Boden.

»Laß mich gehen.«

»Warum?«

»Weil ...« Ihre Stimme brach, die Worte blieben stecken, als ihre Kehle sich um die Stimmbänder schloß.

»Weil du mir gehörst«, sang er mit lauter Falsettstimme

»Bitte.«

»Aha.« Er lehnte sich im Stuhl zurück, schlug die Beine übereinander und verschränkte die Arme. »Jetzt bittest du mich, hm?«

»Nein.« Sie richtete sich auf und sah ihm in die Augen. Er trat sie mit dem Fuß in den Magen. Wortlos kippte sie nach hinten um, bekam keine Luft. Dann wimmerte sie, lag da wie ein Kleinkind im Mutterleib, Arme und Beine zusammengekrümmt.

Er warf die Schere durchs Zimmer. Mit einem lauten Klirren landete sie auf dem Fliesenboden. Ein Sonnenstrahl fiel auf die Klingen, die einladend blitzten.

Er stand auf, ging zu dem großen Emailspülstein hinüber und drehte den Hahn auf. Das Wasser schoß heraus. Er füllte eine Tasse, ging zu ihr zurück und hockte sich neben sie. Er legte ihr einen Arm um die Schultern, hob sie hoch, bis sie trinken konnte. Da fing sie an zu weinen, das Salz ihrer Tränen brannte auf den wunden, geschwollenen Lippen.

»Was willst du denn? Du weißt doch, daß meine Mutter dir alles geben würde. Sie würde alles tun, was du verlangst.«

Er zog ein Taschentuch heraus und tränkte es mit Wasser. Vorsichtig tupfte er das Blut ab, das um Nase und Mund angetrocknet war. Sein schwerer Atem streifte ihr Gesicht.

»Wirklich alles. Würde sie das tun? Und würdest du das tun? Alles tun, was ich verlange?«

»Habe ich eine andere Wahl?«

Ein langer Seufzer, der in Schluchzen endete.

»Oh, wir alle können wählen. Das unterscheidet uns von den Tieren auf dem Felde. Das macht uns zu Menschen.«

»Menschen.« Sie versuchte, auf die Füße zu kommen, sich mit ihren gefesselten Händen hochzudrücken, aber die Beine gaben unter ihr nach, und sie fiel zurück. Ihre nackten Knie schlugen auf den harten Boden auf, und der Schmerz trieb ihr wieder Tränen in die Augen.

Er stieß sie mit dem nackten Fuß an, ließ seine Zehennägel über die zarte Haut ihrer Wange kratzen. »Aber wenn ich mir's überlege – du siehst eigentlich nicht sehr menschlich aus. Vielleicht hast du doch keine andere Wahl.«

Sie versuchte zurückzuweichen, aber er packte sie an den Haaren und zog sie neben seinen Stuhl.

»Also. Deine Mutter. Eine hübsche Frau. Sehr hübsche Frau. Und auch 'ne Menge Geld, stimmt's?«

Mit geschlossenen Augen nickte sie.

»Und hat sie es ganz allein geschafft, oder ist sie wie die Leute in dem Lied?«

»In welchem Lied?«

»Na, du weißt doch.« Er ließ ihr Haar los, und sie fiel wieder auf den Boden. Er stand auf, atmete tief ein und machte eine Geste, als halte er ein Mikrophon. Dann schloß er die Augen, wiegte sich hin und her und sang mit klarer, melodischer Stimme

»Them that's got shall get.
Them that's not shall lose.
So the Bible says and it still makes news.
Mamma may have, Papa may have.
But God bless the child that's got its own,
that's got its own.«

»Na, wie wär's mit 'n bißchen Applaus, etwas Anerkennung?«

Am Ende verbeugte er sich tief vor ihr.

Sie hob die Hände und versuchte zu klatschen, aber die eisernen Handschellen verkeilten sich und klemmten die Haut an ihren Handgelenken ein. »Nimm sie ab, Jimmy. Bitte. Du weißt doch, es hat ohne sie mehr Spaß gemacht.«

»Spaß, soso? Spaß für wen?« Er packte sie an den Handgelenken und zog sie hinter sich her in den anderen, kleineren Raum. Er legte sie aufs Bett und zog die Handschellen über die Messingpfosten des Betts.

