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Und ewig währt die Schuld

Thriller

©2015 381 Seiten

Zusammenfassung

Atemlose Spannung und eine verhängnisvolle Liebe: „Und ewig währt die Schuld“ von Anne Bensberg jetzt als eBook bei dotbooks.

Wenn sich hinter der makellosen Fassade ein Geflecht aus Lüge und Leidenschaft verbirgt …
Die junge Kunsthistorikerin Lisa lernt auf einer Vernissage den attraktiven Unternehmer Marc von Alnor kennen. Als er ihr vorschlägt, auf dem Schloss seiner Familie den wertvollen Kunstbesitz zu sichten, kann sie dieses Angebot nicht ausschlagen.
Schon bald entwickelt sich zwischen ihr und Marc eine zarte Liebesbeziehung. Doch immer wieder reagiert Marc seltsam distanziert. In Lisa wächst der Verdacht, dass er ein Geheimnis mit sich trägt.
Als plötzlich ein Schlossmitarbeiter spurlos verschwindet und Lisa mysteriöse Handymitteilungen erhält, fühlt sie sich nicht mehr sicher. Welches gefährliche Spiel wird hier gespielt?

Jetzt als eBook kaufen und genießen: „Und ewig währt die Schuld“ von Anne Bensberg. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Über dieses Buch:

Wenn sich hinter der makellosen Fassade ein Geflecht aus Lüge und Leidenschaft verbirgt …

Die junge Kunsthistorikerin Lisa lernt auf einer Vernissage den attraktiven Unternehmer Marc von Alnor kennen. Als er ihr vorschlägt, auf dem Schloss seiner Familie den wertvollen Kunstbesitz zu sichten, kann sie dieses Angebot nicht ausschlagen.

Schon bald entwickelt sich zwischen ihr und Marc eine zarte Liebesbeziehung. Doch immer wieder reagiert Marc seltsam distanziert. In Lisa wächst der Verdacht, dass er ein Geheimnis mit sich trägt.

Als plötzlich ein Schlossmitarbeiter spurlos verschwindet und Lisa mysteriöse Handymitteilungen erhält, fühlt sie sich nicht mehr sicher. Welches gefährliche  Spiel wird hier gespielt?

Über die Autorin:

Anne Bensberg ist promovierte Kunsthistorikerin und hat an renommierten Museen und Universitäten gearbeitet. Seit einigen Jahren ist sie im IT-Bereich tätig, um Kunst und Kultur in die digitale Welt zu befördern. Und ewig währt die Schuld ist ihr erster Roman und spielt – wie sollte es anders sein – im Kunstmilieu.

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Originalausgabe November 2015

Copyright © 2015 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/Creative Travel Projects

E-Book-Herstellung: Open Publishing GmbH

ISBN 978-3-95824-266-1

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Anne Bensberg

Und ewig währt die Schuld

Thriller

dotbooks.

Prolog

Heute habe ich ihn gesehen. Ich ließ mir den Weg zu seinem Zimmer weisen und trat ein. Man hat mich nicht gehindert.

Da lag er, regungslos, die Augen geschlossen, die Wangen bleich und eingefallen, der Körper bedeckt von einem weißen Laken, das sein Leichentuch sein wird. Sein Brustkorb hob sich kaum merklich. Seine Arme hingen an Schläuchen, wie die Marionette an ihren Schnüren. Ein beständiges Summen, das der medizinischen Apparate, erfüllte den Raum.

Ich betrachtete ihn einige Minuten lang mit kaltem Herzen, mitleidlos. Tod ist Todes Ausgang, rief ich ihm stumm zu. Dann ging ich.

Kapitel 1

Sie lernte ihn auf einer Vernissage kennen. Er hatte sich neben sie gestellt, vor das Gemälde, das sie gerade betrachtete. In jeder Hand hielt er ein gefülltes Sektglas. Das eine bot er ihr wortlos an. Überrascht starrte sie auf das Glas und dann auf ihn.

»Ohne die Schönheit wäre die Kunst nichts«, bemerkte er, während er ihr beiläufig das Glas in die Hand drückte. »Jeff Wall soll das gesagt haben. Kennen Sie Jeff Wall?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Ich auch nicht«, gestand er lächelnd. »Doch ich stimme mit ihm überein. Was denken Sie?«

Sie zuckte verwirrt mit den Schultern und blieb stumm.

»Wie finden Sie die Ausstellung«, setzte er erneut an. »Gefallen Ihnen die Gemälde?«

Sie räusperte sich, bevor sie zögernd antwortete. »Ich bewundere den Maler. Es gelingt ihm hervorragend, Emotionen in seinen Gemälden zu visualisieren.«

»Visualisieren«, wiederholte er. »Ich vermute, Sie sind vom Fach?«

»Ich bin Kunsthistorikerin.«

»Ein interessanter Beruf.«

Er hob sein Glas. »Auf die Kunst und auf die Schönheit!«

Sie stieß mit ihm an. Das Klirren ihrer Gläser hallte durch den Raum, so dass einige der Gäste die Köpfe verdrehten. Das war ihr peinlich.

»Marc von Alnor«, stellte er sich vor.

Sie sah ihn an, sah direkt in seine Augen. Bernsteinaugen, dachte sie und zuckte innerlich zusammen. Schwarzes, lockiges Haar fiel ihm in die Stirn. Sein Gesicht war schmal mit einer kräftigen Nase und einem sinnlichen Mund. Ein sinnlicher Mund! Wie kam sie auf solche Gedanken? Er trug einen dunklen Anzug, darunter ein weißes Hemd, doch keine Krawatte. Das gab ihm eine verwegen wirkende Lässigkeit. Er sah gut aus, verdammt gut!

»Und mit wem habe ich das Vergnügen.«

»Ich … heiße Lisa«.

»Lisa! Ein schöner Name für eine schöne Frau.« Sie spürte seinen bewundernden Blick und errötete.

»Haben Sie auch einen Nachnamen?«

»Ja«, antwortete sie einfältig. Du führst dich auf wie eine Idiotin, schimpfte sie lautlos mit sich selbst.

»Schmidt, Lisa Schmidt, sehr erfreut.« Sie reichte ihm die Hand, die er mit sanftem Druck umschloss. Sein Daumen strich kaum merklich über ihr Handgelenk. Ein Schauer lief ihr über den Arm. Einen Moment betrachtete er sie mit erhobenen Augenbrauen. Schließlich sagte er: »Sie können mir bedenkenlos Ihren richtigen Namen nennen.«

Sie schnappte nach Luft. Er hatte einen wunden Punkt getroffen. »Das ist mein richtiger Name«, stieß sie hervor.

In Kunstkreisen schien es offenbar absurd, einen Allerweltsnamen wie den ihren zu tragen. Kunstexperten hatten seltene, klangvolle Namen. Schmidt hießen Handwerker, Sachbearbeiter, allenfalls Lehrer.

»Es tut mir leid«, entschuldigte er sich sofort. Doch er konnte sich ein Schmunzeln nicht ganz verkneifen.

Eine unangenehme Pause entstand. Lisa nippte verärgert an ihrem Sekt.

»Würden Sie mir die Freude machen …« – er hielt kurz inne – »und mich durch die Ausstellung führen?«

Sie beäugte ihn misstrauisch. »Warum?«

»Sie könnten mein Wissen über Kunst mehren.«

»Sind Sie Sammler?«

»Auch, aber vor allem Liebhaber«, antwortete er vieldeutig.

»Nun gut, wenn Sie mögen«, seufzte sie. Zumindest auf diesem Gebiet fühlte sie sich sicher.

Gemeinsam schlenderten sie von Bild zu Bild. Lisa sprach über den Maler und seine künstlerischen Ambitionen. Sie erläuterte Thematik, Komposition sowie Farbgebung, und Marc von Alnor hörte aufmerksam zu. Sie waren in ein intensives Gespräch vertieft, als der Galerist zu ihnen trat und sie zu einem abschließenden Schlummertrunk in ein benachbartes Lokal einlud. Da erst bemerkten sie, dass sich die Galerie fast vollständig geleert hatte. An jedem anderen Abend wäre Lisa, ohne zu zögern, mitgegangen, schließlich kannte sie den Galeristen seit Jahren und besuchte regelmäßig seine Ausstellungen. Doch an diesem?

Sie sahen sich fragend, dann in stillschweigendem Einverständnis an.

»Sehr freundlich, aber wir haben andere Pläne«, dankte Marc. Er umfasste leicht Lisas Arm und führte sie aus der Galerie.

»Ich kenne ein nettes Restaurant nicht weit von hier. Sind Sie mit dem Auto gekommen?«

»Nein, mit dem Bus.«

»Das trifft sich gut. Mein Wagen steht in der nächsten Straße.«

Nach wenigen Metern blieb er vor einem Sportwagen stehen. Lisa pfiff leise durch die Zähne. Ein Jaguar, nicht schlecht.

Er öffnete ihr die Tür. In Zeiten der Zentralverriegelung eine fast ausgestorbene Geste der Höflichkeit, die ihr imponierte.

In zügigem Tempo steuerte Marc den Jaguar durch die nachtstillen Straßen. Ganz so nah schien das Restaurant dann doch nicht zu liegen, musste sie bald feststellen. Wie kannst du auch zu einem wildfremden Mann ins Auto steigen, schalt sie sich beunruhigt.

Doch schließlich bog er in eine Seitenstraße ein und lenkte den Wagen auf eine herrschaftliche Villa aus der Gründerzeit zu, deren Fenster in der Dunkelheit einladend leuchteten. Er parkte neben anderen hochpreisigen Fahrzeugen, und sie stiegen aus. Gedämpftes Stimmengewirr und leises Lachen drang aus den halb geöffneten Fenstern in die milde Frühlingsnacht. Wie selbstverständlich ergriff Marc Lisas Hand, und gemeinsam schritten sie dem Eingang des Restaurants entgegen.

Eine elegant gekleidete junge Frau empfing sie an der Tür. »Guten Abend. Graf von Alnor, wie schön, Sie wieder einmal bei uns begrüßen zu dürfen.«

»Vielen Dank, Madeleine.«

»Ihr bevorzugter Tisch ist frei.«

»Ausgezeichnet!«

Lisa bildete sich ein, die Augen sämtlicher Gäste in ihrem Rücken zu spüren, als sie Madeleine mit steifen Schritten quer durch das Lokal folgte.

»Sie sind bekannt hier«, sagte sie, als Marc ihr formvollendet den Stuhl zurechtrückte.

»Das Chez Olivier ist eines meiner Lieblingsrestaurants. Die Küche ist raffiniert und dennoch bodenständig, was heißt, man wird genussvoll satt. Außerdem besitzt der Wirt einen vorzüglichen Weinkeller. Sie trinken doch Wein?«

»Gewiss«, antwortete Lisa geziert und verschwieg lieber, dass sie von Weinen absolut keine Ahnung hatte.

Ein Kellner brachte ihnen die Speisekarten, und eine Weile studierten sie schweigend die angebotenen Gerichte, die in einem phantasievollen sprachlichen Gemisch aus Französisch und Deutsch beschrieben wurden.

Lisa hatte sich schnell entschieden, so dass sie Zeit fand, Marc hinter ihrer erhobenen Speisekarte verstohlen zu mustern.

Sie befand sich in der Gesellschaft eines Mannes, von dem sie eigentlich angenommen hatte, dass es ihn nicht gab. Dr. von Apoll hatte sie ihn in ihrer Jugend genannt. Der Doktortitel stand für Intelligenz, das von für Reichtum und Apoll für Attraktivität. Und hier saß er ihr gegenüber: Dr. von Apoll!

Er hat schöne Hände, kräftig und doch … Himmelherrgott, Lisa, was phantasierst du dir da zusammen? Sie fühlte verräterische Hitze in ihrem Gesicht aufsteigen, die noch weiter anstieg, als Marc plötzlich hochsah und sie angrinste, so als hätte er ihre Gedanken erraten.

»Haben Sie gewählt?«

»Ja.« Sie strich sich nervös eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »Ich hätte gern das Barbarie-Entenbrustfilet mit Sauce à la moutarde violette de Brive.« Was auch immer das sein mochte, dachte sie.

»Ich nehme das Boeuf bourguignon. Man muss bei Kräften bleiben«, zwinkerte er ihr zu.

Lisa lächelte unsicher. Sie wandte den Kopf und ließ ihre Augen durch den Raum schweifen. Das Restaurant war wirklich sehenswert. Die Wände schmückten zartfarbige Malereien, umrahmt von Ranken und Rocaillen aus Stuck. Prächtige Lüster spendeten festliches Licht, beleuchteten das Mobiliar aus runden Tischen und mit Damast bezogenen Stühlen. Auf den eingedeckten Tischen blitzten Ansammlungen von Kristallgläsern, glänzten blank polierte Silberbestecke und all die anderen schönen Dinge, welche die Nahrungsaufnahme zum stimmungsvollen Erlebnis machen.

Der Kellner trat an ihren Tisch, und Marc bestellte für sie beide. Danach wandte er seine uneingeschränkte Aufmerksamkeit ihr zu. Sie sah, wie sein Blick versonnen über ihr Gesicht, ihr blondes, bis auf die Schultern fallendes Haar, ihren langen, schlanken Hals und noch tiefer hinabglitt. Sie glaubte, ihn leise seufzen zu hören.

»Worüber wollen wir sprechen?« Seine direkte Frage brachte sie in Verlegenheit.

»Ich weiß nicht.«

»Erzählen Sie von sich!«

»Da gibt es nicht viel zu erzählen.«

»Wie sind Sie zu Ihrem Beruf gekommen? War Kunsthistorikerin Ihr Traumberuf?«

Lisa überlegte. »Eigentlich nicht. Als ich noch ein Kind war, wollte ich Krankenschwester werden, … später dann Malerin, aber auch … Einreiterin!«

Marc lachte auf. »Das sind in der Tat sehr unterschiedliche Berufswünsche. Einreiterin gefällt mir am besten. Da haben wir ja schon ein gemeinsames Thema gefunden. Das heißt, Sie können reiten!«

»Ich konnte reiten«, verbesserte sie ihn. »Aber es ist lange her, dass ich auf einem Pferd gesessen habe.«

»Warum?«

»Geld«, stellte sie schlicht fest. »Reiten ist zu kostspielig für mich.«

»Verdient man nicht gut als Kunsthistorikerin?«

»Ausreichend, wenn man denn verdient.«

»Das heißt, Sie haben im Moment keine Arbeit«, brachte er es auf den Punkt.

Sie nickte betreten.

»Aber Sie brennen darauf zu arbeiten?«, fuhr er fort.

Brennen wäre übertrieben, gestand sie sich im Stillen ein.

»Ja«, log sie ungeniert.

»Dann hätte ich eine Aufgabe für Sie.«

»Und was?«

»Dazu komme ich gleich.«

Er macht es spannend, dachte sie gereizt und verlor schon halb das Interesse. Leere Versprechungen kannte sie mittlerweile zur Genüge.

»Zunächst möchte ich Ihnen einiges von mir und meiner Familie erzählen. Ich bin Teilhaber eines Softwareunternehmens, eines erfolgreichen, wie ich mit einigem Stolz sagen kann. Unser Unternehmenssitz ist Schloss Schöntal, nahe dem gleichnamigen Dorf, etwa 80 km von hier entfernt. Es ist das Schloss meiner Familie. Und wie es heißt: Was man ererbt von seinen Vätern … Kurz und gut, das Schloss ist vollgestopft mit den Dingen meiner kunstbegeisterten und sammelfreudigen Vorfahren. Bis auf wenige Räume, meine eigenen privaten und die der Firma, sind alle anderen noch original eingerichtet, das heißt vor allem im Stil des Barock und des Rokoko. Und diese Räume sind zahlreich.«

Marc machte eine Pause, und Lisa wartete gespannt.

»Zum Inventar zählen Gemälde, Möbel, Silber, Porzellan und die Bibliothek. Sie umfasst Tausende von Büchern. Keiner hat sie jemals gezählt. Nicht zu vergessen das Familienarchiv, das leider schon lange Zeit in ungeordnetem Zustand brachliegt.«

Wieder hielt er inne wie ein geübter Dramaturg, der den Spannungsbogen steigert.

»Und was soll meine Aufgabe sein?«, fragte sie ungeduldig.

»Ordnung schaffen.«

Sie runzelte skeptisch die Stirn.

»Ich möchte, dass das gesamte historische Inventar in einer Datenbank erfasst wird. Hätten Sie Interesse an dieser Aufgabe?«

Das Essen wurde serviert, und Lisa erhielt willkommene Bedenkzeit. Zwei Kellner brachten die Teller mit Speisen, die von silbernen Hauben bedeckt waren. Wie auf Kommando hoben sie die Hauben hoch, ein theatralischer Effekt, der seine Wirkung auf Lisa nicht verfehlte. Marc hatte einen Pinot noir bestellt, wie er ihr erklärte, woraufhin Lisa Kennerschaft mimte. Der Kellner schenkte ihnen ein.

»Auf unseren ersten gemeinsamen Abend«, prostete Marc ihr zu. Eine Weile aßen sie schweigend.

