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Fräulein Julies Traum vom Glück

Roman

©2021 170 Seiten

Zusammenfassung

Denn Flunkern schützt vor Liebe nicht: Der turbulente Bestseller-Roman »Fräulein Julies Traum vom Glück« von Barbara Noack als eBook bei dotbooks.

Hamburg in den 50er Jahren. Die junge Schriftstellerin Julie kann ihr Glück kaum fassen, ihr neues Drehbuch soll verfilmt werden. Doch als sie dem Regisseur Paul Frank zum ersten Mal gegenübersitzt, fällt sie aus allen Wolken: Paul ist niemand anderes als der rüpelhafte Fremde, der sie erst zu dem Drehbuch inspiriert hat! Er erinnert sich auch noch gut … und amüsiert sich köstlich, dass sie aus ihrer unglücklichen Begegnung eine Liebesgeschichte gemacht hat. Um vor Scham nicht im Boden zu versinken, erfindet Julie rasch einen Verlobten – aber sie hat nicht damit gerechnet, dass gleich ihre ganze Verwandtschaft davon erfährt. Woher soll Julie bloß auf die Schnelle einen geeigneten Heiratskandidaten nehmen? Ein Plan muss her – doch jedes Mal, wenn Pauls Augen sie schelmisch anblitzen, gerät Julie völlig aus dem Konzept …

»Barbara Noacks Wortwitz und Charme werden nur noch von ihrem Scharfsinn übertroffen. Sie beobachtet mit dem Skalpell und schreibt mit einem Lächeln.« Bestseller-Autorin Viola Alvarez

Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der heiter-beschwingte Frauenroman »Fräulein Julies Traum vom Glück« von Bestseller-Autorin Barbara Noack – als Kultfilm bekannt unter dem Titel »Die Zürcher Verlobung«. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Über dieses Buch:

Hamburg in den 50er Jahren. Die junge Schriftstellerin Julie kann ihr Glück kaum fassen, ihr neues Drehbuch soll verfilmt werden. Doch als sie dem Regisseur Paul Frank zum ersten Mal gegenübersitzt, fällt sie aus allen Wolken: Paul ist niemand anderes als der rüpelhafte Fremde, der sie erst zu dem Drehbuch inspiriert hat! Er erinnert sich auch noch gut … und amüsiert sich köstlich, dass sie aus ihrer unglücklichen Begegnung eine Liebesgeschichte gemacht hat. Um vor Scham nicht im Boden zu versinken, erfindet Julie rasch einen Verlobten – aber sie hat nicht damit gerechnet, dass gleich ihre ganze Verwandtschaft davon erfährt. Woher soll Julie bloß auf die Schnelle einen geeigneten Heiratskandidaten nehmen? Ein Plan muss her – doch jedes Mal, wenn Pauls Augen sie schelmisch anblitzen, gerät Julie völlig aus dem Konzept …

»Barbara Noacks Wortwitz und Charme werden nur noch von ihrem Scharfsinn übertroffen. Sie beobachtet mit dem Skalpell und schreibt mit einem Lächeln.« Bestseller-Autorin Viola Alvarez

Über die Autorin:

Barbara Noack, geboren 1924, hat mit ihren fröhlichen und humorvollen Bestsellern deutsche Unterhaltungsgeschichte geschrieben. In einer Zeit, in der die Männer meist die Alleinverdiener waren, beschritt sie bereits ihren eigenen Weg als berufstätige und alleinerziehende Mutter. Diese Erfahrungen wie auch die Erlebnisse mit ihrem Sohn und dessen Freunden inspirierten sie zu vieler ihrer Geschichten.
Ihr erster Roman »Die Zürcher Verlobung«, der nun unter dem Titel »Fräulein Julies Traum vom Glück« neu bei dotbooks erscheint, wurde zweimal verfilmt und besitzt noch heute Kultstatus. Auch die TV-Serien »Der Bastian« und »Drei sind einer zu viel«, deren Drehbücher die Autorin verfasste, brachen in Deutschland alle Rekorde und verhalfen Horst Janson und Jutta Speidel zu großer Popularität.

Eine Übersicht über weitere Romane von Barbara Noack finden Sie am Ende dieses eBooks.