»Weißt du was, kleine Mary, ich glaube, ich werde deiner Mutter ein Geschenk machen. Du sagst, sie ist Psychiaterin. Sie hilft Leuten, die Probleme haben. Leuten wie mir. Leuten mit Psychosen und Neurosen. Ich werde ihr ein kleines Rätsel aufgeben. Und es hat mit dem Wort ›warum‹ zu tun. Warum tu' ich das, was ich tue, und warum tu' ich es dir an?«

Da erfüllte ein Laut den Raum. Der Klagelaut eines in die Enge getriebenen Tieres, der Schrei, den ein Kaninchen ausstößt, wenn sich das Frettchen mit seinem schlanken, muskulösen Körper durch das Loch in den Bau hinunterzwängt. Ein Kaninchen, erstarrt, bewegungslos, mit leeren Augen, wenn das Frettchen die spitzen Zähne fletscht und die Dunkelheit sich ausbreitet. Ganz langsam.

Kapitel 4

Das Telefon schrillte durch das stille Haus. Margaret hörte es, rührte sich aber nicht. Heute morgen hatte das Telefon schon zweimal geläutet, aber als sie abnahm, hatte sich niemand gemeldet. Also blieb sie sitzen, wo sie war: auf dem Fußboden in Marys Zimmer, ein Bündel mit ihren Trikots in allen Farben auf dem Schoß. Mary hatte sie überall verstreut liegen gelassen, als sie an jenem Abend eilig das Haus verließ. »Ich bin spät dran, ich räume mein Zimmer morgen auf«, hatte sie über die Schulter zurückgerufen, als sie ihre Tasche nahm und die Haustür zufallen ließ. Margaret hatte die Sachen aus Baumwolle und Lycra aufgesammelt. Rot und blau, lila und grün. Wie die Blumen, die Persephone an jenem Tag sammelte, als Hades sie in die Unterwelt entführte, dachte sie. Erst sechs Monate später sollte Demeter sie wiedersehen. Sechs Monate lang betrauerte die Welt jedes Jahr den Verlust ihrer Tochter.

Vier Tage seit Mary verschwunden war. Margaret vergrub ihr Gesicht in dem weichen Kleiderbündel. Marys vertrauter Geruch umgab sie. Sie atmete tief ein. Wie lang würde es dauern, bis der Geruch sich verlieren würde, jede Spur von ihr verschwunden wäre? Sie rutschte zur Seite auf den abgenutzten Teppich und rollte sich zusammen; plötzlich wurde ihr bewußt, daß das Telefon nicht mehr läutete und im Haus wieder Stille herrschte.

Ein neuer Tagesablauf bestimmte ihr Leben. Die normale Zeiteinteilung hatte keine Gültigkeit mehr. Sie maß ihre Tage in Einheiten, die sich aus den Schichten auf der Polizeiwache ergaben. Sie erlaubte sich einen Anruf jeweils im Abstand von acht Stunden. Von sechs Uhr morgens bis zwei Uhr nachmittags. Zwei bis zehn Uhr abends. Und zehn bis sechs Uhr morgens. In einem Spiel mit sich selbst erfand sie verschiedene Taktiken zur Verzögerung, stellte willkürliche Regeln auf. Ich trinke erst eine Tasse Tee, dann rufe ich an. Ich lese vorher noch die Zeitung, dann tue ich es. Ich werde nachsehen, ob Mutter ihre Tabletten genommen hat, dann wähle ich die Nummer. Sie aß wenig, irgendwann. Kaffee und ein Stück Brot mit Käse waren ihr Standardessen. Sie schlief zu unregelmäßigen Zeiten, hier und da. Eher ein paar Minuten als Stunden, nie im Bett, manchmal am Küchentisch oder auf einer Bank im Garten Einmal im Schaukelstuhl im Zimmer ihrer Mutter. Draußen schien die Sonne, ein vollkommener, schimmernder Feuerball an einem Himmel, der das Kornblumenblau des Meeres darunter widerspiegelte. Der kleine Strand bei Seapoint war voller Menschen. Von der Haltestelle der Dubliner Verkehrsbetriebe wanderten sie an ihren Fenstern vorbei die Straße hinunter – Mütter mit ihren Kindern, Freunde und Liebespaare, ein buntgescheckter Zug der Glücklichen. Sie stand am Tor und sah ihnen zu, war ihnen so nah, daß sie sie mit ausgestreckter Hand hätte berühren können, und doch waren sie eine Million Lichtjahre entfernt von ihrer kalten, dunklen Welt.