»Wussten Sie, dass die Haute Cuisine in Frankreich als eigenständige Kunstform gilt, ähnlich der Malerei oder der Literatur? Und dass sie wie diese bestimmte Materialien, Motive und eine Komposition benötigt, um ein vollkommenes Kunstwerk zu werden?«

»Ach ja, auf dem Gebiet kenne ich mich nicht aus«, bekannte Lisa kauend. »Ich weiß nur, dass dieses Essen wahnsinnig lecker ist.«

»Lecker allein genügt nicht. Die Haute Cuisine hat den Anspruch, das Beste vom Besten zu bieten, gewissermaßen das gesamte kulinarische Universum. Erstklassische Produkte, perfektes Arrangement und erlesene Weine gehören ebenso dazu wie eine vollendete Tischkultur.«

»Sind Sie Gourmet?«

»Gourmet wäre zu viel gesagt, dazu fehlen mir die Kenntnisse, Genießer, das trifft es eher«, erklärte er mit einem hintergründigen Lächeln.

»Den Franzosen verdanken wir auch das erste Restaurant in der Form, wie wir es heute kennen«, dozierte er weiter. »Es wurde 1780 in Paris von einem Mann eröffnet, der ein epochales Buch über die Haute Cuisine geschrieben hat, L’Art du cuisinier

»Kulturgeschichte hat mich immer interessiert, beinahe noch mehr als Kunstgeschichte«, sagte Lisa. »Kulturgeschichte ist umfassender. Erst durch kulturgeschichtliche Forschungen ergibt sich ein vollständiges und lebendiges Bild der Vergangenheit.«

»Dann hätten Sie Interesse?«

»Interesse woran?«

»Für mich zu arbeiten.«

»Grundsätzlich schon«, antwortete sie unentschieden.

»Sind Sie familiär gebunden?«

»Nein.«

»Und was wird Ihr Partner sagen?«, fragte er, wobei sein Blick eine gespannte Wachsamkeit offenbarte.

»Hab keinen«, antwortete sie knapp. »Diese Aufgabe wird Zeit brauchen, vielleicht Jahre dauern«, gab sie zu bedenken.

»Umso besser«, erwiderte er.

Die Gedanken wirbelten durch Lisas Kopf. Ein Traumangebot, oder etwa nicht? Das ist die Gelegenheit, auf die du lange gewartet hast. Einerseits zu schön, um wahr zu sein, meldete sich ihr Argwohn, andererseits … warum sollte sie nicht auch einmal Glück haben?

Marc schien ihre blitzschnellen Überlegungen als Zögern zu deuten. »Sie würden selbstverständlich auch gut verdienen«, lockte er. »Und erhielten zudem noch eine Einödzulage«, fügte er launig hinzu. »Schloss Schöntal liegt nämlich ziemlich abgeschieden.«

»Und Sie trauen mir diese Aufgabe zu?«

»Warum nicht?«

»Weil, ich meine, Sie wissen doch gar nichts über mich und meine Qualifikation. Vielleicht bin ich ein Computeridiot oder habe keine Kenntnisse über historische Möbel.«

Mach dich doch nicht selbst klein, warnte ihre innere Stimme.

»Ich weiß mehr über Sie, als Sie denken, ich bin schließlich nicht naiv«, entgegnete er leicht verstimmt. »In erster Linie bin ich Geschäftsmann und beurteile Mitarbeiter allein nach ihrer Kompetenz.«

»Das bezweifle ich auch nicht«, entschuldigte sie sich hastig. »Aber wir haben uns doch gerade erst kennengelernt!«

»Ich habe mich über Sie erkundigt.«

»Bei wem?«

»Ich habe den Galeristen ausgefragt.«

»Landmann?«

»Landmann. Meine Familie kennt ihn gut. Wir gehören zu seinen Kunden. Er hat Sie vorgeschlagen. Fragen Sie die schöne Lisa, hat er mir geraten, sie ist zufällig heute Abend in der Galerie! Ich musste nicht lange suchen. Die Beschreibung war perfekt. Er scheint Sie sehr zu schätzen.«

Marc lächelte süffisant, und Lisa senkte den Kopf. Landmann war ein Kapitel für sich, und das wollte sie in diesem Moment gewiss nicht aufschlagen.

»Jedenfalls hat er von Ihnen in den höchsten Tönen geschwärmt … rein beruflich natürlich. Er hat mir berichtet, dass Sie bereits mehrere, auch größere Kunstsammlungen wissenschaftlich dokumentiert haben. Außerdem haben Sie ein Buch über expressionistische Revolutionsgemälde geschrieben, sehr speziell«, bemerkte er mit einem schiefen Grinsen, »und für das Kunstmuseum eine Ausstellung zu Rokokoporträts konzipiert. Sie sehen, ich bin ausreichend über Sie informiert.«

Marc lehnte sich zurück und fixierte sie.

»Nun, wie lautet Ihre Antwort?«

»Ja«, sagte Lisa.

Kapitel 2

Die Lautsprecherstimme schnarrte wie eine schlecht geölte Tür. »Nächste Bahnstation Schöntal!« Lisa hatte ihr Ziel erreicht. Mit einem leisen Knall klappte sie ihr Buch zu, so als setze sie einen Schlusspunkt, unter was auch immer. Dann zog sie ihre Jacke an, hangelte mit Mühe ihre Reisetasche aus der Gepäckablage, hängte sich ihre voluminöse Schultertasche um und postierte sich wartend vor der Zugtür.

Der Zug lief langsam in den Bahnhof ein und kam mit einem letzten Ruck zum Stehen. Lediglich ein einzelner Fahrgast verließ mit Lisa den Zug. Doch im Gegensatz zu ihr schien der Mann seinen Weg zu kennen, denn er steuerte zielstrebig auf das kleine Bahnhofsgebäude zu. Der Zug fuhr wieder an und war wenig später verschwunden. Stille senkte sich über den Ort. Lisa stand verloren auf dem Bahnsteig.

Na, dann mal los, munterte sie sich auf. Hier wird sich doch wohl jemand finden, der mir den Weg zum Schloss Schöntal zeigen kann.

Sie betrat die kleine, schummrige Bahnhofshalle. Sie war leer und der einzige Fahrkartenschalter geschlossen. Lisa durchquerte die Halle und öffnete die schwere Eingangstür, die sich quietschend widersetzte. Viele Fahrgäste schienen nicht hindurchzugehen.

Vor ihr lag das Halbrund eines mit Kopfsteinen gepflasterten, von hohen Bäumen umstellten Platzes. Wenige alte Häuser duckten sich unter ihren mächtigen Kronen. Kein Mensch war zu sehen, kein Laut zu hören. Nur die Blätter der Bäume rauschten im Wind. Bestürzt blickte sie sich um. Grundgütiger! Wo war sie hingeraten? In ein Zeitloch gefallen?

Was mache ich denn nun? Wie sollte sie zum Schloss kommen? Sie konnte wohl kaum zu Fuß gehen. Sie wusste weder Richtung noch Entfernung!

»Kann ich Ihnen helfen?« Erschrocken drehte sie sich um. Vor ihr stand der Mitreisende. »Warten Sie auf jemanden?«

»Nein.« Sie war nervös. Warum? Weil sie beide allein auf diesem Platz standen? Der Mann sah nicht gefährlich aus, oder doch? Er sah gefährlich gut aus. Ein richtiger Mann, hätte ihre Mutter gesagt, nicht wirklich schön, aber sehr attraktiv. Er war groß, wirkte athletisch. Sein Gesicht wurde durch kantige Linien modelliert. Das dunkelblonde Haar trug er militärisch kurz geschnitten. Äußerst irritierend fand sie seine Augen, schmal und schillernd grün wie die einer Katze.

»Sie stehen hier wie bestellt und nicht abgeholt«, stellte er wenig taktvoll fest.

»Was geht Sie das an?«

»Wo wollen Sie denn hin?«

»Schloss Schöntal«, murmelte sie.

»Das trifft sich gut. Ich auch.«

Sie warf ihm einen argwöhnischen Blick zu. »Wie – Sie auch? Ist das Zufall?«

»Vielleicht Vorsehung«, lachte er. »Ich arbeite auf Schloss Schöntal, Thomas Linden«, stellte er sich vor.

»Darf ich fragen, was Sie zum Schloss Schöntal führt?«

Gott, wie gestelzt er sich ausdrückte! »Dasselbe.«

»Dasselbe?«, fragte er.

»Arbeit!«

»Aha.«

Er war verwirrt, bemerkte sie mit boshafter Befriedigung.

»Thomas, hallo!« Beide sahen gleichzeitig in die Richtung der rufenden Stimme. Auf einem Fahrrad holperte eine junge Frau über das Kopfsteinpflaster heran. »Was machst du hier?« Rasch taxierten ihre Augen Lisa.

»Hallo, Britta. Ich bin gerade mit dem Zug angekommen. Ich hatte Termine in der Stadt. Die junge Dame will zum Schloss und weiß nicht, wie. Ich habe ihr angeboten, sie mitzunehmen, aber … sie hat Angst vor mir«, grinste er frech.

»Ich habe keine Angst«, Lisa merkte, dass sie sich wie ein quengeliges Kind anhörte. »Aber ich kann doch nicht mit jedem Daher… Arbeitet der hilfsbereite junge Mann wirklich auf Schloss Schöntal«, versuchte sie zu scherzen.

Doch Britta verzog keine Miene. »Ja«, antwortete sie knapp. »Mach’s gut, Thomas, wir sehen uns am Montag!« Mit diesen Worten trat sie in die Pedale und fuhr davon.

»Wollen wir?« Er sah Lisa fragend an. »Sonst müssen Sie auf den Bus warten. Der fährt allerdings nur alle zwei Stunden. Und von der Bushaltestelle ist es noch gut einen Kilometer zu Fuß bis zum Schloss.«

Ohne ihre Antwort abzuwarten, griff er ihre Reisetasche und marschierte los. Lisa blieb nichts Besseres übrig, als hinter ihm herzustolpern. Das Kopfsteinpflaster war nicht eben geeignet für ihre schicken, hochhackigen Schuhe, oder eher umgekehrt?

»Wo steht denn Ihr Wagen?«

»Gleich um die Ecke.« Thomas ging um das Bahnhofsgebäude und blieb vor einem Motorrad stehen. Entgeistert betrachtete Lisa die schwere Maschine. »Das ist nicht Ihr Ernst, da steige ich nicht drauf«, protestierte sie.

»Irgendwelche Probleme?«

»Ja, ich habe noch nie auf so einem Ding gesessen.«

»Das ist kein Ding«, belehrte er sie, »das ist eine Moto Guzzi!«

»Eine was?«

»Steigen Sie auf«, kommandierte er.

»Wo soll ich mich denn festhalten? Außerdem habe ich keinen Helm, und für meine Reisetasche ist auch kein Platz!«

»Helme habe ich zwei, die Reisetasche wird am Gepäckträger befestigt, und festhalten müssen Sie sich an mir«, entgegnete er leicht genervt.

»Was, wie soll das gehen? Wieso haben Sie zwei Helme dabei?« In Lisas Stimme vibrierte Panik.

»Wieso ich zwei Helme dabeihabe? Na, überleg mal, Rotkäppchen, damit ich dich besser fressen kann.«

Sein aufreizendes Lachen dämpfte der Motorradhelm. Er reichte ihr den zweiten, den sie ungeschickt aufsetzte, schwang sich auf den Sitz und ließ den Motor an. Ein tiefes, sattes Brummen ertönte. Schwerfällig kletterte Lisa hinter ihn.

»Festhalten«, befahl er.

»Wo denn?«

»Schlingen Sie die Arme um meinen Oberkörper.«

Lisa legte ihre Hände auf seine Schultern.

»Fester, sonst fallen Sie gleich beim Anfahren runter.«

Sie verstärkte ein wenig den Druck.

»Himmel noch mal, nun stellen Sie sich nicht so an.« Thomas packte ihre Arme und schloss sie fest um seine Brust.

»Fertig?«

»Ja«, schrie sie gegen den Motorenlärm an. Er hob den Daumen und rollte los.

Die ersten Meter steuerte er seine Maschine langsam und bedächtig durch den Ort, der kaum mehr als drei Straßen zu haben schien. Schnell gelangten sie auf die Landstraße. Thomas beschleunigte, Lisa spürte den Fahrtwind im Gesicht. Sie schmiegte sich an seinen Rücken, und ihr Herz begann aufgeregt zu klopfen, nicht nur aus Furcht.

Sie fuhren durch eine hügelige Landschaft. Bäume in zartem Frühlingsgrün rahmten die Landstraße und boten reizvolle Durchblicke auf blühende Wiesen und dunkle Wälder. Rapsfelder glänzten golden im Sonnenschein. Duftige Wolken zogen am blauen Himmel entlang. Es war ein prächtiger Tag, und Lisa begann ihn zu genießen.

Nach weniger als zehn Minuten Fahrt, auf dem Kamm eines Berges, wies Thomas mit ausgestrecktem Arm in die Ferne. Und da lag es, das Schloss, eingebettet in ein anmutiges Tal, Schloss Schöntal!

Die Straße schlängelte sich den Berg hinunter und führte in der Talsenke an der langen, hohen Schlossmauer entlang. Lisa staunte über die Ausmaße des Besitzes.

Thomas bog ab und steuerte auf ein großes Tor zu. Zwei wuchtige Pfeiler, gekrönt von je einer steinernen Ananasfrucht, hielten die beiden Torflügel, die einladend offen standen. Ein Gespinst aus schmiedeeisernen Ranken und Bogen wuchs auf jedem Torflügel bis zur Spitze empor und fügte sich zur Form des Wappens der Grafen von Alnor, jedenfalls vermutete Lisa dies.

Sie hatte sich nur unzureichend informieren können, denn sowohl über das Schloss und seine Geschichte als auch über die früheren und heutigen Bewohner gab es kaum Literatur. Lediglich auf der Website des Softwareunternehmens hatte sie einige knappe Zeilen gefunden.

Hohe Lindenbäume flankierten die Schlossallee. Sie wuchsen mit ihren Kronen zu einem Dach aus Blättern zusammen und geleiteten das Motorrad wie durch einen Tunnel zu dem fern und verheißungsvoll im Sonnenschein schimmernden Schloss. Thomas drosselte die Geschwindigkeit, und gemächlich näherten sie sich dem herrschaftlichen Gebäude.

Die lange Allee mündete in ein ovales, mit Kies bestreutes Rondell, in dessen Mitte Wasser munter in einen Brunnen plätscherte. Eine steinerne Brunnenfigur erhob sich auf dem Brunnenrand.

Sie stiegen vom Motorrad und nahmen ihre Helme ab. Lisa sah sich um.

»Gefällt es Ihnen?«, fragte Thomas.

»Wunderschön«, seufzte sie. »Ein maison de plaisance.«

»Ein was?«

»Ein Lustschloss!«

»Davon habe ich noch nichts gespürt«, lachte er. »Doch was nicht ist, kann ja noch werden.«

»Ich bringe das Motorrad in die Scheune«, rief er ihr zu, während er seine Maschine in Richtung eines der beiden Nebengebäude schob, die zu jeder Seite rechtwinklig an das Schloss grenzten. Sie nickte flüchtig, war schon versunken in die Betrachtung des Schlosses.

Heiter und beschwingt wuchs das pfirsichrosa verputzte Bauwerk an vier Achsen in die Höhe. Aus der Fassadenmitte sprang ein zweistöckiger Risalit hervor, akzentuiert von Pilastern mit korinthischen Kapitellen und bekrönt von einem Dreiecksgiebel. Die geschwungene Treppe führte zum doppelflügeligen Portal, das von hohen Sprossenfenstern gerahmt wurde. In der zweiten Etage fassten die Fenster einen Balkon ein. Das Mansarddach wies zwei große, runde Fenster auf, die wie staunende Augen in die Ferne zu blicken schienen.

»Darf ich Sie ins Schloss geleiten?«

Galant bot Thomas ihr seinen Arm, und Lisa ging auf sein Spiel ein. Gemessenen Schrittes stiegen sie die Treppe hoch, wobei Lisa ein albernes Kichern nicht unterdrücken konnte. Wenn mich jemand beobachtet!

Kaum oben angelangt, öffnete sich auch schon die Tür, und ein junges Mädchen trat auf die Schwelle. »Herzlich willkommen auf Schloss Schöntal.«

»Danke«, sagte Lisa und musterte das Mädchen neugierig. Sie war vielleicht zwanzig Jahre alt, doch klein und zierlich wie ein Kind. Sie trug ein dunkles, langärmliges Kleid, darüber eine winzige, weiße Schürze. Nur das Häubchen fehlt, spottete Lisa insgeheim. Mich hat es tatsächlich in die Vergangenheit verschlagen.

»Ich bin Charlotte. Graf von Alnor ist ausgeritten und wird zum Tee zurück sein.«

Lisa war enttäuscht. Seit ihrem Zusammensein im Restaurant, seit seinem Angebot, das sie leichtfertig, so schien es ihr mitunter, angenommen hatte, waren mehrere Wochen vergangen. Immer wieder hatte sie in der zurückliegenden Zeit ihren Entschluss überdacht, mal gezaudert, mal gezweifelt. Mehrmals hatte sie mit Marc telefoniert, Fragen gestellt, sich von ihm ihre Kleinmütigkeit ausreden und sich von seinem Charme betören lassen. Nun gut. Er war nicht zu ihrer Begrüßung erschienen. Sie durfte sich keinen Illusionen hingeben.