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eBook-Neuausgabe Juli 2020

Dieses Buch erschien unter dem Titel »Die Zürcher Verlobung« bereits 1955 im Lothar Blanvalet Verlag und 2015 bei dotbooks.

Copyright © der Originalausgabe 1955 by Lothar Blanvalet Verlag, Berlin

Copyright © der Neuausgaben 2015 und 2020 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Wildes Blut – Atelier für Gestaltung Stephanie Weischer unter Verwendung mehrerer Bildmotive von © shutterstock / Anna Tryhub / portumen / Claudio Divizia / Soundaholic studio / javarman / Vector

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (rb)

ISBN 978-3-95824-390-3

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Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: info@dotbooks.de. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags

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Barbara Noack

Fräulein Julies Traum vom Glück

Roman

dotbooks.

Erstes Kapitel

Es begann am 7. Oktober, morgens halb acht. Himmel gab es an diesem Tag nicht, nur eine dichte, graue, feuchte Wolke, die sich selbst zu schwer war und darum auf die Erde stippte.

»Wie damals in London«, sagte Onkel Julius, der keine Gelegenheit ausließ, seine im Vorjahr unternommene Englandreise zu erwähnen.

Die Autos schlichen so vorsichtig und ruckweise über den Damm wie die Schmuggler in der Oper »Carmen«, die ich eine Woche zuvor gesehen hatte. Sie hupten in einem fort – die Autos meine ich – und enttäuschten meinen Onkel, weil er sie noch immer schemenhaft im Nebel erkennen konnte. Es war eben doch nicht ganz so wie in London.

»Da habe ich nicht einmal die Hand vor Augen sehen können!«

Tante Sophie dagegen behauptete, er habe zwar die Hand, nicht aber den Ehering daran gesehen, und Onkel Julius widersprach nicht. Er befand sich bereits in einem Alter, in dem ihm eine solche Beschuldigung nur schmeicheln konnte.

Übrigens war er schlechter Laune an diesem Morgen. Schuld daran war der unvollkommene Nebel, der immerhin ausreichte, Tante Sophie mit Herzbeschwerden und einem Roman aus der Leihbibliothek ans Bett zu fesseln – was wiederum den Mißmut meines Onkels vertiefte. Er schätzte keine leidenden Frauen – außer jenen, deren Schmerzen ihm als Zahnarzt Geld einbrachten.

Den Schuß Öl, der seinen leise schwelenden Ärger hell auflodern ließ, goß seine Assistentin telefonisch auf. Sie entschuldigte sich mit einer Grippe.

Gleich zwei leidende Frauen, das war zuviel. Sein brotkrümelspuckender Zorn fiel auf Hulda, die den Kaffeetisch abräumte, und mich, seine liebe Nichte-auf-Besuch. Er erinnerte sich jedoch rechtzeitig daran, daß wir beide sozusagen die letzten Karyatiden waren, die das Gebäude seiner häuslichen Ordnung stützten. Wenn wir auch noch ausfielen – nicht vorzustellen!

Bei Karyatide Hulda lenkte er mit einem laschen Klaps unterhalb ihres auf dem Rücken gebundenen Schürzenbandes ein. Mir näherte er sich mit der Feststellung:

»Neblig heute, was?«

»Fast so schlimm wie damals in London«, seufzte ich und legte meine Serviette zusammen.

»Wenn ich nur wüßte, woher ich so schnell eine neue Assistentin bekomme! Schneider – (das war sein Techniker) – hat mit dem Gebiß von Frau Sieblig zu tun. Sie kommt um elf zur Anprobe. Hulda ist gänzlich ungeeignet. Hm –« Er sah mich scharf an und rieb sein Kinn mit Mittel- und Zeigefinger. Und ich verstand.

»Wenn dir etwas an einer assistentiellen Attrappe gelegen ist, bin ich gern bereit.«

»Was soll das heißen?« fragte er gereizt.

»Das soll heißen, daß ich mich mit fachkundigem Gesicht neben den Behandlungsstuhl stelle und so tue als ob.«

»Wenn du unbedingt willst.« Das war genau die Antwort, die ich auf mein generöses Angebot nicht erwartet hatte.

Unser erster Patient war ein Herr Alfons, Buchhalter mit Kassenschein und schmerzendem linkem Augenzahn.