Um sie herum lief der Haushalt ab, dominiert von der Krankheit ihrer Mutter. Sie hatte Krebs, der acht Jahre zuvor festgestellt und seitdem behandelt worden war. Man hatte ihr die Brust abgenommen und dann eine sechsmonatige Chemotherapie gemacht. Jetzt war der Krebs wieder da. Ein Tumor an der Wirbelsäule. Das erste Mal hatte ein Brief genügt. Aber diesmal war es anders gewesen. In zwölftausend Meilen Entfernung hatte sie im Bett gelegen und Catherines Schluchzen gehört, und sie hatte gedacht: Es ist Zeit, zu ihr zurückzukehren. Abschied zu nehmen, die Geister zur Ruhe kommen zu lassen.

Sie lag jetzt mit einer Wange auf dem Boden und schloß die Augen. Sie spürte die Bewegungen im Zimmer unter sich durch die Wände des Hauses. Der Staubsauger fuhr über die verschossenen Teppiche vor und zurück, und die stetige, rhythmische Erschütterung ließ Marys Make-up-Fläschchen und -Döschen auf der Kommode klirren. Nellie war wohl da, dachte sie. Arme alte Nellie, wie Catherine sie nannte, wobei sie vergaß, daß Nellie, die schon mit vierzehn Jahren bei ihnen gearbeitet hatte, um einiges jünger und gesünder war als sie selbst. Die Türglocke läutete zweimal. Sie hob ein wenig den Kopf, ließ ihn dann wieder fallen. Das vertraute Murmeln, die Stimme des Arztes. Catherine mochte ihn sehr. Er war der jüngste Mitarbeiter der hiesigen Arztpraxis und stattete ihr jeden Tag einen Besuch ab. Manchmal brachte er Blumen oder Schokolade mit. Er flirtete mit ihr, ging auf die koketten Blicke ein, die sie ihm durch ihre dünnen Wimpern zuwarf, gab vor, den verschmierten Lippenstift und die Puderflecken nicht zu bemerken. Wer sonst würde an diesem hellen Morgen kommen? Vielleicht Pater Lonergan mit seinem gütigen Lächeln und den langen, gepflegten Händen. Vielleicht die eine oder andere Nachbarin, die sich an die Zeit erinnerte, als Catherine mit ihren eigens für sie angefertigten Schuhen und maßgeschneiderten Kostümen die bestangezogene Frau der Gemeinde gewesen war.

Margaret rollte sich auf den Rücken und schlang die Arme fest um das Kleiderbündel. Sonnenstrahlen wanderten durchs Zimmer, genauso wie es gewesen war, als sie noch ein Kind war. Ein Apfelbaum wuchs an der Rückwand des Hauses bis direkt an das Fenster ihres Zimmers hoch. Oft war sie über das Fenstersims hinausgeklettert und an den schwachen Zweigen hinuntergeglitten, die letzten Meter zum Rasen gesprungen. Mary hatte es in der ersten Woche nach ihrer Ankunft auch getan. Nur weil ich sehen will, ob alles, was du mir erzählt hast, auch wahr ist. Oh, du Kleingläubige, hatte Margaret sie getadelt, als sie unten auf dem Grasstück stand und zum Fenster hinaufsah. Sei vorsichtig. Tu dir nicht weh. Aber Mary war genauso leicht und wendig, wie sie es gewesen war. Sie landete mit den Zehen im moosigen Gras, wirbelte an Margarets ausgestreckten Armen vorbei, setzte die Füße gezielt, richtete den Körper ganz auf und erreichte mit einer Serie graziler Sprünge mühelos die Steinterrasse, wo Catherine, mit einem großen Gin Tonic vor sich, am Holztisch saß.