Charlotte bat Lisa hinein. Sie betrat die Halle. Ihre Augen brauchten eine Weile, um sich an das Halbdunkel zu gewöhnen, das nur durch drei breite Sonnenbahnen, die schräg durch die offene Tür und die beiden seitlichen Fenster fielen, erhellt wurde. Allmählich schärften sich die Konturen. Lisa sah sich um.

»Großartig«, flüsterte sie, während sie unbefangen in einer langsamen Pirouette jedes Detail der Ausstattung in sich aufnahm. Abrupt blieb sie stehen, verwirrt von ihrem eigenen Spiegelbild. Staunend betrachtete sie den prunkvollen Spiegel, der über einer marmornen Barockkonsole hing. Wuchernde Blattrocailles quollen aus den vergoldeten, kunstvoll geschnitzten Leisten, türmten sich auf zu einem mächtigen, bekrönenden Giebelornament, aus dessen verwirrendem Geflecht ein kleiner Putto hervorlugte. Die niedliche Figur saß auf einer Schnecke und hielt einen Papagei im Arm.

»Wie entzückend, die kleine Figur dort«, wies sie mit dem Arm nach oben. »Wie fein geschnitzt sie ist – und die Rocailles, einfach umwerfend!«

»Mmh, ja, okay. Ich habe mich gelegentlich gefragt, auf was die Figur sitzt«, bekannte Thomas.

»Das ist eine Schnecke!«

»Aha, eine Schnecke, warum nicht? Und was soll das Ganze?«

»Was Sie hier sehen, ist eine barocke Allegorie«, erklärte Lisa ihm. »Das pummelige, nackte Kind ist ein Putto und stellt Amor dar, den Liebesboten aus der römischen Mythologie.« Sie zögerte kurz und hob fragend die Augenbrauen. Thomas wie auch Charlotte beeilten sich, kundig zu nicken.

»Die Schnecke … die Schnecke also war in der barocken Kunst ein Symbol für die Sexualität.« Erwartungsvoll hielt sie inne und betrachtete ihr kleines Publikum.

»Die gab es damals auch schon?«, fragte Thomas. Um seine Mundwinkel begann es, verräterisch zu zucken, bevor er in ansteckendes Gelächter ausbrach.

Lisa versuchte vergeblich, sich das Lachen zu verkneifen.

»Wollen Sie jetzt Ihr Zimmer sehen?«

Lisa nickte und folgte Charlotte durch die Halle. Ihre Schritte hallten über den schwarz-weiß gefliesten Steinfußboden. Doch am Fuß der Treppe blieb sie erneut stehen. Eine solche Treppe hatte sie noch nie gesehen.

In breiten, flachen Stufen führte sie in die Höhe, löste sich allmählich von der Hallenwand, um in eleganter Drehung frei tragend nach oben zu schwingen. Geschnitzte Bildfelder mit den Darstellungen von Putten bei allerlei müßigen Tätigkeiten füllten die Treppenwangen. Putten, die musizierten, Putten, die Blumenkränze flochten, Putten, die mit Tieren spielten. Lisa konnte nur staunen über ein Kleinod vergangener Handwerkskunst!

»Was ist da unten los?« Eine brüchige Altmännerstimme schreckte sie auf. »Charlotte, komm und hilf mir!«

Charlotte schaute zuerst Thomas und dann Lisa an. »Der Graf«, raunte sie und hastete die Treppe hinauf.

Bald darauf hörte man das dumpfe Pochen eines Stockes und schwerfällige Schritte. Lisa blickte gespannt nach oben. Unwillkürlich lief ihr ein Schauer über den Rücken.

Als Erstes sah sie seine alte, knochige Hand, die den Handlauf ruckweise nach unten rutschte. Dann erschien der Mann selbst. Graf Albrecht von Alnor, Herr des Schlosses und Großvater von Marc. Lisa wusste, dass er im Schloss lebte. Marc hatte ihr seinen Großvater voller Zuneigung beschrieben. Von ihm war er großgezogen worden, als seine Eltern bei einem Unfall ums Leben gekommen waren.

Doch als der Graf vor ihr stand, ein schmächtiges, spitznasiges Männlein in einem altmodischen Anzug, und sie aus funkelnden Augen musterte, empfand Lisa eine spontane Abneigung.

»Wer sind Sie?«

»Das ist Frau Dr. Schmidt«, antwortete Charlotte an Lisas Stelle. »Sie ist …«

»Kann die junge Frau nicht selbst antworten?«, fiel der Graf ihr ins Wort.

Lisa räusperte sich. »Ich bin Lisa Schmidt. Marc von Alnor hat mich engagiert, um Ihre Kunstsammlung zu inventarisieren. Ich soll am Montag damit beginnen.«

Die Miene des Alten blieb abweisend. »So, so, Sie sind diese … Kunstexpertin, von der mein Enkel gesprochen hat.« Ein herablassender Zug hatte sich in seine Mundwinkel geschlichen. »Ich hoffe, Sie sind Ihr Geld wert.«

Lisa spürte, wie ihre Wangen heiß wurden. Auf diesen Empfang war sie nicht vorbereitet.

»Wenn ich nicht erwünscht bin, kann ich sofort wieder gehen.« Ihre Stimme klang schrill. »Wo ist meine Reisetasche?« Blind schaute sie um sich, krampfhaft bemüht, die aufsteigenden Tränen zurückzudrängen.

»Nun mal langsam«, hörte sie Thomas sagen. »Ich denke, die Worte des Grafen klingen anders, als er sie meint, ist es nicht so?«

Der Alte brummte vor sich hin und setzte sich auf seinen Stock gestützt in Bewegung. »Ich bin in der Bibliothek und erwarte dort meinen Tee«, rief er Charlotte zu, die sichtlich erleichtert davoneilte.

Lisa griff nach ihrer Reisetasche. »Ich gehe!«

»Bitte, Lisa, beruhigen Sie sich. Graf von Alnor ist ein alter Mann. Lassen Sie sich von seiner schroffen Art nicht entmutigen. Er spricht mit allen im Schloss so.«

»So unhöflich, meinen Sie. Mit mir spricht er nicht so!«

»Warten Sie, bis Marc zurück ist«, bat Thomas sie eindringlich. »Was würde er sagen, wenn ich Sie so einfach gehen ließe.«

Lisa sah in seine Augen, als könnte sie darin ihre Zukunft lesen. »Also gut«, seufzte sie.

Kapitel 3

Ihr Zorn war vergangen, doch ebenso die Freude. Vielleicht hätte sie doch abreisen sollen, erhobenen Hauptes.

Zugegeben, das Zimmer, in das Charlotte sie geführt hatte, war wunderschön, groß und hell, mit erlesenen, antiken Möbeln ausgestattet. Ein grandioses Himmelbett stand in der Mitte des Raumes. Seine geschwungene Form erinnerte an ein Boot, die Bettpfosten glichen Säulen aus Papyrusbündeln und waren vergoldet. Die Krönung im doppelten Sinne war jedoch der Baldachin, der unter der Decke an einem Lorbeerreif aus Messing hing. Üppige Stoffdraperien aus gelb-weiß gestreiftem Seidendamast waren zu beiden Seiten des Bettes an der Wand befestigt. Mit demselben  Stoff waren die zwei hohen Fenster des Zimmers umhüllt und sogar die Wände bespannt.

Lisa öffnete ein Fenster und atmete die frische Frühlingsluft ein. Ihr Zimmer lag in der Beletage, wie sie mit Genugtuung feststellte. In früheren Zeiten war die Beletage allein den hohen Herrschaften vorbehalten. Und jetzt wohnte sie hier, Lisa Schmidt. Bis zum entfernten Tor konnte sie die Allee übersehen, die schnurgerade auf ihre Fenster zulief.

Wie groß der Park war und wie schön! Lisas Augen folgten den Pfaden, die sich schlangengleich über sattgrüne Rasenflächen wanden, Baumgruppen umrundeten, hinter buschigen Biegungen verschwanden, um in der Ferne erneut hervorzukriechen.

Ein englischer Garten, ein künstlicher Naturgarten, ein Paradoxon. Denn die scheinbar natürlich emporwachsenden Baumgruppen, die dekorativen Wegführungen, die blühenden Büsche vor dem Hintergrund tiefgrüner Pflanzen waren das ausgeklügelte Werk genialer Gartenkünstler.

Sie begann ihre Reisetasche auszupacken. Die Schubladen der Kommode klemmten. Echt antik eben. Sie rüttelte, bis sie die oberste Lade herausgezogen hatte. Innen war alles makellos sauber, so dass sie ohne Widerwillen ihre Wäsche hineinlegen konnte. In die zweite Schublade kamen ihre Shirts und Pullover, in die dritte ihre ordentlich zusammengefalteten Jeans und in die letzte der ganze Rest.

Wohin mit dem Kleid? Ein Kleid mitzunehmen, hatte sie für unerlässlich gehalten, immerhin würde sie in einem Schloss leben. Bilder von rauschenden Bällen waren ihr durch den Kopf gegeistert – mit ihr als umschwärmter Ballkönigin! Wie kindisch!

Sie hielt das kleine Schwarze mit ausgestreckten Armen von sich. Ein wunderschönes Kleid. Sie hatte es günstig bei eBay ersteigert, doch das musste ja niemand wissen. Liebevoll befingerte sie das Etikett Prada, ein Kleid von Prada!

Sie sah sich um. Kein Kleiderschrank im Zimmer, nicht verwunderlich! In ein stilechtes Barockzimmer passt nun mal kein Kleiderschrank.

Ein goldener Knauf ragte auffällig aus der rückwärtigen Wand. Lisa zog daran und öffnete die Tür zu einem geräumigen Wandschrank. Das Kleid verschwand in seinem Inneren, ebenso ihre zwei Paar Schuhe, die bequemen und die superschicken, italienischen, die sie vor kurzem in einem Secondhandladen entdeckt hatte. Übrig blieb ihre Kosmetiktasche. Das Badezimmer hatte Charlotte ihr nicht gezeigt. Sie würde später danach suchen.

Sie ließ sich in einen der beiden breiten Barocksessel fallen. Man saß äußerst bequem auf den dicken Polstern. Die Handwerker früherer Zeiten hatten solche Sessel eigens für die Damen in ihren bauschigen Röcken angefertigt.

Plötzlich hörte sie das Getrappel von Hufen und Stimmen. Er war zurück! Sie sprang zum Fenster und sah, wie er sich vom Pferd schwang. Ein Junge eilte herbei und führte das Pferd in Richtung des Nebengebäudes, in den Stall vermutlich.

Jemand öffnete die Haustür. Lisa erkannte Thomas’ Stimme. Ob er Marc berichten würde, was geschehen war? Und Marc? Wie würde er reagieren? Die Stimmen wanderten in die Halle. Lisa lief zur Zimmertür und öffnete sie einen Spalt weit. Nur einzelne Worte drangen zu ihr hinauf. Thomas sprach laut. »Unhöflich« – schnappte sie befriedigt auf. Marcs Antwort konnte sie nicht verstehen.

Dann hörte sie Schritte. Jemand rannte die Treppe hoch. Kaum hatte sie die Tür geschlossen, klopfte es schon. »Herein«, rief sie nach angemessenen zwei Sekunden des Wartens.

Und da war er endlich! Ihr Herz hämmerte vor Aufregung. Die Reitgerte schwingend kam er langsam auf sie zu. Ganz nah blieb er vor ihr stehen. »Lisa«, sagte er leise, strich ihr sanft eine Haarsträhne aus dem Gesicht, fuhr mit dem Daumen über ihre Wange und verwischte eine einzelne Träne, die sich trotz aller Bemühungen um Haltung aus ihrem Auge gelöst hatte. »Es tut mir leid.«

Marc nahm sie in seine Arme. »Du darfst dir das nicht zu Herzen nehmen«, bat er. »Wir alle freuen uns, dass du gekommen bist. Mein Großvater ist ein alter Mann. Es hat nichts zu bedeuten.«

Sie fühlte sich wohl in der Wärme seiner Umarmung. Er roch nach Pferd, und er roch nach Schweiß, er roch gut. Er nahm ihr Gesicht in beide Hände. »Vergeben und vergessen?«

Sie nickte.

»In einer halben Stunde treffen wir uns in der Bibliothek!«

»Aber dein …«

»Mein Großvater wird nicht dabei sein.«

Er nickte ihr aufmunternd zu und schloss die Tür hinter sich. Lisa blieb leicht betäubt zurück.

***

Ein Geräusch hatte sie geweckt. Lisa öffnete die Augen und warf einen Blick auf die Digitaluhr, die auf dem barocken Nachttisch kauerte wie ein verirrter Zeitreisender. Zwanzig Minuten nach sieben.

Sie räkelte sich genüsslich, überlegte kurz, ob sie noch ein Stündchen schlafen sollte, als ihre Gedanken bereits zurückwanderten zu den Ereignissen des vergangenen Tages, der so schlecht begonnen und doch noch harmonisch geendet hatte.

Jede Einzelheit stand ihr wieder bildhaft vor Augen. Sie war ins Bad gegangen, hatte blauen Lidschatten aufgetragen, der ihre Augen wie Sterne leuchten ließ, ein Kompliment, das Marc ihr am späteren Abend zugeflüstert hatte. Zugegeben, ein ziemlich kitschiges Kompliment, aber dennoch … Mit rot schimmernden Lippen und glänzend gebürstetem Haar war sie in ihr Zimmer zurückgekehrt, dort in ihre sündhaft teuren Designerjeans gestiegen, hatte einen flauschigen Pullover übergestreift und sich in ihren superschicken italienischen Schuhen in die Bibliothek begeben.

Ihre Nervosität fiel ihr wieder ein, als sie oben auf dem Treppenabsatz gestanden hatte und fröhliches Stimmengewirr zu ihr hochgeschallt war. Es schienen mehr Menschen in der Bibliothek versammelt, als sie erwartet hatte. Ihre Handflächen waren feucht geworden, hatten einen dünnen Schweißfilm auf dem samtweich polierten Handlauf der Treppe hinterlassen.

Vor der Bibliothek hatte sie einen Moment innegehalten und tief durchgeatmet. Und dann, ja dann, warum auch immer, hatte sie beide Türflügel aufgestoßen. So war ihr Eintritt zum Auftritt geraten.

Lisa wand sich in der Erinnerung vor Unbehagen. Schlagartig waren sämtliche Gespräche verstummt. Sekundenlang galten alle Blicke ihr, Sekunden, die ihr wie eine kleine Ewigkeit vorgekommen waren.

Dann war Marc auf sie zugeeilt mit einem Lächeln auf den Lippen und mit ausgestreckten Armen. Er hatte sie an der Hand gefasst und in die Mitte des Raumes gezogen.

»Liebe Kollegen, ich möchte euch unsere neue Mitarbeiterin vorstellen, Frau Dr. Lisa Schmidt. Lisa ist Kunsthistorikerin und Expertin für digitale Inventarisierung. Sie wird den kulturhistorischen Besitz in unserem Schloss wissenschaftlich dokumentieren und die Ergebnisse in eine Datenbank eingeben. Lisa, dies sind deine Kollegen …!«

»Meine Kollegen«, wiederholte sie leise und ließ die Gesichter vor ihrem geistigen Auge vorüberziehen. Eine zuschlagende Tür riss sie aus ihren Betrachtungen. Sie hörte gedämpfte Stimmen. Das Schloss erwachte. Sie schwang sich aus dem Bett. Es war kühl im Zimmer. Mit bloßen Füßen trippelte sie zu den Fenstern, zog die schweren Vorhänge zurück und schaute hinaus.

Der Park verbarg sich im Morgennebel. Wie in einem surrealen Gemälde schwebten die Baumwipfel über den Schwaden. Unter ihrem Fenster plätscherte der Brunnen seine eintönige Melodie. Die Brunnenfigur war in einen dunstigen Mantel gehüllt.

Ein dunkler Schemen löste sich aus dem Nebel und näherte sich dem Schloss. Lisa erkannte den jungen Oliver Imhoff auf seinem Fahrrad.

Olli, wie ihn alle nannten, war ihr gestern Abend vorgestellt worden, ein sympathischer Blondschopf von vielleicht sechzehn oder siebzehn Jahren. Er ging noch zur Schule und tat in seiner Freizeit nichts lieber, als sich im Stall nützlich zu machen. Er wohnte im Dorf, kam jedoch fast jeden Tag zum Schloss geradelt.

Die meisten Mitarbeiter von Marc lebten im Schloss. Eine große Familie, hatte Marc ihr lachend erklärt. Wer gehörte zur Familie? Thomas Linden natürlich, den sie bereits kennengelernt hatte, Geschäftspartner von Marc in der gemeinsamen Firma ALINDOR.