Herrn Alfons' Miene – männlich gefaßt, doch transparent: Sein aufgewühltes Seelenleben schimmerte deutlich durch – zeugte davon, daß er nicht zum erstenmal beim Zahnarzt war. Man mochte ihm so manche Erfahrung eingebohrt haben. Ich war auch nicht so ganz ohne Erfahrung, denn acht Zahnärzte hatten mein Eßzimmer mit vierzehn schönen Plomben ausgepolstert. Das heißt: Der erste war kein Zahnarzt gewesen, sondern ein Onkel Doktor, weil er mir noch nicht weh zu tun brauchte. Er besaß einen Papagei, der Dr. Coué hieß und in dem Augenblick, da ich auf dem Behandlungsstuhl in die Höhe getreten wurde, »Tut nicht weh – tut nicht weh« krächzte. Später sang er »Gloria Victoria« zwei Strophen lang. Leider wanderte Dr. Coué samt Herrchen in die Schweiz aus, und man brachte mich zu einem Zahnarzt, der zwar keinen Papagei, dafür aber einen Tatterich besaß. Dieses interessante Leiden wäre vielleicht ein ebenbürtiger Ersatz für Dr. Coués Vorträge gewesen, hätte der Bohrer nicht auch getattert. Er tatterte in meinen Gaumen, wo er gar nichts zu suchen hatte, und ich begann zu ahnen, welche Gefühle die meisten Menschen mit dem Begriff Zahnarzt verbinden. Ich ging nicht wieder hin, weder für Kokosflocken noch für Abziehbilder oder Prügel.

Als man mich ins Sprechzimmer des dritten med. dent. schleifte, fiel mir Gott sei Dank der Ratschlag ein, den mir mein Vater einmal gegeben hatte: »Hast du auch noch soviel Angst, heule nicht! Beiß lieber die Zähne fest zusammen.« Das tat ich denn auch, und es erwies sich als erfolgreich. Ich konnte ungebohrt nach Hause gehen und nahm außerdem noch die beruhigende Zusicherung mit, daß dieser Zahnarzt mich nie mehr zu sehen wünschte.

Der nächste – ein freundlicher alter Herr – wurde telefonisch auf mich vorbereitet. »Wenn's weh tut, sagst du einfach Au, dann höre ich sofort mit dem Bohren auf.«

»Aua«, sagte ich prompt. Trotzdem – weiß der Himmel, wie – schwatzte er mir drei Zahnplomben ab. Danach starb er. Aber das war gewiß nicht meine Schuld.

Mit seinem Nachfolger schloß ich ein Abkommen. Er mußte versprechen, nicht mehr als dreimal zehn Sekunden lang zu bohren, und ich versprach, weder vom Stuhl zu rutschen noch mit den Füßen seinen studierten Bauch zu malträtieren oder nach dem Bohrer zu fassen, wenn's weh tat.

Jedoch – er wurde vertragsbrüchig und somit ich auch. Es nahm kein gutes Ende.

Dann geriet ich an einen Dentisten. Von ihm stammten der Stiftzahn oben links, die Zahnlücke hinten rechts und zwei Plomben … schließlich war er früher in einer Irrenanstalt tätig gewesen.

Kein Zahnarzt hat mich so standhaft erlebt wie der nächste. Aber das kam auch bloß, weil ich verliebt in ihn war. Und in diesem blödsinnigen Zustand erträgt man Unmenschliches. Es wurde nichts aus uns, weil ich eine lebhafte Phantasie habe. Ich stellte mir vor, er würde meinen Mund küssen, den er schon etliche Male mit Spiegel, Bohrer und Daumen inwendig untersucht hatte. Er würde dabei genau wissen, wo eine Plombe oder Lücke – es ging wirklich nicht. Nach diesen Überlegungen war ich nicht mehr verliebt, und aus war's mit der Standhaftigkeit. Onkel Julius war der achte, dem ich mich auslieferte. Aber ich rate Ihnen, gehen Sie niemals zur Verwandtschaft! Die führt eine Zahnbehandlung so aus, als ob sie von vornherein wüßte, daß die Rechnung doch nicht bezahlt wird.

Während Onkel Julius bei Herrn Alfons bohrte, machte dieser weite Nüstern vor Angst. Seine Augenlider flatterten wie aufgeregte Fledermäuse.

»Nur ruhig Blut«, sagte ich und legte meine Hand auf seine Schulter.