Margaret setzte sich langsam auf. Neben ihr stand ein hölzernes Bücherregal. Sie drehte den Kopf und las die Titel. All ihre alten medizinischen Lehrbücher, Vander, Sherman und Lucianos Human-Physiologie, Davidsons Humanmedizin, Grays Anatomie. Wie konnte man die Geheimnisse des menschlichen Herzens ergründen, dachte sie, als sie sie nacheinander herauszog und die vergilbten Seiten umblätterte. Ihre überraschend kindliche Handschrift war überall auf den Seitenrändern zu sehen. Manche Passagen waren unterstrichen, weiterführende Titel notiert, und dann steckte ein von einer Zigarettenschachtel abgerissenes Stück Pappe zwischen der Zeichnung von der Innenseite eines Knies und den Muskeln des Oberschenkels. »ICH LIEBE DICH« stand da in sorgfältig aufgemalten Druckbuchstaben, deren schwarze Tinte verblaßt war.

Tränen traten ihr in die Augen und rannen neben der Nase herab, sammelten sich in den Mundwinkeln und tropften ihr auf die Hände. Lautloses Weinen und wieder das andere, hartnäckige Geräusch. Das Läuten des Telefons. Immer wieder. Ein Ruf, den sie nicht länger überhören konnte. Sie stand auf, faltete das Stück Pappe vorsichtig in der Mitte und steckte es in die Tasche. Sie lief die Treppe zum Flur hinunter, wischte sich das Gesicht mit dem Handrücken ab und hob den Hörer hoch. Neben ihr schlug die Standuhr zwölf Uhr mittags.

»Hallo«, sagte sie. Schweigen. Sie sagte wieder »Hallo.« Dann ein Geräusch. Ein Einatmen.

»Bitte, sagen Sie etwas.«

Und noch ein Geräusch. Ein Pfeifen, hell und klar. Eine Melodie. Zuerst schienen die Töne abgehackt, unzusammenhängend. Panik durchfuhr sie. Was hatte das zu bedeuten? Was war es? Dann erhob sich eine Stimme aus den verschütteten Schichten ihres Gedächtnisses. Ihr Vater rief sie an seine Seite.

Hör zu, Maggie, hör mal. Meine Mutter, deine Oma, liebte diese Platte. Hör sie dir an. Die Hände tasteten an dem knisternden braunen Umschlag der harten schwarzen Scheibe herum. Paß auf, Maggie. Wenn du sie fallen läßt, ist sie kaputt. Paß schön auf. Leg die Nadel ganz vorsichtig auf.

Und jetzt dieselbe Melodie, gepfiffen.

Bring flowers of the fairest, bring blossom the rarest
From gardens and woodland and hillside and dale,
Our poor hearts are singing, our glad voices bringing
Our praise of thee, loveliest Queen of the May.
O, Mary, we crown thee with blossoms today,
Queen of the Angels und Queen of the May.

Das Pfeifen hörte auf. Schweigen. Kälte umfing ihren Körper. Die Muskeln ihrer Beine gaben nach. Schweiß brach an ihren Handflächen und Fußsohlen aus. Ihre Haare im Nacken sträubten sich. Und ein plötzlicher Schmerz tief im Herzen zwang sie zu Boden und ließ sie ihren Kopf immer wieder aufschlagen, bis sie sich an nichts mehr erinnern konnte.

Kapitel 5

Sie hatte ihn gebeten, ihre Mutter anzurufen. Also hatte er es getan. So einfach war das. War in die Stadt gefahren. Hatte eine freie Telefonzelle gesucht. Geld eingeworfen. Die Nummer gewählt. Und da hatte es auch schon geklappt. Beim ersten und zweiten Mal hatte er nichts gesagt oder getan. Er stand nur da in der Sonne und lauschte. Er mochte den Klang ihrer Stimme mit der seltsamen Mischung von Akzenten. Hauptsächlich Süd-Dublin, aber die Vokale waren etwas anders. So ähnlich wie bei ihrer Tochter. Ausladender, breiter, lockerer, so konnte man es vielleicht beschreiben.