ALINDOR! Für Lisa klang der Name wie ein Zauberspruch. Das hatte sie zur Belustigung aller Anwesenden kundgetan. Dabei war er nur das Akronym aus Alnor und Linden. Dann waren da Jean-Pierre Leblanc und Steffen Peters.

Leises Piepen störte ihre gedankliche Rückschau. Eine SMS! Lisa fand ihre Handtasche auf der Kommode und fischte das Handy heraus. »Warte auf Rückruf, Caro«, las sie.

Oh Gott, sie hatte vergessen, Caro anzurufen. Lisa wusste nur allzu gut, welche Schreckensbilder Caros üppige Phantasie erschaffen konnte. Lisa verletzt, verschleppt, verstorben!

Fünf Jahre zuvor waren sich Lisa und Caro zum ersten Mal begegnet. Die Arbeit hatte sie zusammengeführt. Caro war Restauratorin mit eigener Werkstatt. Seit einem Jahr teilten sie sich eine Wohnung.

Lisa drückte die Kurzwahltaste auf ihrem Handy. Caro meldete sich nach dem ersten Klingeln.

»Ich lebe noch«, tönte Lisa ins Telefon.

»Und ich bin krank vor Sorge.«

»Du machst dir doch ständig Sorgen, Caroline. Mir geht es gut. Ich war gestern zu beschäftigt und habe den Anruf vergessen. Tut mir leid.«

»Hauptsache, alles ist okay. Zur Strafe musst du mir haarklein berichten.«

Lisa lachte. Es wurde ein langes Telefongespräch. Sie schilderte ihre Ankunft am Bahnhof, den unfreundlichen Empfang durch den alten Grafen, wobei ihr Caros solidarische Empörung guttat, beschrieb voller Begeisterung das Schloss und zählte ihre Kollegen auf.

»Dann arbeitest du also nur mit Männern zusammen«, kicherte Caro.

»Nein, es gibt auch noch eine Sekretärin, eine Köchin und ein Hausmädchen.«

»Die sind unwichtig«, behauptete Caro. »Hast du schon einen Favoriten?«

»Unsinn«, knurrte Lisa, obschon ihr Herz heftig zu klopfen begann. »Ich bin zum Arbeiten hier.«

»Sieht er gut aus«, stichelte Caro weiter.

»Willst du jetzt zuhören? Thomas Linden habe ich ja schon erwähnt, das ist der mit dem Motorrad.«

»Das hätte ich zu gern gesehen.«

»Ein anderer Kollege heißt Steffen Peters. Marc nennt ihn unseren Mann für schwierige Fälle. Er ist der Systemadministrator.«

»Spannend«, bemerkte Caro trocken. »Wer ist Marc?«

»Steffen ist groß und dünn, trägt natürlich eine Brille. Er entspricht genau dem Klischee eines Computerfreaks.«

 »Und wer ist jetzt Marc?«, bohrte Caro weiter.

»Jean-Pierre kommt aus Frankreich.«

Lisa schätzte ihn auf Anfang zwanzig. Ein hübscher Junge mit langem welligen Haar und feinen Gesichtszügen. »Ein Renaissance-Jüngling.«

»Das klingt poetisch. Aber ist er nicht zu jung für dich?«

»Was soll das heißen? Er ist ein Kollege.«

»Und was ist mit Marc? Ist er auch noch ein Jüngling?«

»Nur einen mag ich nicht«, ignorierte Lisa Caros Neugier. »Er heißt Alexander Neuburg.«

Er ist der Manager im Team, wie Marc ihn vorstellte, und als Betriebswirt für die Finanzen zuständig. Neuburg hatte sie höflich begrüßt. Doch sein taxierender Blick hatte ihr nicht behagt.

»Und was ist nun mit diesem Marc?«

»Marc ist der Schlossherr und einer der beiden Kompagnons von ALINDOR. Vor Wochen habe ich dir schon von ihm erzählt.«

»Du meinst den jungen Grafen?«

»Wen sonst?«

»Seit wann duzt ihr euch denn?«, fragte Caro lauernd.

»Wir reden uns alle mit Du an. Wir sind wie eine Familie«, echote Lisa. »Und du, was hast du heute vor?«, wechselte sie abrupt das Thema.

»Ich muss arbeiten.«

»Am Wochenende?«

»Der Auftrag. Das Gemälde muss endlich fertig werden.«

»Welcher Auftrag?«

»Das habe ich dir erzählt! Der französische Impressionist.«

»Ach ja, deine Entdeckung!«

»Genau, die Sensation meines bisherigen Berufslebens!«

Lisa erinnerte sich nur zu gut. Eines Abends war ein Mann in Caros Werkstatt erschienen, um ein Gemälde von ihr restaurieren zu lassen. Er habe das Bild zwischen allerlei Plunder auf dem Dachboden seines Hauses gefunden, hatte er erklärt. Als Caro begann, die Bildoberfläche zu reinigen, war unter dem Schmutz der Vergangenheit eine Signatur zum Vorschein gekommen: G. Caillebotte! In der Tat eine Sensation.

»Dann will ich dich nicht länger von der Arbeit abhalten. Ich muss mich auch eilen! Heute will mir Marc das Schloss zeigen. Ich bin schon sehr gespannt. Mach es gut, Caro. Ich melde mich wieder.«

»Du auch, Lisa, und pass auf dich auf. Tschüss!«

»Tschüss … Caro, warte!«

»Ja?«

»Wie geht es Rudi?«

»Es geht ihm gut. Er hat dich schon vergessen.«

»So sind sie, die Männer!«

»Du sagst es!«

Lisa brach die Verbindung ab. Sekunden später piepte ihr Handy erneut. Sie drückte schnell auf die entsprechende Taste. Noch eine SMS! Was sie las, ließ sie schmunzeln. »Sei wachsam!« Ja, Caro. Das bin ich.

Rasch zog sie ihre helle Cordhose an, streifte ein schwarzes T-Shirt über, schlüpfte in ihre bequemen Schuhe und eilte ins Bad.

Sie wollte nicht als Letzte am Frühstückstisch erscheinen, auch wenn heute Sonntag war. Marc hatte sich um neun Uhr mit ihr verabredet, und sie musste unbedingt eine Tasse Kaffee trinken, bevor der große Rundgang begann.

Sie verschloss ihre Zimmertür und steckte den langen, antiken Bartschlüssel in die Hosentasche, wo er unangenehm gegen ihren Oberschenkel drückte. Wohin mit dem unhandlichen Ding? Was soll’s! Hier würde doch niemand stehlen, oder? Und wenn, bei ihr gab es nichts zu holen.

Sie schob den Schlüssel von innen ins Schloss zurück und zog die Tür hinter sich zu. Dann eilte sie den Gang entlang und die geschwungene Treppe hinunter, wobei ihre Hand wie liebkosend über den Handlauf glitt. Erwartungsvoll öffnete sie die Tür zum Speisezimmer. Es war leer. Sollte sie die Erste sein? Nun gut, dann konnte sie sich ungeniert umsehen. Sofort fiel ihr das üppige Stillleben über dem Büfett auf. Eine reich gedeckte Tafel mit feinsten Speisen, mit Früchten und Blumen, orchestriert von silbernen Gefäßen und blitzenden Gläsern bot sich als wahrer Augenschmaus dar!

Der reale Schmaus war auf dem reich verzierten barocken Büfett darunter angerichtet. Die gemalte Illusion schien direkt aus dem Bild auf das Büfett gekippt zu sein. Auch hier fanden sich in silbernen Schüsseln und Schalen Leckereien jeglicher Art, sogar Süßspeisen, und das zum Frühstück!

Zögerlich griff sie nach einem der Porzellanteller und belud ihn sparsam mit einem Brötchen, etwas Käse und einem Löffel Marmelade, dazu nahm sie sich ein Ei. Eine Schande, dass sie morgens keinen Appetit hatte!

Sie setzte sich an den Tisch, strich nach Hausfrauenart über das matt glänzende Damasttischtuch und fühlte die Krümel unter ihrer Hand. Offenbar war sie doch nicht die Erste am Frühstückstisch. Die silberne Kaffeekanne stand zum Warmhalten auf einem in feinster Rokokomanier verschnörkelten Rechaud. Sie goss sich eine Tasse Kaffee ein und seufzte wohlig. So stilvoll machte Frühstücken Spaß.

Gerade biss sie in ihr Marmeladenbrötchen, als es klopfte. Sie zuckte zusammen, und die Marmelade hüpfte auf das makellos weiße Tischtuch. Himmel noch mal, fluchte sie leise und blickte verärgert hoch.

Eine große, hagere Frau mit stoppelkurz geschnittenen grauen Haaren stand in der Tür.

»Guten Morgen, Frau Dr. Schmidt. Ich bin Helene Freudenberg, die Köchin.«

Lisa schob ihren Stuhl zurück und erhob sich. Sie schüttelten sich die Hand und beäugten einander neugierig.

Wenn die alte Küchenweisheit zuträfe, dass nur dicke Köche wirklich gut kochen, weil ihnen ihr eigenes Essen so gut schmeckt, dann konnte man von den Kochkünsten der Frau Freudenberg nicht viel erwarten. Die Frau war nicht nur dünn, nein, sie war schon mager und dabei sehr groß.

»Ist alles zu Ihrer Zufriedenheit?«, erkundigte sich Frau Freudenberg.

»Alles wunderbar«, beeilte sich Lisa zu versichern.

Frau Freudenberg beäugte stirnrunzelnd Lisas Teller.

»Ich bin keine große Frühstückerin. Ich kriege morgens nichts runter, wahrscheinlich schläft mein Magen länger als ich.« Lisa lachte gezwungen. Wieso fühlte sie sich wie ein ertapptes Kind?

»Das ist schade! Ein paar Kilos mehr könnten Ihnen nicht schaden.«

Ausgerechnet du musst das sagen, lästerte Lisa stumm. »Wo sind die anderen?«

»Die Grafen von Alnor haben bereits gefrühstückt. Sie nehmen das Frühstück stets in ihren privaten Räumen ein. Herr Neuburg ist in sein Büro gegangen. Er arbeitet immer sonntagvormittags. Die anderen sind noch nicht heruntergekommen.«

»Na, dann bin ich wenigstens nicht die Letzte.«

»Wenn Sie etwas brauchen, klingeln Sie.« Leni Freudenberg wies mit dem Kopf auf ein Band mit dicker Troddel, das neben dem Büfett von der Decke herabhing, und schloss die Tür hinter sich.

Lisa starrte verblüfft auf den Klingelzug. Ich bin in ein Zeitloch gefallen, ging ihr ein weiteres Mal durch den Kopf.

Kapitel 4

Wieder standen sie einträchtig vor einem Gemälde. Doch dieses Mal war sich Lisa seiner körperlichen Nähe mehr als bewusst. Ihr nackter Unterarm kribbelte noch von der zufälligen Berührung mit seiner Hand.

Verstohlen betrachtete sie Marc von der Seite. Er war wahrlich ein schöner Mann. Sein Profil konnte man klassisch nennen, die gerade Nase, die geschwungenen Lippen, das runde Kinn, wie ein griechischer Gott! Heute trug er eine sportliche Hose und einen marineblauen Pullover aus weicher Wolle. Lisa tippte auf Kaschmir, was sonst, die Ärmel hatte er locker hochgeschoben.

»Das ist Graf Engelbert von Alnor, unser Ahnherr und der Erbauer dieses Schlosses«, hörte sie ihn sagen. Die schwarzen Locken hingen ihm in die Stirn. Wie süß, er hat gebogene Wimpern!

»Was meinst du?«

»Was?« Sie hatte nicht zugehört, sie hatte ihn angehimmelt.

»Findest du, er sieht mir ähnlich?«

»Wer?«

»Engelbert! Von wem rede ich die ganze Zeit?«

Diensteifrig betrachtete sie den Porträtierten, der aus der Vergangenheit auf sie herabsah.

Den Mund, seinen sinnlichen Mund hatte er Marc vererbt. Aber das konnte sie ja unmöglich sagen. Ansonsten war der Ahnherr kein allzu gutaussehender Mann gewesen, wollte man ihn an heutigen Maßstäben messen, doch zweifellos ein einflussreicher, wie das Gemälde verriet.

Graf Engelbert von Alnor war reich gewesen. Nicht nur seine prächtige Kleidung bezeugte dies. Angelehnt an eine steinerne Balustrade, stand er vor einer weiten Landschaft, seinem Besitz, die der geraffte, voluminöse Vorhang dem Blick des staunenden Betrachters eröffnete.

Und er war bedeutend gewesen. In der einen Hand hielt er den Marschallstab, als Insignie seiner Macht, die andere Hand wies auf den Orden auf seiner Brust als Würdigung seiner Leistungen im Dienste des Fürsten. Man war nicht zimperlich im Zeitalter des Barock. Prahlen gehörte zur gesellschaftlichen Konvention.

»Ich finde nicht«, kam schließlich ihre Antwort.

»Weißt du, Lisa, dass wir eigentlich eine Bande von Bastarden sind?« Marc schaute sie herausfordernd an.

»Wie meinst du das?«

»Bastard, Bankert, Balg!«

»Heißt das, du bist unehelich geboren?«

Er grinste. »Ich nicht, aber seine Kinder!« Er zeigte auf das Porträt. »Ich verrate dir etwas, das mich immer wieder erheitert, meinen Großvater jedoch noch nach über zweihundert Jahren erbittert.«

Er machte eine bedeutungsvolle Pause.

»Dieser Herr«, betonte Marc, »war ein geistlicher Herr! Ein geistlicher, katholischer Herr. Und was darf ein geistlicher, katholischer Herr auf keinen Fall? Genau«, bestätigte er, als hätte Lisa die Frage beantwortet, »er darf keinem Weibe beiwohnen«, wie es in früheren Zeiten so schön hieß. Doch eben dies hat er unzählige Male getan. Weißt du, zu welchem Zweck dieses Schloss erbaut wurde?«

»Ich habe eine Vermutung.«

»Es war sein Liebesnest«, erklärte Marc und hielt ihren Blick irritierend lange fest.

»Ein maison de plaisance«, kommentierte sie kunsthistorisch korrekt und entlud damit ein wenig feige die aufkommende Spannung zwischen ihnen.

»Er hat das Schloss als Refugium für sich und seine Geliebte gebaut, fernab der Residenz, verborgen vor aller Augen. Und wer, denkst du, war seine Geliebte?«

»Ich nehme an, eine verheiratete Frau.«

»Falsch, seine Geliebte war«, er hob theatralisch die Stimme, »… sie war eine Äbtissin! Jetzt staunst du, was? Ist das nicht eine haarsträubende Familiengeschichte?«

»In der Tat«, bemerkte Lisa und fing an zu kichern.

»Seine Liebste, die Äbtissin, hieß Adelheid von Stolberg. Die beiden führten gewissermaßen eine Wochenendbeziehung. Während der Woche gingen sie ihren Berufen nach, er im Dienste des Fürsten, sie im Dienste des Herrn.«

Sie lachten lauthals los.

»Großvater hat diese Version der Familiengeschichte niemals akzeptiert. Er ist überzeugt, dass beide Vorfahren letztendlich geheiratet haben und dass der Beweis im Archiv zu finden ist. Wenn du also dem alten Grafen einen großen Gefallen tun willst, dann finde ein solches Dokument.«

Gern würde Lisa die Bestätigung der gräflichen Legitimität entdecken, liebte sie doch das Stöbern in Archiven und war im Auffinden von verschollenen Dokumenten sehr erfolgreich. Ein richtiges Trüffelschwein, nannte sie ihre Freundin Caro. Doch dem boshaften alten Grafen Genugtuung zu verschaffen, das wäre wohl ihr allerletzter Antrieb.

»Gibt es eigentlich auch ein Porträt von Adelheid?«, wollte sie wissen.

»Allerdings, Großvater hat es auf den Dachboden verbannt. Er will nicht an die Familienschande erinnert werden«, feixte Marc.

»Die arme Adelheid«, seufzte Lisa voll klatschfreudigem Behagen. »Immer trifft es die Frauen, oder etwa nicht?«

Marc zog lediglich eine Augenbraue hoch.

Mit einem letzten Blick auf den verblichenen Frauenhelden gingen sie durch die Tiefe der Halle auf eine mit Schnitzereien verzierte Flügeltür zu. Marc ließ Lisa eintreten.

»Dies ist der Gartensaal, der schönste Raum im ganzen Schloss«, verkündete er.

Einen Moment lang war sie sprachlos. Vorsichtig ging sie einige Schritte über den kunstvoll verlegten Parkettfußboden und stellte sich auf den großen Intarsienstern in der Mitte des Saales. Langsam ließ sie die Augen über die geschnitzten Girlanden und Rocailles der Vertäfelungen wandern, bewunderte die pastelligen Wandmalereien, darunter vier zartgliedrige ätherische Wesen, die sie mühelos an ihren Attributen als die Sinnbilder der vier Jahreszeiten identifizieren konnte, und die schmalen, hohen Eckspiegel, die ihr eigenes Bild zurückwarfen. Etliche Minuten vergingen, bis sie schließlich »hinreißend« flüsterte.