Bei dieser Gelegenheit bemerkte Onkel Julius meine lackierten Nägel. Er machte ein Gesicht, als ob er ein Aspirin kaue.

»Ausspülen«, bat ich Herrn Alfons, als Onkel Julius die Bohrer wechselte.

Nachdem er gründlich gegurgelt und gespuckt hatte, sah er mich scheu an. »Fräulein, muß noch viel gebohrt werden?«

»Nein.« Er tat mir leid. »Das war das letzte Mal. Sie Armer! Ich weiß es aus eigener Erfahrung, Zahnärzte sind …«

»Mund auf!« knirschte Onkel Julius dazwischen.

»Aber das Fräulein hat gesagt …«

»Das Fräulein hat hier nichts zu sagen!«

Als Herr Alfons ging, schüttelte er meine Hand wie einen Mixbecher. »Ich danke Ihnen auch schön, Sie waren so nett!«

Bei Onkel Julius bedankte er sich nicht. Der saß am Schreibtisch und notierte mit spritzender Füllfeder etwas in seinem großen Buch.

»Kein Wunder, daß Jürgen dir untreu geworden ist«, brummte er, ohne diese Behauptung näher zu erklären.

An der Wohnungstür hatte es inzwischen dreimal geläutet, und dreimal hatte Hulda einen Patienten ins Wartezimmer geführt. Aber ehe nach Herrn Alfons der »Nächste, bitte« in die weiße, blitzende Hölle eingelassen wurde, vergingen einige Minuten, in denen ich auf Onkel Julius' Geheiß Nägel schneiden und ablackieren mußte.

Dann öffnete ich die Tür zum Wartezimmer und sah ihn.

Mein erster Gedanke war. Wenn Onkel Julius diesem Mann weh tut, werfe ich ihn aus seiner eigenen Praxis oder halte meine Zähne für »den da« zum Bohren hin. Aus dieser spontanen Opferbereitschaft kann man ersehen, daß ich vom ersten Augenblick an in ihn verliebt war.

Das fiel übrigens nicht schwer, denn er sah blendend aus. Er war eine Mischung aus kraftvoll-antiker Schönheit und elegant-überzeichneter Figur aus dem Herrenjournal. Und sein Anblick erinnerte mich daran, daß ich schon seit einer Woche dringend zum Friseur mußte, aber nicht dazu gekommen war. Sein Anblick erinnerte mich an meine eigene Unvollkommenheit.

»Der Nächste bitte«, sagte ich verwirrt.

Neben ihm saß ein Mann mit vorgebeugtem Rücken und in die Wangen gebeulten Fäusten. Dem tippte er freundlich auf die Schulter. »Es ist soweit, Büffel.«

Herr Büffel grunzte etwas Unfeines und erhob sich. Er blickte mich voll Abwehr an, und ich ahnte sofort: Das war kein scheuer Alfons. Bei dem konnte ich meine Gute-Engel-Tour nicht anwenden. Wir beide würden nicht einmal lauwarm miteinander werden.

»Soll ich mit reinkommen, Büffel?« fragte sein Freund.

»Ach, laß nur«, sagte der und ging mit geradezu pathetischer Kaltblütigkeit an mir vorbei auf Onkel Julius zu.

Sein Freund lächelte ihm halb mitleidig, halb amüsiert und auf jeden Fall erleichtert nach, weil er nur die schmerzlose Begleitrolle zu spielen brauchte. Ich bedauerte diese Tatsache, denn so kam ich um den Genuß, mich als schützenden Engel vor ihn zu stellen, und würde nie erfahren, ob sein prächtiges Gebiß natürlich oder teuer war.

»Juliane«, rief Onkel Julius. Ich zog die Tür hinter mir zu und band Büffel ein Papierlätzchen um.

Mein Onkel beugte sich über ihn. »Seit wann haben Sie die Schmerzen?«

»Seit einer Woche ungefähr. Aber heute nacht wurden sie unerträglich. Ich bin die Wände hochgegangen. Fragen Sie meinen Freund.«

»Gern.« Ich wollte zur Wartezimmertür eilen, aber Onkel Julius rief mich barsch zurück.

Er schob seinen kleinen Spiegel in Büffels skeptisch verzogenen Mund. Ich schaute mit hinein. Er hatte ein paar beachtliche Ruinen in der Backe und roch nach Kognak. Onkel Julius klopfte die Ruinen ab.