Er hatte noch nie so etwas getan. Jedenfalls nicht seit seiner Kindheit. Und damals waren es nur zufällige Namen gewesen, die er beliebig aus dem Telefonbuch herausgesucht hatte. Deshalb hatte er sich nie richtig vorstellen können, wie sie aussahen, wenn sie den Hörer abnahmen und zuhörten und anfingen, Angst zu bekommen. Aber diesmal hatte er Marys kleines Fotoalbum mitgenommen, und er blätterte darin, bis er das Bild fand, das ihm am besten gefiel. Ihre Mutter. Margaret. Sie saß am Strand. In einem Bikini. Sie beugte sich vor, um aus einer Thermosflasche Tee einzugießen. Eine kleine Brust rutschte fast aus dem Oberteil heraus. Er strich mit dem Zeigefinger über das Bild. Eines Tages würde er diese Haut selbst fühlen. Nicht nur den seidenweichen Glanz auf dem Foto, sondern die echte Haut.

Er war in Versuchung gewesen, Mary mitzubringen. Er hatte gedacht, er könnte auch sie sprechen lassen. Vielleicht hätte sie Margaret überreden können, zu kommen und sie zu treffen. Aber seine Vorsicht siegte über den Einfall. Zu schwierig. Zu gefährlich. Besser so. Nicht so unübersichtlich. Also ließ er Mary mit den Handschellen an den Ring in der Wand gefesselt zurück. Sie versprach, nicht zu rufen oder zu schreien, aber er glaubte ihr nicht. Er holte ein Klebeband und verklebte ihren Mund. Tränen stürzten ihr aus den Augen, als er fertig war. Dummes Mädchen. Sie sollte inzwischen gemerkt haben, daß er unempfindlich dagegen war. Sie rührten ihn kein bißchen.

Der dritte Anruf war der beste. Er hatte gewußt, daß es gut werden würde, aber nicht wie gut. Er war in der Zelle an der O'Connell-Brücke. Die an der Südseite des Flusses, wo Westmoreland Street eine Biegung macht und in den Aston Quay mündet. Es war so heiß, daß das Kaugummi überall auf dem Bürgersteig zu schmelzen begann. Leute standen um ihn herum. Touristen in alberner Sommerkleidung, weiten Bermudashorts und formlosen Hemden mit Mustern aus Palmen und blauen Wellen. Scharen spanischer Studenten kreischten wie wütende Papageien im Gedränge um die Läden mit Postern, wo sie billige CDs und witzige Souvenirs kauften. Zwei Polizisten standen an der Ampel, ein Mann und eine Frau. Er war groß und massig, wippte auf seinen gummibesohlten Schuhen vor und zurück, hatte die Hände in den Taschen und die Ärmel über die braunen Arme hochgerollt. Sie war zierlich und hatte das helle Haar unter der Mütze hochgesteckt. Sie sah zu ihm auf und lächelte, flirtete fast mit ihm. Dann wandte sie sich ab, um auf einen Stadtplan zu sehen, den ihr ein Tourist unter die Nase hielt.

Ein alter Mann kam und lehnte sich an die Telefonzelle. Er hatte langes graues, verfilztes Haar, dessen Strähnen vom Nikotin gelblich gefärbt waren. Er trug einen dunklen Mantel, viel zu dick für das heiße Wetter. Als der rauhe Stoff an der Scheibe kratzte, sah Jimmy sein Spiegelbild, das ihm mit blendend weißen Zähnen entgegenlächelte. Er sah aus wie auf dem Foto, das seine Mutter eingerahmt und im Flur aufgehängt hatte. Sein Bild von der Firmung. Rote Rosette auf grauem Anzug und ein Lächeln, über das, wie seine Mutter sagte, die Engel sich freuen würden. Er wandte sich wieder dem Telefon zu und wartete. Als er die Lippen spitzte und das Lied zu pfeifen begann, fühlte er eine heftige Erregung. Sie brach aus ihm heraus, ein Glücksgefühl, wie er es noch nie empfunden hatte. Er verstand nicht, daß niemand anders es zu bemerken schien.

Es war das Lieblingslied seiner Mutter. Sie schwärmte dafür, wie sie es immer in der Gay Byrne Show am 1. Mai spielten. Noch Tage danach sang sie es vor sich hin. Falsch. Ihre Stimme ruinierte auch den Text. Er hatte es immer gehaßt, bis jetzt.

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
2023
ISBN (eBook)
9783986906214
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2023 (Juni)
Schlagworte
Irland-Thriller Irland-Krimi Psychothriller Irland-Spannung Patricia Gibney Tana French Molly Flanaghan Claire Douglas Neuerscheinung eBooks
Zurück

Titel: Die Toten von Irland