»Das Glanzstück des Schlosses hast du jetzt gesehen«, erklärte ihr Marc. »Sei nicht enttäuscht, wenn es in den oberen Stockwerken bescheidener zugeht.«

»Was du bescheiden nennst«, entgegnete sie. »Sieh dir mal meine Wohnung an, dann weißt du, was bescheiden heißt.«

»Sehr gern, wann?« Seine spontane Zustimmung brachte sie in Bedrängnis. Sie zögerte, dachte sich blitzschnell alle möglichen Ausreden aus.

Caro und sie hatten die Dreizimmerwohnung mit viel Geschick und Geschmack eingerichtet. Der Meinung war sie jedenfalls bis heute gewesen. Doch jetzt genierte sie sich. Sie dachte an die Möbel vom Flohmarkt in den klaustrophobisch kleinen Zimmern, an kitschigen Nippes und an die Trinkgläser im Schrank, die einmal Senfgläser gewesen waren. O Gott, das musste er wirklich nicht sehen.

»Ist dir mein Besuch unangenehm?«

»Nein, nein, überhaupt nicht«, erwiderte sie sofort. »Ich überlege nur, wann es möglich ist. Ich muss auch Caro fragen. Caro ist meine Mitbewohnerin. Hatte ich sie schon erwähnt?«

»Hattest du. Wo liegt das Problem?«

»Kein Problem, überhaupt kein Problem. Du könntest mich begleiten, wenn ich das nächste Mal nach Hause fahre. Das wird schon bald sein, denn ich brauche noch einiges aus meiner Wohnung, Kleidung und … alles.«

»So machen wir es«, stimmte er sofort zu, wandte sich um und stieg die Treppe hinauf. Lisa folgte ihm erleichtert. Wer weiß, was wird, dachte sie.

»Ich habe nie eine schönere Treppe gesehen. Wer hat dieses Prachtwerk geschaffen?«, fragte sie, während sie wieder einmal wohlig über den Handlauf strich.

»Wissen wir nicht. Die Bauzeichnungen, die Auftragsbücher, Rechnungen – und was es sonst noch so gab – sind nicht erhalten. Nach der Familienüberlieferung waren es welsche Handwerker, die das Schloss erbaut haben.«

»Welsch kann nach damaligem Sprachgebrauch fremd, aber auch französisch bedeuten«, überlegte sie laut.

»Du wirst es für uns herausfinden!«

Sie erreichten den Treppenabsatz im ersten Stock. Links der Treppe lag der Gang, der zu Lisas Zimmer führte. Marc ging voraus.

»Bevor ich hierherkam, habe ich versucht, mich über das Schloss zu informieren«, erzählte Lisa, »konnte jedoch nichts über seine Geschichte finden. Ein richtiges Dornröschenschloss, von der Zeit vergessen. Ihr müsst erst wieder wachgeküsst werden!«

»Versuch es doch.« Er war plötzlich stehen geblieben und hatte sich umgedreht. Sie prallte gegen seine Brust. Hastig trat sie zurück und senkte verlegen den Blick.

»Weiter geht’s durch das Dornröschenschloss. Du wunderst dich sicher über diesen Korridor. Er ist für barocke Schlösser untypisch und ähnelt eher einem Hotelflur.«

Dem konnte sie nur zustimmen.

»Dieser Korridor ist, soweit wir wissen, die einzige bauliche Veränderung in der langen Geschichte des Schlosses. Sie wurde erst im Zweiten Weltkrieg, als das Schloss als Lazarett diente, durchgeführt. Zuvor gingen diese Räume ineinander über.«

»Du meinst eine Enfilade!«

»Wie man das nennt, weiß ich nicht«, gestand er. »Jedenfalls wurden zusätzliche Wände eingezogen und die Zimmertüren zum neu geschaffenen Gang verlegt, so dass man in jedes Zimmer gelangen konnte, ohne die anderen durchqueren zu müssen. Mein Großvater hat es dabei belassen. Nach dem Krieg hatte er andere Sorgen, und für uns ist die jetzige Situation wesentlich praktischer. Diese Etage ist nämlich die der Mitarbeiter! Ich hoffe, dein Zimmer gefällt dir.«

»Es ist sehr schön. Vor allem das Himmelbett liebe ich. Man schläft wirklich himmlisch darin.«

Er nickte zufrieden.

»Wer sind denn meine Nachbarn?«

»Neben dir auf der rechten Seite wohnt Steffen, auf der linken Alexander.«

»Alexander, aha!«

Marc warf ihr einen schiefen Blick zu. »Das klingt nicht gerade erfreut.«

»Wieso? Ich habe nichts gegen ihn.« Und dennoch beschlich sie ein vages Unbehagen, als sie an ihren Zimmernachbarn dachte. Vielleicht sollte sie ihr Zimmer doch abschließen?

»Neben Alexander liegt Jean-Pierres Zimmer und am Ende des Ganges das von Thomas«, zählte Marc auf.

»Und du?«, fragte sie nach einer kleinen Weile schüchtern.

»Ich bin da, wann immer du mich brauchst«, entgegnete er anzüglich. Rasch wandte sie den Kopf zur Seite, nicht ohne sein Grinsen zu bemerken. Hoffentlich bin ich nicht schon wieder rot geworden, ärgerte sie sich.

»Der Graf und ich wohnen nebenan.«

»Der Graf und ich«, äffte sie ihn nach. »Das klingt wie ein Filmtitel!«

Ein unangenehmes Minderwertigkeitsgefühl stieg auf einmal in ihr hoch. Zweifellos, er hatte eine andere Sozialisation als sie. Auch eine dämliche Umschreibung, dachte sie ungehalten über sich selbst. Doch es stimmte. Er war in ganz anderen gesellschaftlichen Verhältnissen aufgewachsen. Er war adelig, er war reich, er hatte beste Manieren, mit Sicherheit eine erstklassige Ausbildung, das ganze elitäre Programm eben!

Und sie? Sie hatte zunächst die Realschule und später das Gymnasium besucht. Ihre schulischen Leistungen waren nicht eben überragend gewesen. Nur der Kunstunterricht hatte ihr Spaß gemacht. Lisa konnte ziemlich gut malen, eine maßlose Untertreibung, hätten ihre Eltern gesagt, hielten sie sie doch für eine äußerst begabte Malerin. Doch was zählt schon die Meinung der Familie?

Jedenfalls hatte sie sich nicht für die freie Kunst, sondern für die Kunstwissenschaft entschieden und war mit dieser Entscheidung recht glücklich geworden.

»Was überlegst du?«

»Ach, nichts Besonderes. Ich habe mir gerade versucht vorzustellen, wie du hier als Kind gelebt hast, in diesem großen Schloss, ohne Spielkameraden. Oder hast du noch Geschwister?«

»Nein, ich bin der Letzte meiner Art«, witzelte er. »Und wer sagt, dass ich keine Spielkameraden hatte?«

»Hattest du? Aber hier sind doch keine Nachbarn weit und breit!«

»Du kennst das ehemalige Verwalterhaus noch nicht. In diesem Haus wohnte Thomas mit seinem Großonkel.«

»Thomas Linden?«

»Thomas und ich sind seit Kindertagen befreundet. Wir waren als Jungen unzertrennlich und sind es in gewisser Weise heute noch«, erklärte er, wobei Lisa sein Lächeln ein wenig gezwungen erschien. Sie wartete auf mehr, doch Marc deutete in die andere Richtung auf die geschlossene Flügeltür rechts von der Treppe.

»Dahinter liegen die Räume meines Großvaters und meine. Seine Räume kann ich dir nicht zeigen. Er hasst es, so sagt er, wie in einem Museum ausgestellt zu werden. Er ist ein etwas starrköpfiger alter Mann. Darauf müssen wir wohl Rücksicht nehmen. Obwohl, … mein Großvater besitzt einige sehr schöne Gemälde, die du unbedingt sehen musst, hauptsächlich Werke französischer Künstler des 19. und 20. Jahrhunderts. Sie sind sein ganzer Stolz, und er bewacht sie wie ein eifersüchtiger Liebhaber. Ich werde mit ihm reden. Schließlich soll ja der gesamte Kunstbesitz erfasst werden.«

Lisa dachte sich ihren Teil zu Marcs wortreicher Erklärung, und der Teil war nicht eben nett.

Am Ende des Korridors tauchte eine schattenhafte Gestalt auf. Lisa konnte sie im Zwielicht nicht erkennen, erst als sie die Stimme hörte.

»Guten Morgen, Lisa«, grüßte Thomas. »Gut geschlafen?« Breitbeinig stellte er sich vor sie und versperrte ihr den Weg. Der Blick seiner grünen Katzenaugen verfing sich in ihren. Unwillkürlich trat sie einen Schritt näher zu Marc, als suche sie seinen Schutz. Thomas runzelte leicht die Stirn, und ein Schatten des Ärgers glitt über sein Gesicht. Tief in ihrem Innern wusste Lisa nur allzu gut, warum er sie derart verunsicherte. Doch verdrängte sie energisch jeden Gedanken daran.

»Wir besichtigen das Schloss, das heißt ich, denn Marc kennt es ja schon«, plapperte sie drauflos. Was redest du für einen Blödsinn, erregte sie sich lautlos.

»Vergesst die Geheimgänge nicht«, sagte Thomas und ging.

»Geheimgänge?« Augenblicklich war Lisas Neugier geweckt. »Gibt es hier Geheimgänge?«

Sie gelangten an das Ende des Korridors, der sich drei Stufen tiefer fortsetzte.

»Wir sind jetzt im Anbau, dem früheren Personaltrakt«, ignorierte Marc ihre Frage. »Du musst wissen, dieses Schloss war zu seiner Zeit eine architektonische Besonderheit.«

»Wie das?«

»Besagter Engelbert von Alnor legte aus bekannten Gründen großen Wert auf seine Privatsphäre. Daher beschloss er, die zahlreiche Dienerschaft, die zum Betrieb des Schlosses und zu seiner Bequemlichkeit vonnöten war, auszusiedeln. Er baute für sie ein separates Gebäude an das Schloss, damit die Dienstboten in größtmöglicher Entfernung zu ihm und seiner Liebsten wohnten, aber dennoch jederzeit erreichbar waren. Vermutlich fühlte er sich so freier und unbeobachteter.«

»Und wo wohnten damals gewöhnlich die Dienstboten?«

»Das müsstest du besser wissen als ich. Ich denke, überall dort im Schloss, wo sie gebraucht wurden, in Kammern neben der Küche und nahe den Gemächern der Herrschaft oder unter dem Dach.«

»Interessant«, kommentierte Lisa, Aus-beu-ter, entrüstete sich ihr Herz ganz unwissenschaftlich.

»Die meisten der Dienstboten blieben im Alltag praktisch unsichtbar. Sie bewegten sich in den Diensträumen und auf Treppen und Gängen, die nur von ihnen benutzt wurden. Es gibt in der Tat hier im Schloss diese Gänge, wenn sie auch nicht geheim sind. Ich werde sie dir bei Gelegenheit zeigen.«

»Warum nicht sofort?«

»Das wäre zu umständlich«, wiegelte Marc ab. »Nicht alle Gänge und Treppen sind noch zugänglich. Einige Türen wurden zugemauert, vor anderen stehen Schränke. Du wirst sie noch früh genug entdecken. Der Dienstbotentrakt ist heute unser Firmensitz, das passt doch«, frotzelte er. »Andere Zeiten, gleiche Sitten.«

Sanft ergriff er ihren Arm und zog sie weiter. »Ich werde dir jetzt dein Büro zeigen.«

Kapitel 5

Montagmorgen, der erste Arbeitstag. Lisas Blick wanderte durch ihr Büro, ein funktionell und modern eingerichteter Raum, kein barockes Damenkabinett, wie sie fast erwartet hätte. Zwei hohe Fenster, das eine nach Süden, das andere nach Westen gerichtet, ließen viel Licht hinein.

Sie schaute in den Park und malte sich in ihrer Phantasie aus, wie vor über zweihundert Jahren die Rokokodamen in ihren schleppenden, bauschigen Kleidern an der Seite ihrer scharwenzelnden Kniehosen-Kavaliere durch den Park flaniert waren.

Der Schreibtisch stand vor dem westlichen Fenster. Weder Stifte noch Papier bedeckten seine matt glänzende Oberfläche, außer einem funkelnagelneuen Computermonitor. Der zugehörige Rechner stand auf dem Fußboden. Auch die Schubladen des Schreibtisches waren noch leer. Als Erstes musste sie Büromaterial besorgen. In Gedanken machte sie sich eine Liste.

An den fensterlosen Wänden standen Regalschränke, ebenso noch ohne Inhalt. Eine kleine Auswahl an Fachbüchern, Lexika und anderen Nachschlagewerken würde sie schon brauchen. Marc hatte ihr versichert, dass in der Bibliothek zahlreiche Kunstbücher standen. Hoffentlich die richtigen Bücher und nicht nur edle Bildbände, wie sie Kunstliebhaber gern kauften. Sonst könnte es beschwerlich werden, sonst würde sie in der Universitätsbibliothek der Stadt die benötigte Literatur ausleihen müssen.

Allerdings, dachte sie, könnte ich dann in regelmäßigen Abständen nach Hause fahren, auch nicht schlecht. Vielleicht würde sie ein Jahr oder noch länger im Schloss arbeiten. Da wären ihr Abstecher in ihre Wohnung durchaus willkommen.

Es klopfte an die Tür. Marc steckte den Kopf ins Zimmer, und sofort beschleunigte sich ihr Pulsschlag.

»Guten Morgen, Lisa. So früh schon bei der Arbeit?« Er kam mit federnden Schritten auf sie zu, bis er dicht vor ihr stand. Sie konnte den Duft seines Rasierwassers riechen, oder war es der Duft seines Körpers?

»Du scheinst eine Frühaufsteherin zu sein! Oder brennst du vor Schaffensdrang?«

 »Eigentlich bin ich eine Langschläferin«, erwiderte sie mit belegter Stimme. »Aber hier … wache ich früh auf.«

»Ich wollte mit dir zusammen frühstücken, aber du warst schon fertig, hat mir Leni berichtet.«

»Leni … Frau Freudenberg?«

»Ja, ich nenne sie Leni, seit ich sprechen kann. So lange ist sie nämlich schon bei uns.«

»Frau Freudenberg sagt, dass du mit deinem Großvater frühstückst!«

»Bis heute schon, aber jetzt bist du da! Und mit dir zu frühstücken, das stelle ich mir sehr viel vergnüglicher vor.«

Eine heiße Welle der Zuneigung überflutete sie bei diesen Worten.

»Wie willst du vorgehen?«, wechselte er das Thema. »Hast du schon ein Arbeitskonzept? Kann ich dir irgendwie behilflich sein?«

Entspannt hatte er sich auf der Ecke ihres Schreibtisches niedergelassen und sah sie erwartungsvoll an.

»Nun …«, begann Lisa und erinnerte sich schuldbewusst, wie sie vergangene Nacht mit glücklichen Gedanken, wenn auch nicht an ihre Arbeit, in den Schlaf gesunken war.

»Nun«, wiederholte sie, »ich dachte …« Nervös stockte sie, als sie seinen gespannten Blick bemerkte.

»Ja«, drängte er.

»Zuerst hätte ich gern Papier und Stifte …«

Ihre Stimme erstarb in seinem fröhlichen Gelächter.

»Die sollst du haben, alles, was du brauchst, sollst du haben.«

»Also«, setzte sie erneut an, »ich habe mir Folgendes überlegt. Als Erstes werde ich die Gemälde inventarisieren, und zwar die Familienporträts. Parallel dazu werde ich im Archiv recherchieren, um Informationen über die Porträtierten zu bekommen. Die Gemälde versuche ich historisch einzuordnen. Vielleicht gelingt mir auch bei den nicht signierten Bildern, und das sind etliche, die eine oder andere Zuschreibung. Vielleicht besitzt ihr ja unentdeckte Schätze, wer kann das wissen? Am Ende soll eine möglichst umfassende, wissenschaftliche Dokumentation von jedem Gemälde herauskommen. Nach diesem Muster werde ich auch die anderen Gemälde untersuchen. Alle gewonnenen Daten gebe ich in die Datenbank ein. Sobald ich damit fertig bin, folgen die kunsthandwerklichen Objekte, die Möbel, das Porzellan, das Silber. Und wenn alle Aufgaben erledigt sind, kann ich selbst als Antiquität inventarisiert werden«, scherzte sie.

Marc schien beeindruckt. »Du bist ja ein echter Profi.«

»Was dachtest du denn? Aus dem Grund bin ich doch hier, oder etwa nicht? Ich habe noch mehr Ideen. Wir könnten die Ergebnisse meiner Recherchen später veröffentlichen. Wir könnten ein Buch über eure Sammlung herausgeben oder auch mehrere. Eines über die Gemälde, ein zweites über die kunsthandwerklichen Objekte usw. Wir könnten auch eine Familiengeschichte schreiben, und wir könnten eine Website für die Sammlung einrichten!«

»Langsam, langsam«, stoppte Marc ihren Ideenfluss. »Lass uns Schritt für Schritt vorgehen. Also, als Erstes brauchst du einen Kugelschreiber«, schmunzelte er. »Britta Bauer, unsere Sekretärin, ist für solche Dinge zuständig. Du kennst sie noch nicht. Sie hatte Urlaub, ist aber seit heute wieder im Büro. Schreib eine Liste mit allem, was du benötigst, und gib sie ihr.«

»Ich glaube, ich weiß, wer sie ist.« Lisa erzählte von ihrer Begegnung am Bahnhof.