»Es ist der Weisheitszahn. Eine Behandlung lohnt bei ihm nicht, er ist durch und durch morsch. Wir ziehen ihn am besten gleich.«

»Gleich?« Herr Büffel biß vor Schreck auf den Spiegel.

»Mach die Spritze fertig, Juliane.«

Ich lächelte nur.

»Ach so«, brummte Onkel Julius, der vergessen hatte, daß ich eine Attrappe war.

Herr Büffel richtete sich im Stuhl auf. In diesem Augenblick, kurz vor dem Verlust seines Weisheitszahnes, wirkte er zugleich feige und gewalttätig. Das Lätzchen unter seinem Kinn war das einzig Vertrauenerweckende an ihm.

Onkel Julius hielt die Spritze gegen das Licht, dann sagte er zu dem ausgewachsenen Mann auf dem Tretstuhl: »Es tut nicht weh. Nun machen Sie den Mund hübsch weit auf– so, na also. Brav. Ich gebe Ihnen gleich noch eine Spritze. Nein, nein, diesen Einstich spüren Sie gar nicht mehr.«

Büffel lag lang und ganz still im Stuhl, die Hände um die Lehnen gekrampft. Aber es war eine scheinheilige Stille. Unsere Katze bediente sich solcher Stille, um in aller Ruhe zum Sprung auf eine Maus anzusetzen. Fünf Minuten später kam das Drama.

Die Weisheitszähne wohnen sozusagen draußen vor der Stadt. Sie sind die letzten Gebäude in der Zahnstraße und von der Zunge mühsam zu erreichen. (Versuchen Sie's mal!) Bei Herrn Büffel bestand das Gebäude der Weisheit oben rechts nur noch aus einer morschen Seitenwand. Sie bot der Zange keinen Halt.

Es knirschte leise, Onkel Julius nickte kräftig– und Büffel stieß mit solcher Wucht gegen den Magen, daß mein Onkel mit Zange und einem blutigen Fragment daran gegen den Bohrapparat taumelte.

»Sind Sie wahnsinnig?« schrie er.

Ich blickte voller Sensationslust auf die beiden Männer, die drohend die Köpfe zwischen die Schultern zogen und sie gleich darauf an erstaunlich langen Hälsen gegeneinander vorschnellen ließen. Und dann brüllten sie sich fürchterlich an. Ein Glück, daß die Tür zum Wartezimmer gepolstert war. Das Geschrei hätte dem Renommee meines Onkels als Zahnarzt sehr geschadet.

»Idiot! – Schinder!« nannten sie sich und noch eine Menge harter Ausdrücke mehr.

»Vielleicht haben die Spritzen nicht gewirkt?« schrie ich dazwischen. »Hatten Sie Schmerzen?«

»Schmerzen? Nein, aber der Kerl hätte mir um ein Haar den Kiefer gebrochen!« Büffel brüllte mit schiefem Mund – wegen der tauben Backe.

Ich wählte bedacht den Umweg über den Flur zum Wartezimmer. Bei meinem Anblick hoben acht Leute die Köpfe von den zerlesenen Illustrierten und sahen mich voll unbehaglicher Spannung an. Ein kleines Mädchen verkroch sich hinter dem Rücken seiner Mutter. (Ob vielleicht doch einige unerfreuliche Worte durch die Polstertüren gedrungen waren?)

»Würden Sie, bitte, zu Ihrem Freund kommen?« fragte ich Büffels schönen Begleiter. »Nein – hier herum.«

»Lebt er noch?« flüsterte er, als wir den Flur erreichten.

»Und wie! Es ist noch nicht heraus, ob er meinen Onkel oder mein Onkel ihn umbringen wird. Ich bat Sie hier lang, damit die anderen nicht ihr Gebrüll hören.«

Seine Schlipsklammer, die in meiner Blickrichtung lag, zitterte auf und nieder; so sehr lachte er, als ich ihm in Telegrammkürze das bisher Vorgefallene erzählte.

Ehe wir die Kampfstätte betraten, legte sich seine Hand auf meinen Arm. »Beurteilen Sie den Charakter meines Freundes nicht nach seinem Benehmen auf dem Behandlungsstuhl. Ohne Zähne wäre er ein sehr netter Mann.«

Meine Blicke fuhren drei Stockwerke hoch zu seinen Augen. Es waren gutmütige, zärtliche braune Augen – und das Grübchen in seiner Wange tat das übrige.