»Umso besser, dann brauche ich euch nicht vorzustellen. Sie sitzt im übernächsten Büro. Mich musst du jetzt entschuldigen. Die Arbeit ruft. Wenn du noch Fragen hast, wende dich an Britta.«

Er legte leicht seine Hand auf ihre Schulter und ging. Von einem auf den anderen Moment fühlte sie sich furchtbar einsam.

Die Kollegen trudelten ein. Lisa hörte Stimmen, morgendliche Begrüßungen. Sie öffnete die Tür und trat in den Flur.

»Bonjour, Lisa!«, begrüßte Jean-Pierre sie gutgelaunt, bevor er weitereilte zur Kaffeemaschine. Die hatte ihren Dienst bereits aufgenommen, stieß, gurgelnd und zischend, duftenden Kaffee in die Glaskanne. Was wäre ein Büro ohne Kaffeemaschine? Vermutlich unproduktiv!

»Guten Morgen, Frau Doktor!« Neuburg war auf leisen Sohlen eingetreten. Sein Blick haftete unangenehm lang auf ihrem Gesicht, ehe er in sein Büro ging, das genau gegenüber dem ihren lag. Wieder befand sie sich in direkter Nachbarschaft dieses Mannes, der ihr nicht ganz geheuer war.

Sie hörte Britta lachen, in der schrillen, affektierten Art weiblicher Wesen, die einem männlichen Wesen gefallen wollen.

Auf dem Weg zu Brittas Büro guckte sie in jedes Zimmer. Steffen hatte sich an seinem Computer festgesaugt und schien ihren Gruß nicht zu hören. Marcs Zimmer war verschlossen, das von Thomas leer. Den fand sie bei Britta.

Als Lisa eintrat, brach das gekünstelte Gelächter jäh ab. Brittas Gesicht verfinsterte sich, und Lisa wusste sofort, dass sie niemals Freundinnen werden würden.

»Guten Morgen«, grüßte sie und reichte der Sekretärin die Hand. »Ich bin Lisa Schmidt, die neue Mitarbeiterin. Wir sind uns vor zwei Tagen am Bahnhof begegnet, erinnern Sie sich?«

»Morgen«, murmelte Britta und reichte Lisa eine schlaffe Hand. Eine Pause entstand, in der sich alle gegenseitig musterten.

»Ich benötige verschiedene Dinge für mein Büro«, erklärte Lisa schließlich, »die üblichen Büromaterialien, also Papier und Stifte, Locher, Aktenordner usw.«

»Im Schrank.«

»In welchem?«

»Rechts.«

Britta steckte die Ohrstöpsel des Diktiergerätes in ihre Ohren und begann mit einer Heftigkeit auf die Tastatur des Computers zu hämmern, als stände eine alte, mechanische Schreibmaschine vor ihr.

Dumme Pute. Lisa sah sich suchend im Zimmer um und steuerte auf den Schrank rechts neben der Tür zu. Thomas sprang herbei und öffnete mit einer galanten Geste die Schranktür.

»Immer zu Ihren Diensten, schöne Frau«, sagte er und rollte mit den Augen in Brittas Richtung. Sie mussten lachen. Sofort fuhr Brittas Kopf herum. »Von allem nur eins, das hier ist kein Selbstbedienungsladen.«

»Sehr wohl«, entgegnete Lisa schnippisch. Sie packte die Büroutensilien in Thomas’ Arme, gab der Schranktür einen leichten Tritt und verließ das Büro. Hinter ihr knallte die Tür ins Schloss. Spiel, Satz und Sieg! Sie hatte ihren ersten Feind gewonnen.

Kapitel 6

»Wach auf«, ertönte eine gebieterische, helle Stimme. Und schon wurden ihr brutal die Augenlider hochgezogen. »Du schläfst ja gar nicht«, rief die Stimme triumphierend.

Lisa blinzelte. Vor ihrem Bett stand ein Kind und starrte sie erwartungsvoll an. Wo kam das Kind denn her?

Sie erhob sich mühsam.

»Sie ist wach, Mama, sie ist wach«, jubelte das Kind, während es um ihr Bett hüpfte. Eine junge Frau stürzte ins Zimmer. »Jonas, was fällt dir ein?«, schimpfte sie. »Du kannst die junge Dame doch nicht einfach wecken! Entschuldigen Sie vielmals.« Sie packte den widerspenstigen Jungen und schleifte ihn aus dem Zimmer. Sein Protestgeschrei gellte Lisa schmerzhaft in den Ohren. Wer waren diese Leute, fragte sie sich verschlafen.

Das Dröhnen eines Staubsaugers ließ sie zusammenzucken. Da hatte sie die Antwort! Lisa sah auf die Uhr, halb sieben! Unmöglich! Das konnte nicht sein, das durfte nicht wahr sein, bei aller Liebe zur Reinlichkeit.

An Schlaf war nicht mehr zu denken. Unter dem an- und abschwellenden Brummen des Staubsaugers kleidete sie sich an und ging zum Badezimmer. Eine ältere Frau mit einem langen Staubwedel kreuzte ihren Weg. »Guten Morgen«, grüßte sie freundlich.

»Morgen«, maulte Lisa. Im Bad tauchte sie ihr Gesicht in kaltes Wasser. Heute war sie im falschen Film aufgewacht.

»Guten Morgen«, tönte es vielstimmig, als sie das Speisezimmer betrat. Ungläubig starrte sie auf ihre Kollegen, die putzmunter um den Tisch saßen und ein gemeines Grinsen im Gesicht hatten.

»Was hat das zu bedeuten?«

»Wir sind Opfer der Heiligen Familie«, grinste Thomas.

»Was?«

»Jeden Mittwoch und Freitag überfällt sie unser Schloss.«

»Wer?«

»Als Kunsthistorikerin müsstest du eigentlich wissen, wer die Heilige Familie ist«, ließ sich Neuburg vernehmen.

Lisa warf ihm einen übellaunigen Blick zu.

»Thomas meint Anna, Maria und den heiligen Jesusknaben, nur dass der Knabe Jonas heißt und ziemlich unheilig ist.«

»Joseph fehlt«, knurrte Lisa.

»Wer?«

»In der Heiligen Familie fehlt der Joseph. Ihr meint Anna selbdritt.«

»Was?«, schallte es synchron zurück.

»Schon gut. Man kann nicht alles wissen.«

»Gewiss, kleine Lerche«, frotzelte Thomas.

Lisa verzog das Gesicht.

»Ich brauche sofort eine Tasse Kaffee.«

Jean-Pierre schenkte ihr ein. »Die netten Damen machen im Schloss sauber.«

So weit war Lisa auch schon in ihren Überlegungen gekommen. »Ihr hättet mich warnen können«, beschwerte sie sich, konnte aber beim Anblick der feixenden Kollegen nicht wirklich böse sein.

»Gott, bin ich müde!« Lisa gähnte ungeniert. »Können die guten Frauen denn nicht später putzen? Muss das mitten in der Nacht sein? Oder können sie nicht zumindest auf einem anderen Stockwerk beginnen?«

»Sie reinigen jede Woche ein anderes Stockwerk. Nächste Woche kannst du wieder länger schlafen«, tröstete sie Jean-Pierre.

***

Nach dem Frühstück gingen sie mehr oder minder wach an ihre Arbeit. Doch nur zwei Stunden später trafen sich Jean-Pierre und Steffen zu einem Kaffeepäuschen in Lisas Büro. Jean-Pierre sah noch am muntersten von ihnen dreien aus. Er saß auf Lisas Schreibtisch und ließ die Beine baumeln. Steffen hatte seine langen Glieder wie ein Klappmesser in Lisas Stuhl gefaltet und beschäftigte sich mit seinem Smartphone. Ohne digitale Ausrüstung tat er keinen Schritt. Er war schon ein echter Freak.

»Was spielst du denn die ganze Zeit mit dem Ding rum, Steffen?«

»Ich spiele nicht, ich muss etwas überprüfen.«

»In deinem Handy?«

»Tz, auf meinem Computer.«

»Du überprüfst deinen Computer über dein Handy?«

»Hm.«

»Toll.« Lisa war beeindruckt.

Beeindruckt war sie auch von Steffens Büro gewesen, als sie es das erste Mal betreten hatte. Technik überall. Mehrere Monitore samt den dazugehörigen Rechnern verteilten sich gleichmäßig über alle waagerechten Flächen, einschließlich des Fußbodens. Auf Steffens Schreibtisch standen gleich zwei mindestens 23-Zoll-Monitore, assistiert von einem Notebook und einem Tablet. Zwei Smartphones lagen daneben und allerlei anderes Gerät, das sie nicht identifizieren konnte. Ein großer, blinkender Kasten summte in einer Ecke leise vor sich hin, der Server, hatte Steffen ihr erklärt. Die vielen farbigen Kabel, die über den Fußboden krochen, ließen jeden Schritt zum Wagnis werden.

»Ich habe nicht richtig verstanden, was ALINDOR eigentlich macht«, bekannte Lisa. »Marc hat irgendetwas von Sicherheit erzählt.«

»Lies die Infos auf unserer Website.«

»Das habe ich doch«, erwiderte sie ungehalten. »Was da steht, kapiert doch kein Normalsterblicher.«

Steffen grinste.

»Also, womit beschäftigt sich ALINDOR?«

»Mit IT-Sicherheit. Wir beschützen die Guten vor den Bösen. Wir entwickeln Sicherheitstechnologien für Unternehmen gegen den unbefugten Zugriff auf ihre IT-Infrastruktur. Kryptographie heißt das Zauberwort, Verschlüsselung zum Schutz sensibler Unternehmensdaten.«

»Toll«, wiederholte Lisa.

Steffen nickte stolz. »Es ist ein bisschen wie Räuber und Gendarm spielen. Wir müssen den Räubern stets einen Schritt voraus sein, damit sie keinen Schaden anrichten können.«

»Klingt spannend.«

»Ist es auch.«

»Und seid ihr gute Gendarmen?«

»Davon kannst du ausgehen. Wir sind vom BSI zertifiziert worden.«

»Toll«, sagte sie zum dritten Mal, wenngleich ihr nicht so recht klar war, was das bedeutete.

»Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik«, erklärte er ihr.

»Ah ja.«

»Und was machen wir am Wochenende?«, fragte Steffen in die Runde.

Wochenende! Wie schnell ihre erste Woche im Schloss vergangen war, dachte Lisa. Und keine Sekunde hatte sie sich einsam gefühlt. Es gefiel ihr in der Gemeinschaft der Schlossbewohner. Steffen, Jean-Pierre und sie hatten fast jeden Abend miteinander verbracht, einmal hatten sich auch Thomas und Neuburg zu ihnen gesellt. Im ersten Stock gab es ein Fernsehzimmer, doch saßen sie lieber in der Bibliothek und unterhielten sich, oder sie spielten Backgammon, in früheren Zeiten nannte man es Tricktrack, auf dem antiken Spieltisch.

Britta wohnte zum Glück nicht im Schloss, so dass Lisa ihren Anblick nur tagsüber ertragen musste. Sie und auch Charlotte lebten im Dorf bei ihren Eltern.

Leni Freudenberg und ihr Mann Alfred, Lisa hatte ihn bislang nur einmal zu Gesicht bekommen, hatten ihre Wohnung im Erdgeschoss des Anbaus und zogen sich abends dorthin zurück.

Besonders erleichtert war Lisa, dass der alte Graf sich selten blicken ließ. Das Pochen seines Stockes kündigte ihn von weitem an, so dass sie rechtzeitig die Flucht ergreifen konnte. Das war zwar feige, aber besser, als sich den Tag verderben zu lassen.

»Ja, was machen wir? Nach Hause will ich dieses Wochenende nicht fahren«, verkündete Lisa. »Ihr etwa?«

Beide schüttelten den Kopf.

»Woher kommst du eigentlich, Steffen?«

»Von der Nordseeküste«, intonierte er die ersten Takte des alten Schlagers.

»Das ist weit weg. Und wie lange arbeitest du schon im Schloss?«

»Fast fünf Jahre.«

»Und du, Jean-Pierre?«

»Erst vier Monate. Ich mache ein einjähriges Praktikum bei ALINDOR.«

»Wo warst du denn davor?«

»Zu Hause, in Paris.«

»Und wie bist du ausgerechnet nach Schöntal gekommen?«

»Mein Onkel hat mir die Stelle besorgt. Er kennt Marc.«

»Dein Onkel in Paris?«

»Nein, er wohnt in der Stadt.«

»Ach«, kommentierte Lisa erstaunt. »Dann kannst du ihn oft besuchen.«

Jean-Pierre nickte.

»Was machen denn die anderen am Wochenende? Marc zum Beispiel?«, fragte sie wie beiläufig, während ihre Hände ziellos Papiere auf ihrem Schreibtisch hin- und herschoben.

»Marc fährt manchmal am Wochenende in die Stadt«, wusste Steffen zu berichten.

»Und was macht er dort?« Lisa hasste sich für ihre verliebte Neugier und hoffte nur, dass die beiden sie nicht bemerkten.

Steffen zuckte mit den Schultern. »Weiß ich auch nicht.«

»Vielleicht l’amour«, zwinkerte Jean-Pierre ihr zu. Lisa musste schlucken. Das war das Letzte, was sie hören wollte.

»Also Jungs, was unternehmen wir am Wochenende?«

»Wir reiten!«

***

Sobald Lisa den Stall betrat, bereute sie ihre spontane Zusage. Marc hatte Steffen von ihren Reitkünsten erzählt. Und Steffen war hocherfreut über einen möglichen Reitpartner gewesen. Denn außer ihm und Marc konnte keiner im Schloss reiten oder wollte es erlernen.

Jean-Pierre hatte sich bisher allen Überredungsversuchen von Steffen widersetzt. »Ich habe eine Allerschie«, war sein Argument.

»Du hast keine Allerschie, du hast Angst«, verspottete ihn Steffen. Lisa zuliebe wollte Jean-Pierre jedoch beim Reiten zuschauen.

Und hier stand sie nun, in geliehenen Reithosen und ebensolchen Stiefeln. Die Bekleidung hatte Steffen für sie besorgt, woher wusste sie nicht. Hose wie auch Stiefel waren zu groß. Die Reithose konnte sie mit einem Gürtel vom Rutschen abhalten. Und ihre Füße passten erst mit zwei Paar übereinandergezogenen Socken in die Stiefel. Sportlich sah anders aus! Mit leicht mulmigem Gefühl beäugte Lisa die Pferde.

Der Stall lag, wie sie vermutet hatte, in einem der beiden Nebengebäude. Er war rechtwinklig gebaut. Man betrat ihn durch das große Flügeltor an der Stirnseite. In diesem vorderen Teil zu Seiten des Mittelgangs waren vier Pferde untergebracht. Lisa ging die Boxen ab. Eines der Pferde, braun mit weißer Blässe auf der Stirn, reckte neugierig seinen Kopf über das Gitter.

»Das ist Sabrina«, stellte Steffen vor, »mein Lieblingspferd.« »Guten Morgen, meine Schöne«, hörte sie ihn flüstern. »Geht es dir gut?« Er strich dem Pferd über die Nüstern, fischte dann ein Stück Zucker aus seiner Reithose und hielt es Lisa hin. »Möchtest du ihr Zucker geben?«

Lisa bot der Stute das Zuckerstück an und genoss das Gefühl des weichen Pferdemauls auf ihrer Hand.

»Und jetzt du, Jean-Pierre.«

»Non, non«, wehrte der erschrocken ab. »Das mache ich nicht.«

»Du musst das Zuckerstück auf die flache Hand legen«, redete Lisa ihm gut zu. »Dann kann überhaupt nichts passieren.«

Widerstrebend nahm Jean-Pierre den Zucker. Seine ausgestreckte Hand näherte sich langsam dem Pferdemaul. Sabrina begann ungeduldig den Kopf zu schütteln, trat fordernd die Hufe gegen die Boxenwand, worauf die anderen Pferde sofort in das Schlagen einfielen und einen Heidenlärm veranstalteten.

»Was ist hier los?«, übertönte Alfred Freudenbergs kräftige Stimme den Krach. »Macht mir bloß die Pferde nicht scheu«, warnte er mit finsterer Miene.

»Keine Sorge«, rief Steffen, woraufhin Alfred langsam wieder um die Stallecke verschwand.

»Was tut der denn hier?«, fragte Lisa.

»Alfred scheint sich für alles im Schloss verantwortlich zu fühlen. Offiziell ist er der Hausmeister. Aber er arbeitet auch als Gärtner und als Chauffeur. Und um die Pferde will er sich wohl neuerdings auch noch kümmern, obwohl das Ollis Aufgabe ist«, knurrte Steffen.

»Jetzt stelle ich dir die anderen Pferde vor. Das ist Lord, ein gutes Reitpferd, sehr weich im Gang. Hier haben wir Pedro. Vor dem würde ich mich in Acht nehmen. Er schlägt manchmal aus. Marc ist der Einzige, der ihn reitet.«

»Du nicht?«

»Nein, die Anstrengung erspare ich mir lieber. Ich habe einmal auf dem Gaul gesessen. Er läuft hart wie Holz. Pedro ist schon älter. Bald wird er wohl sein Gnadenbrot bekommen.«

»Was ist Gnadenbrot?«, wollte Jean-Pierre wissen. Die ganze Zeit hatte er sich exakt auf einer imaginären Mittellinie im Gang bewegt, um ja keiner Box zu nahe zu kommen. Steffen und Lisa unterdrückten mühsam ihr Lachen.

»Pedro geht bald in Pferderente. Das bedeutet es.«

»Aha.« Jean-Pierre guckte eher verwirrt als verstehend.

»Für dich, liebe Lisa, habe ich heute den kleinen Tom ausgewählt.«

»Wo ist Tom?«

»Tom steht nebenan.«

Sie gingen bis zum Ende des Ganges, bogen rechts ab und gelangten in einen kleineren Raum, in dem zwei Pferde untergebracht waren.

»Das ist Tom!«

Lisa blieb ruckartig stehen. Das musste eine Verwechslung sein! Vor ihr ragte das größte Pferd in die Höhe, das sie jemals gesehen hatte. Stockmaß? Zehn Meter mindestens! Ungläubig drehte sie sich nach Steffen um. Doch der hatte sich abgewandt. Seine Schultern zuckten krampfartig. Da wusste sie Bescheid.

»Du gemeiner Kerl«, schrie sie und schlug mit beiden Händen auf seinen Rücken. Steffen sank, lauthals lachend, auf einen Ballen Heu. Um Lisas Mundwinkel begann es zu zittern. Sie konnte nicht anders, sie prustete los und fiel neben ihn ins Heu. Sie lachten, bis ihnen der Bauch weh tat.

»Jetzt aber mal im Ernst«, keuchte Steffen schließlich. »Tom ist zwar groß, aber eine Seele von einem Pferd, sehr ruhig, nicht schreckhaft, ohne Tücke. Tom ist ein Wallach. Die sind friedlich. Du kannst ihm vertrauen. Für deine erste Reitstunde nach vielen Jahren ist Tom am besten geeignet.«

»Okay«, willigte Lisa ein. »Aber ich brauche eine Leiter, um in den Sattel zu kommen.«

»Kein Problem. Jean-Pierre und ich werden dich auf Händen tragen.«

»Das will ich sehen!«

Steffen führte sie in die Sattelkammer, die vom kleinen Stall abging. Inmitten des Raumes saß Alfred mit einem Sattel auf den Knien, den er mit Hingabe wichste. Er schaute nicht auf.

Verschiedene Sättel hingen an Haken, beschriftet mit den Namen der Pferde. Steffen hob den Sattel von Tom herunter, wie an anderer Stelle das mit Tom markierte Zaumzeug.

In einer Ecke der Sattelkammer auf einem hohen Stapel Pferdedecken lag, behaglich eingerollt, eine schwarze Katze und beobachtete sie mit trägem Blick.

»Das ist Pollock«, machte Steffen bekannt, »der Schlosskater.«

Die Katze blinzelte zustimmend. Lisa fand den Namen äußerst passend, denn Pollock sah aus, als hätte ihn ein Farbpinsel gestreift. Weiße Kleckse verteilten sich willkürlich über sein schwarz-braunes Fell und endeten in einem Punkt auf der Schwanzspitze, die unruhig zuckte.

»Weg mit dir!« Steffen schubste den Kater zu Boden, der fauchend aus der Kammer flitzte. Dann nahm er eine der Pferdedecken vom Stapel und trug alles zu Toms Box.

»Öffne die Tür«, wies er Lisa an. Der Wallach ahnte bereits, dass er seiner Box entkommen konnte, und drängte gegen das Gitter.

»Hoooooh«, beruhigte Steffen das Pferd. Er betrat die Box und hatte Tom innerhalb kürzester Zeit das Zaumzeug angelegt. Lisa drückte er die Zügel in die Hand und befahl ihr, das Pferd aus dem Stall zu führen.

Mit klappernden Hufen setzte sich Tom in Bewegung. Sie führte ihn nach draußen und brachte ihn zum Stehen. Steffen folgte mit der Decke und dem Sattel. Nachdem er das Pferd gesattelt hatte, schaute er Lisa auffordernd an. »Los, aufsitzen!«

»Du hast schon die typische Kommandosprache der Reitlehrer drauf«, meckerte sie.

Er zog nur den Mund schief.

Zaudernd sah Lisa zuerst Steffen und dann das Pferd an. Die Steigbügel hingen allenfalls bis zu ihrer Schulter herab. Nie und nimmer könnte sie ihr Bein so hoch schwingen.

»Du musst mir helfen oder eine Leiter holen«, verlangte sie. »Das mit der Leiter war mein Ernst. Sonst komme ich nie da hoch.«

»Wir machen Räuberleiter.«

Er ging leicht in die Hocke und verschränkte die Hände vor dem Körper. Mit dem Rücken lehnte er sich gegen die Flanke des Pferdes. Die ganze Konstruktion kam Lisa ziemlich wacklig vor.

»Was, wenn das Pferd sich bewegt, wenn ich gerade aufsitzen will?«

»Der bewegt sich nicht.«

»Und wenn doch?«

Steffen stöhnte. »Jean-Pierre, halt den Gaul fest.«

»Nein, das kann ich nicht«, weigerte der sich erschrocken und ging vorsichtshalber drei Schritte rückwärts.

»Angsthase«, murmelte Steffen. »Also, was ist jetzt? Willst du reiten oder nicht?«

Lisa nickte bloß. Sie fand sich ziemlich feige, besonders deshalb, weil ihr der Ruf vorausgegangen war, reiten zu können.

»Also gut, auf geht’s«, spornte sie sich an, stützte sich auf Steffens Schultern, stellte einen Fuß in seine Hände, wippte zwei-, dreimal mit dem Standbein und lag – schwups – mit dem Bauch auf dem Pferderücken.

»Geht doch«, grinste Steffen.

Er umfasste ihre Beine und drehte sie wie einen Uhrzeiger auf dem Pferderücken, bis sie in Reitrichtung lag. Den Rest konnte sie allein besorgen. Sie richtete sich auf und schaute ziemlich verlegen drein. Das war weiß Gott kein elegantes Aufsitzen gewesen.

»Ich werde dich zunächst einige Runden an der langen Leine gehen lassen«, bestimmte Steffen zu ihrer Erleichterung. »Mal sehen, wie du dich machst! Ich hole schnell die Longe. Bin sofort zurück. Beweg dich nicht von der Stelle«, rief er ihr im Weglaufen zu.

Das war leichter gesagt als getan, denn Tom setzte sich unverzüglich in Bewegung. Lisa nahm die Zügel kürzer und arbeitete mit den Schenkeln, was das Pferd nicht zu kümmern schien. Es trottete behäbig um die Ecke des Stallgebäudes, und Lisa blickte auf den Reitplatz, der direkt dahinter lag. Das Pferd kannte seinen Weg. Erst kurz vor dem Gatter kam es zum Stehen. Lisa atmete tief durch.

»Bravo, oben geblieben«, lobte sie Steffen. »Und sogar den Weg gefunden!«

»Das war wohl eher das Pferd.«

»Jetzt geht’s los, jetzt geht’s los!«, sang Steffen in Fußballermanier und schwang die lange Peitsche. Tom wurde unruhig. Steffen befestigte die Longe am Zaumzeug. Dann öffnete er das Gatter. Sofort setzte sich Tom in Bewegung.

»In die Mitte. Zügel straffen, Rücken gerade, Schenkel anlegen und ab!« Ein paar Runden drehten sie gemächlich im Schritt, bis Steffen abermals die Stimme hob. »Uuuuund los«, ertönte das Kommando, das das Pferd sofort kapierte, Lisa eher nicht. Tom fiel in holprigen Trab, und Lisa holperte mit.

»Einsitzen«, brüllte Steffen, »einsitzen! Schenkel anlegen, Hände zusammenlassen.«

Dass Reitlehrer immer so brüllen müssen. Ich bin doch nicht taub. In Lisa kamen Erinnerungen an ihre ersten Reitstunden hoch. Sie fühlte sich genauso unbeholfen wie damals.

»Uuuuund schneller!«

Tom legte einen kleinen Galoppschritt ein, der Lisa einen halben Meter im Sattel hochfliegen ließ.

»Einsitzen«, folgte augenblicklich die gebrüllte Ermahnung. Ja doch, verflucht noch mal, schimpfte sie still vor sich hin. Sie drückte ihr Hinterteil in den Sattel.

»Besser«, schallte es herüber. »Rücken gerade, Schenkel«, ertönte es eine Oktave höher, »einsitzen uuuund Galopp!«

Schwerfällig wechselte das gehorsame Pferd den Gang. Lisa presste die Schenkel an, spannte den Rücken und hielt die Hände eng beieinander. Und plötzlich war es wieder da, dieses Gefühl für den Rhythmus. Immer besser hielt sie sich im Sattel, verschmolz mehr und mehr mit der Bewegung des Pferdes. Der Wind strich ihr über das Gesicht. Sie nahm ihre Umgebung wahr, ja konnte sogar Jean-Pierre zuwinken, der sich hinter das Gatter verzogen hatte. Ein lang vergessenes Glücksgefühl stieg in ihr hoch, ließ ihre Augen erstrahlen und ihre Wangen glühen. Reiten war wunderbar!

Steffens Stimme verstummte nach und nach. Runde um Runde drehten sie im Kreis, bis endlich ein langgezogenes Hoooooh ertönte und Steffen den Wallach langsam zum Stehen brachte.

»Das war gar nicht mal so schlecht«, lobte er nach Reitlehrerart. »Reiten ist wie Fahrradfahren. Das verlernt man nicht.«

Lisa strahlte ihn vom Rücken des Pferdes herab an. »Es war phantastisch.«

Sie spürte, wie der Schweiß ihr Gesicht kühlte. Sie fuhr sich durch das verwuselte Haar. Überschwänglich klopfte sie Tom auf den Hals. »Braves Pferd, gutes Tier.«

Da hörte sie das Klatschen. »Bravo!« Sie hatte Zuschauer bekommen. Marc und Oliver lehnten am Gatter. Jetzt nur noch einigermaßen sportlich aus dem Sattel kommen. Sie schwang ein Bein über den Rücken des Pferdes. Doch sie hätte sich nicht zu sorgen brauchen. Marc stand, ganz Kavalier, neben dem Pferd und fing sie auf. Sie spürte seine starken Arme um ihre Taille, fühlte, wie sie an seinem Körper zu Boden rutschte.

»Das war eine sehr gute Vorstellung«, lobte er sie. »Ich freue mich schon auf unsere gemeinsamen Ausritte. Aber setz bitte einen Helm auf, Goldlöckchen. Damit du dir nicht dein hübsches Hälschen brichst!«

Zuckersüß klangen seine Worte in ihren Ohren. Sie fühlte sich großartig!

»Na, dann wollen wir mal absatteln«, sagte Steffen. Sie hätte ihn beinahe vergessen. »Du bist ein sehr guter Reitlehrer!«, bedankte sie sich.

»Das nächste Mal reiten wir aus«, versprach er, und Lisa nickte selig.

Kapitel 7

»Was machst du?«, fragte Jean-Pierre. Sie beugten sich über ein Gemälde, das vor ihnen auf dem breiten Arbeitstisch lag. Lisa hatte eine riesige Lupe in der Hand und bewegte sie langsam über die Bildfläche, die von einer hell leuchtenden Lampe angestrahlt wurde.

»Ich untersuche die Bildstruktur«, antwortete sie. »Ich schaue mir jeden Quadratzentimeter der Malschicht an, ob sich etwa Risse gebildet haben, die sogenannten Craquelés, ein französisches Fachwort, wie du bemerkt hast. Ich will auch wissen, ob die Oberfläche verschmutzt ist, was bei dem Alter des Bildes eigentlich natürlich wäre, wenn es nicht zuvor schon einmal gereinigt worden ist. Auch kann ich den Pinselduktus besser erkennen, der mir vielleicht etwas über den Maler verrät.«

»Was ist das?«

»Der Duktus ist praktisch die Handschrift des Künstlers. Und sie ist bei jedem Maler anders. Ein wichtiges Indiz bei der Zuschreibung. Schau mal durch die Lupe. Siehst du die Pinselstriche? Sie sind nicht so ausgeprägt wie in späteren Epochen der Malerei, etwa im Impressionismus. In der barocken Malerei stand die Illusion im Vordergrund. Die hätten sichtbare Pinselstriche zerstört.«

Wieder ein Familienporträt. Diesmal hatte es der Maler den Betrachtern leichtgemacht und sowohl das Entstehungsdatum, 1669, als auch den Namen des Porträtierten, IOannes v. Alnohr, vermerkt.

IOannes v. Alnohr war in der Blüte seiner Jahre dargestellt worden, die zu jener Zeit wesentlich früher lag als heute. Lisa schätzte sein Alter auf höchstens vierzig Jahre. Das Leben hatte es offensichtlich gut mit ihm gemeint, denn er war sehr beleibt, wie es so schön hieß, und gut gekleidet. Unter dem pelzverbrämten Mantel trug er ein mit Goldfäden besticktes Wams, darunter ein weißes Hemd, dessen reich mit Spitzen verzierter Kragen das Haupt wie ein Juwel fasste. Langes, braunes Haar fiel ihm bis auf die Schultern. Mit erhobenem Kinn blickte er stolz aus dem Rahmen.

»Meinst du, der Maler war Franzose?«, fragte Jean-Pierre.

»Warum?«

»Weil er kein«, er holte tief Luft, »H sprechen konnte.«

Lisa sah ihn verständnislos an, begriff dann, was er meinte, und fing an zu lachen.

»Du meinst, weil das H in Johannes fehlt?«

Er nickte ernsthaft, aber der Schalk blitzte aus seinen Augen.

»Ich kann deine Hypothese gern mit in meine wissenschaftliche Dokumentation aufnehmen.«

»Er war ein hässlicher Mann«, stellte Jean-Pierre fest.

»Das war er«, stimmte sie ihm zu. »Aber sind sie nicht alle hässlich?«

Die meisten der Familienporträts hingen im dritten Stock, wo kaum ein Mensch hinkam. Der dritte Stock wurde praktisch nicht genutzt. Seine zahlreichen Zimmer standen überwiegend leer. Mit gutem Grund hingen die Bilder dort, dachte Lisa. So viele unansehnliche Vorfahren konnte keiner ertragen. Sie dachte an Marc. Wann war die Schönheit in die Familie gekommen?

Sie richtete sich auf und drehte das Gemälde vorsichtig um. Die grobe Leinwand auf der Rückseite war wie erwartet ziemlich verschmutzt.

»Siehst du die doppellagigen Enden der Leinwand?«, fragte sie und zupfte an den Kanten, die unter dem Bilderrahmen hervorlugten.

»Was bedeutet das?«

»Die Leinwand ist doubliert. Das heißt, sie wurde in der Vergangenheit durch eine zweite Leinwand verstärkt. Das macht man immer dann, wenn die ursprüngliche bemalte Leinwand schadhaft oder porös geworden ist.«

Verschiedene vergilbte und teilweise abgerissene Etiketten klebten auf der Rückseite, dazu gab es Beschriftungen mit Bleistift. Sie waren verblasst und kaum mehr lesbar.

»Was steht da?«

»Es ist schwer zu entziffern.« Lisa griff nach der Lupe.

»Das könnte Ausstellung heißen«, murmelte sie. »Da steht auch noch eine Zahl!«

»Ist das die Datierung?«

»Nein, das kann nicht sein. Es sieht eher nach 19 und noch was aus.«

»Dann ist das Gemälde eine Fälschung?«, stieß Jean-Pierre aufgeregt hervor.

»Aber nein, wie kommst du denn darauf?«

»Na ja, wenn auf der Vorderseite 16 und sowieso steht und hinten 19 und sowieso, dann stimmt doch etwas nicht.«

»Doch, doch. Schau mal, das Wort Ausstellung, kannst du das lesen? Die Beschriftung bedeutet sehr wahrscheinlich, dass das Gemälde irgendwann 1900 und was auf einer Ausstellung gezeigt wurde. Vielleicht kann ich Näheres bei der Archivrecherche herausfinden.«

Jean-Pierre fixierte die Beschriftung. Seine Lippen bewegten sich lautlos. Er buchstabierte wie ein Erstklässler. Lisa musste schmunzeln.

»Streng dich nicht an. Das ist die deutsche Fraktur. Quasi die Druckschrift der Zeit. Siehst du an diesem Buchstaben die Striche? Sie sehen wie gebrochen aus. Die Buchstaben haben Frakturen!«

»Und ich habe Hunger«, sagte Jean-Pierre.

Lisa sah auf ihre Armbanduhr. »Wir müssen noch eine halbe Stunde warten. Möchtest du einen Keks?«

Das Mittagessen wurde pünktlich um ein Uhr serviert. Für Jean-Pierre wie auch für Lisa war es ein Quell täglicher Freude. Leni Freudenberg war eine ausgezeichnete Köchin. Lisa wurde nicht müde, Lenis Kochkünste zu loben. Seitdem hatte sie einen Stein bei ihr im Brett.

»Hilfst du mir nach dem Essen, das große Gemälde hinunterzutragen?«

Jean-Pierre war zu Lisas zeitweiligem Assistenten ernannt worden, und er machte seine Sache gut. Lisas Arbeit schien ihn ernsthaft zu interessieren. Er stellte ihr viele Fragen, die sie gern beantwortete. Als Mediengestalter hatte er zudem künstlerisches Verständnis, so dass Lisa mit ihm reden konnte, ohne ständig nervtötende Erklärungen abgeben zu müssen. Ich wäre keine geduldige Lehrerin gewesen, dachte sie nicht zum ersten Mal. Schließlich dröhnte der Gong durch das alte Gemäuer. Mittagszeit!

»Endlich, ich bin fast verhungert«, stöhnte Jean-Pierre nach Kinderart. Und wie die Fließbandarbeiter ließen alle Schlossbewohner ihre Arbeit stehen und liegen und eilten zum Speisezimmer.

»Kommst du?«, rief Jean-Pierre.

»Gleich, ich gebe nur noch schnell die Daten des Gemäldes in den Computer ein.«

Sie setzte sich vor den Computer und öffnete die Maske der Datenbank, füllte die Eingabezeilen mit den Maßen, der Maltechnik, der Beschriftung des französischen Malers, hier musste sie wieder schmunzeln, und dem Erhaltungszustand. Sie vermerkte auch die Anzahl der rückseitigen Beschriftungen und Etiketten und notierte die Wörter, die sie lesen konnte. Nach dem Mittagessen wollte sie noch ein Foto des Gemäldes machen und in die Datenbank einfügen. Das Gemälde stellte sie behutsam mit der Bildfläche an die Wand, bevor sie die Bürotür schloss und den anderen folgte.

Auf dem Flur stieß sie mit Marc und Thomas zusammen. Die beiden diskutierten laut und lebhaft miteinander. Wie jedes Mal  machte ihr Herz bei Marcs Anblick einen Freudenhüpfer. Sie suchte seinen Blick, doch er schien sie gar nicht zu bemerken. Im Gegensatz zu Thomas, der ihr zulächelte. So trottete Lisa hinter den beiden her und wurde ungewollt Zeuge ihres Gesprächs. Marc schien aufgebracht, nein, Marc war stinkwütend.

»Du kannst doch nicht einfach eine Zusage geben ohne mein Einverständnis! Zum Teufel noch mal, was hast du dir dabei gedacht?« – hörte sie ihn fluchen.

So hatte sie ihn noch nie erlebt. Sie verlangsamte ihren Schritt. Sie wollte nicht lauschen. Das erschien ihr nicht richtig. Am oberen Treppenabsatz machte sie halt.

»Ich habe deine Eigenmächtigkeiten satt«, brüllte Marc und stürmte zur Haustür hinaus, die sperrangelweit offen blieb. Thomas hingegen begab sich gelassen ins Speisezimmer. Lisa stieg langsam die Stufen hinunter. Marcs Wutausbruch hatte sie erschreckt. Leise schloss sie die Haustür.

Im Speisezimmer herrschte peinliche Stille. Und sie saßen stumm um den Tisch herum, dichtete Lisa frei vor sich hin.

Die anderen sahen sie fragend an. Lisa zuckte mit den Schultern. Sie warf einen Blick auf Thomas, doch sein Gesicht war verschlossen. Sie ließ sich auf ihrem Platz zwischen Steffen und Jean-Pierre nieder. Leni Freudenberg trug die Terrine herein und füllte ihre Teller. Schweigend aßen sie ihre Suppe. Nur das leise Klirren der Löffel war zu hören.

Gewöhnlich unterhielten sie sich am Mittagstisch miteinander. Sie sprachen viel über die Arbeit, auch über Gott und die Welt, und Steffen wie Jean-Pierre sorgten mit ihren Späßen für eine heitere Stimmung. Lisa war froh, dass weder Britta noch der alte Graf mit ihnen aßen. Britta gehörte zu jener unleidlichen Spezies von Zeitgenossen, die ständig Diät hielten und den anderen den Appetit verdarben. Deinen dicken Hintern kriegst du doch nie los, feixte Lisa im Stillen.

Der Alte, wie sie ihn für sich nannte, aß immer in seinen Gemächern, er sagte tatsächlich Gemächer!

»Jean-Pierre, hilfst du mir nach dem Essen mit dem riesigen Gemälde?«, wiederholte Lisa mit Absicht ihre Frage von vorhin. Sie fühlte sich unwohl und wollte die ungute Stimmung durchbrechen.

»Das Gemälde ist sehr groß. Ich glaube, das schaffen wir beide allein nicht. Steffen, hast du Zeit?«

»Nicht sofort, aber am Abend. Alexander und ich fahren gleich nach dem Essen in die Stadt. Wir haben dort einen geschäftlichen Termin.«

»Ich werde euch helfen«, sagte Thomas. Alle starrten ihn an.

»Welches Bild ist es denn?«

»Das Ganzkörperporträt am Ende des Ganges im dritten Stock. Es ist das letzte der männlichen Porträts. Danach sind die Männer abgehakt«, erläuterte Lisa.

»Das will ich doch nicht hoffen«, grinste Thomas.

Lisa spürte, wie sie unter seinem Blick errötete. Warum klangen seine Bemerkungen immer anzüglich? »Die Gemälde«, entgegnete sie einfallslos. »Ich meine die Gemälde.«

Thomas lachte, und die anderen atmeten erleichtert auf.

Leni und Charlotte servierten den Hauptgang. Der Braten wurde in die Mitte des Tisches gestellt. Charlotte platzierte Schüsseln mit Kroketten und Gemüse, mit Salat und Obst daneben. Der köstliche Duft der Speisen erfüllte den Raum. Lisa lief das Wasser im Mund zusammen.

Eigentlich hätte ich es nicht besser treffen können, dachte sie, während sie ihren Teller füllte. Ich lebe wie in einem Hotel, in einem Fünf-Sterne-Hotel. Leckeres Essen, Zimmerservice, genügend Freizeit, herrliche Urlaubsumgebung, Herz, was willst du mehr!

Das Herz will immer mehr, ging es ihr durch den Kopf. Das Herz will was fürs Herz. Wo mochte Marc sein?

Ihre lautlose Frage wurde unmittelbar beantwortet, als Marc wie ein apokalyptischer Reiter an den Fenstern des Speisezimmers vorbeijagte.

»Marc reitet spazieren«, sagte Jean-Pierre, und alle lachten.

***

Lisa verschränkte die Arme hinter dem Kopf und streckte sich. Sie war verspannt, ihr Rücken schmerzte. Den ganzen Nachmittag hatte sie sich über das große Porträt gebeugt und durch die Lupe die Bildoberfläche inspiziert.

Das war eine Aktion gewesen, das schwere Gemälde nach unten zu bugsieren. Mit vereinten Kräften, die wenigen von Britta waren noch hinzugekommen, hatten sie es geschafft. Britta konnte es sich natürlich nicht verkneifen zu meckern.

»Warum soll der alte Schinken unbedingt in dein Büro? Reicht es nicht, wenn du das Bild an seinem Platz begutachtest? Du misst doch nur die Höhe und Breite aus. Das ist wohl keine große Sache.«

Lisa hatte die Zähne zusammengebissen und geschwiegen. Nicht zum ersten Mal begegnete ihr diese Ignoranz.

Recherche, Quellenstudium, stilistische Zuordnung, ja auch die Ermittlung der Maße und Techniken bündelten sich zu dem, was man wissenschaftliche Arbeit nannte. Schlichten Gemütern wie Britta dies begreiflich zu machen, das war nicht eben leicht.

Sie seufzte und schaute auf die Uhr. Halb sechs. Sie konnte Schluss machen für heute. Bis zum Abendessen war noch Zeit. Von sieben bis neun Uhr abends wurde ein Büfett im Speisezimmer aufgebaut, das Gleiche geschah morgens zum Frühstück, und jeder ging essen, wann es ihm beliebte und wann immer er Hunger verspürte. Lisa hatte meistens schon um sieben Uhr abends Hunger, nicht selten noch einmal um neun. Du bist richtig verfressen, musste sie sich eingestehen. Vorher wollte sie sich noch frisch machen und danach mit Caro telefonieren.

Sie legte eine Decke über das gewaltige Gemälde auf dem Arbeitstisch. Dann fuhr sie den Computer herunter, knipste die Arbeitslampe aus, schloss das Fenster, das wegen des schönen Frühlingswetters den ganzen Nachmittag offen gestanden hatte, und zog die Tür hinter sich zu.

Sie ging die drei Schritte bis zum Anfang des Flurs, als ihr der Gedanke kam, noch kurz in der Küche vorbeizuschauen. Sie war durstig.

Der Schlossanbau, der früher das Dienstpersonal beherbergt hatte und heute die Angestellten, besaß ein eigenes Treppenhaus, über das man direkt in die Küche gelangte. Der andere Weg führte den Gang an den Zimmern der Mitarbeiter entlang, die Prunktreppe hinab in die Halle und von da durch eine Tür hinter der Treppe hinunter in die Küche.

Lisa zog den längeren, weil schöneren Weg über die Prunktreppe gewöhnlich vor, doch jetzt öffnete sie die Tür zur Küchentreppe. Der Duft des Abendessens strich um ihre Nase. Leni kochte!

In der Regel gab es abends nur kalte Speisen, doch wenn Leni Freudenberg die Kochlust überkam, zauberte sie den Schlossbewohnern eine warme Mahlzeit.

Sie hörte Charlottes helle Stimme, als sie die Treppe hinabstieg, und auch ihre Worte. Charlotte tratschte. Lisa hielt inne. Der Lauscher an der Wand kam ihr in den Sinn, als sie auch schon ihren Namen hörte.

»Thomas scheint in Lisa verknallt zu sein«, verkündete Charlotte, »und Britta stirbt vor Eifersucht. Sie ist noch unerträglicher als gewöhnlich.«

Diese Beobachtung Charlottes verblüffte Lisa dann doch gewaltig. Thomas in sie …? Nie und nimmer. Das hätte sie doch bemerkt! Leise stieg sie die Stufen wieder hinauf, nur um mit laut klappernden Absätzen ihr Kommen anzukündigen.

»Hallo«, grüßte sie. »Meine Kehle ist trocken vom Staub der Vergangenheit. Kann ich etwas zu trinken bekommen?«

Frau Freudenberg musterte sie argwöhnisch. »Ich habe frisch gepressten Orangensaft im Kühlschrank stehen. Bedienen Sie sich.«

Die beiden Frauen arbeiteten schweigend weiter, während Lisa ein Glas aus dem Schrank und die Karaffe mit dem Saft aus dem Kühlschrank holte. Sie ließ sich auf einen der Küchenstühle fallen. Die Küche hatte sich vermutlich in den vergangenen zwei Jahrhunderten nicht groß verändert, wenn man die Möblierung ausnahm. Noch immer lag sie im Souterrain auf der Nordseite des Schlosses, dort eben, wo es am kühlsten war. Hier hielten sich die Speisen am längsten frisch, denn Kühlschränke gab es ja damals, als das Schloss erbaut worden war, noch nicht. Außerdem blieben die Herrschaft und ihre Gäste von Kochgerüchen verschont. 

In der Nische, wo heute eine Ansammlung von Herden Platz fand, Lisa zählte einen Elektroherd, einen alten Kohleherd und einen Gasherd, hatte früher der große Herd mit der offenen Feuerstelle gestanden. Das Mauerwerk des gewaltigen Rauchabzugs hing noch immer unter der hohen Decke.

Auf der gegenüberliegenden Seite reihten sich der mächtige Kühlschrank und weitere Schränke aneinander.

In der Mitte des Raumes stand der lange Arbeitstisch umringt von sechs Stühlen. Auf den Tisch stellten die beiden Frauen gerade die gefüllten Schalen und Schüsseln für das abendliche Büfett.

»Hier riecht es aber lecker, Frau Freudenberg. Was gibt’s denn heute Abend?«

»Lassen Sie sich überraschen.«

Charlotte warf Lisa einen verstohlenen Blick zu.

Lenis schroffe Art hatte Lisa anfangs irritiert. Jetzt ging sie einfach darüber hinweg. Die Frau war zwar wortkarg und auch irgendwie undurchschaubar, doch eigentlich nicht übel. Jedenfalls konnte sie kochen.

»Sie kochen phantastisch«, schmeichelte Lisa und registrierte befriedigt das schmale Lächeln auf Lenis Gesicht. »Mich wundert nur, dass die Schlossbewohner in all den Jahren nicht dick geworden sind. Wie lange arbeiten Sie schon als Köchin im Schloss?«

»Sehr lange.«

Das Gespräch gestaltete sich schwierig. Die Frau war verschlossen wie eine Auster.

Unverdrossen fragte Lisa weiter.

»Stammen Sie hier aus der Gegend, Frau Freudenberg?«

»Nein.«

»Wie sind Sie dann ins Schloss gekommen?«

»Das ist eine lange Geschichte. Die zu erzählen, habe ich jetzt keine Zeit«, beendete Frau Freudenberg rigoros die Befragung.

»Dann geh ich mal wieder«, gab Lisa sich geschlagen.

***

In ihrem Schlafzimmer legte sich Lisa auf ihr Bett und überdachte ihre nächsten Arbeitsschritte. Morgen wollte sie die Frauen- und Kinderbilder in Angriff nehmen. Die Porträts der Kinder hatten für Lisa etwas Anrührendes, wie die Kleinen in ihren steifen Gewändern dastanden und mit ernsten Gesichtern in die Welt schauten. Sie waren schon lange tot.

Ein wenig melancholisch erhob sie sich und trat ans Fenster. Die untergehende Sonne tauchte den Park in rötliche Farben. Sie öffnete einen Fensterflügel und atmete tief die frische, nach Gras und Blumen duftende Luft ein. Ein schöner Frühlingstag ging zu Ende.

Kurz vor sieben. Sollte sie Caro vor oder nach dem Abendessen anrufen? Sie nahm das Handy in die Hand. Eine SMS war eingetroffen. Caro bestimmt. Sie drückte eine Taste und runzelte die Stirn. »Trau schau wem«, las sie. Was sollte das nun wieder bedeuten? Caro wurde immer kryptischer. Oder? Lisa suchte den Absender und die Nummernkennung und fand nichts. Die SMS war anonym versendet worden. Mit einem Mal beschlich sie ein komisches Gefühl. Wenn Caro nicht die Absenderin der Botschaften war, wer dann? Wer kannte ihre Handynummer? Wer wollte sie warnen? Sie schüttelte verwirrt den Kopf. Sie musste Caro fragen. Sie schickte sich an, Caros Telefonnummer zu wählen, als es an der Tür klopfte.

Sofort schlug ihr Herz schneller. Gegen jede Vernunft erwartete sie Marc. Doch war es nur Jean-Pierre, der den Kopf ins Zimmer streckte.

»Kommst du mit zum Abendessen? Es gibt Quiche Lorraine.«

»Woher weißt du das? Mir hat Leni nichts verraten.«

»Beziehungen«, erklärte er.

»Ich komme.«

Lisa legte das Handy beiseite. Sie konnte Caro später anrufen. Schnell zog sie ihre Schuhe an, fuhr sich kurz mit den Fingern durch das Haar und lief hinter Jean-Pierre her. Auf dem Treppenabsatz blieb sie plötzlich stehen. Sie hörte Stimmen hinter der geschlossenen Flügeltür. Marc? Ihr erster Impuls war zu lauschen. Doch eine solche Blöße, wenn auch nur vor Jean-Pierre, wollte sie sich dann doch nicht geben. Stattdessen rief sie ihn leise.

»Bist du schon einmal da drin gewesen?«

»Non. Der Graf lässt niemanden hinein.«

»Und warum nicht? Er hat wohl etwas zu verbergen.«

Jean-Pierre hob die Schultern. »Vielleicht. Ist mir auch egal. Ich bin froh, wenn ich nicht mit ihm sprechen muss, obwohl …«

»Obwohl was?«

»Obwohl er sehr gut Französisch spricht.«

»Ach ja?« Lisa war überrascht und irgendwie auch verärgert. Wenn sie ehrlich war, missgönnte sie dem Alten seine Sprachkenntnisse. Widerwärtige Menschen wie er sollten gefälligst nicht gescheit sein, ebenso wie reiche Menschen nicht glücklich zu sein hatten und schöne Menschen nicht auch noch reich. Wo bliebe denn sonst die Gerechtigkeit!

»Marc auch.«

»Marc spricht Französisch?«

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
2015
ISBN (eBook)
9783958242661
Dateigröße
2.2 MB
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2015 (November)
Schlagworte
eBooks Spannung Kunstraub Mord Intrige Entführung Bedrohung Hass Rache Liebe
Zurück

Titel: Und ewig währt die Schuld
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