Ich hatte genau das Herzklopfen überall im Körper, das mein Verlobter a. D. drei Jahre lang an mir vermißt zu haben behauptete.

Es herrschte Grabesstille, als wir das Sprechzimmer betraten. Doch beide lebten, Büffel mit folgsam aufgerissenem Mund im Behandlungsstuhl und Onkel Julius über ihn gebeugt.

»Ha-hi-hu-hi?« lallte ersterer, als er seinen Freund plötzlich neben sich sah.

»Was Sie hier wollen«, dolmetschte mein Onkel.

»Du sollst randaliert haben, Büffel, und da wollte ich –«

»Aber wo –«, wehrte Onkel Julius ab. »So schlimm war das gar nicht. Da hat meine Nichte sicher übertrieben.« Und Büffel nickte zu seinen Worten.

Am liebsten hätte ich jetzt den Kopf zwischen die Schultern gezogen und drohend gegen die beiden vorschnellen lassen, aber ich konnte mich nicht entschließen, gegen wen zuerst, und darüber verrauchte mein gröbster Ärger.

»Hier sind schmerzstillende Tabletten, die nehmen Sie ein, wenn die Wirkung der Narkose nachläßt«, sagte Onkel Julius, als Büffel seinen flachen Hut aufstülpte.

Sein Freund gab mir zum Abschied die Hand und lächelte auf mich nieder – und ich überlegte, ob er von Natur aus zu allen Frauen so herzlich war oder nur in speziellen Fällen. Noch nie hatte ich mir so sehr gewünscht, ein spezieller Fall zu sein. Der war ich eigentlich nur auf der Schule gewesen.

Sie gingen.

Onkel Julius setzte sich an seinen Schreibtisch, zündete eine Zigarette an und trank seine Tasse Nescafé, die Hulda ihm jeden Morgen gegen zehn Uhr zu bringen pflegte. Ich stand indessen am Fenster und blickte auf die beiden Hüte, die gerade aus der Haustür kamen und auf eine schwarze Limousine zugingen.

»Julchen«, sagte Onkel Julius hinter mir. Ich wandte mich um. Er saß zurückgelehnt in seinem Armstuhl und sah wie die Generaldirektoren der Leinwand aus, die in sozialkritischen Filmen meist einen schlechten Charakter und in Gesellschaftsfilmen eine Tochter haben, die ihnen im Reitdreß auf die Schulter tippt und »Hallo, Paps« sagt.

»Julchen –« Er verrührte den Zucker in seiner Tasse. »Falls du etwas Wichtiges vorhaben solltest, so laß dich nicht davon abhalten. Ich komme ganz gut ohne dich hier aus.«

In diesem Augenblick brummte vor dem Hause ein Motor auf. Meine Ohren folgten dem Geräusch, bis es in der Ferne verstummte.

Wenn ich dem Spiegel und den gutgemeinten, vielleicht auch ehrlichen Komplimenten anderer glauben durfte, so war ich eigentlich hübsch. Doch eine Frau, die ihre Verlobung nur mit drei minus (diese Note bekam ich in der Schule, wenn ich nicht aufgepaßt hatte; bei Jürgen hatte ich auch nicht aufgepaßt) absolviert hat und ihre Zukunftshoffnung an eine andere Frau abtreten mußte, bekommt Komplexe.

Karin hieß die andere. Im Vergleich zu ihr fühlte ich mich alt. Ich war ein kleines bißchen über fünfundzwanzig – genauer gesagt: Ich sollte im nächsten Monat dreißig werden. Karin aber sonnte sich geradezu aufdringlich in einer Jugend, an der sie genauso unschuldig war wie ich an meiner Leider-Fortgeschrittenheit.

Sie hatte betörend schwarzes Haar, gegen das meine Blondheit fad und ausgeblichen wie ein Bußtagshimmel wirkte. Sie konnte Hemden bügeln, ich nur mit Kniffen. Sie besaß einen vermögenden Vater und ich bis dato einen Verlobten, der sich einmal während einer turbulenten Unterhaltung als meine »finanzielle Fehlkalkulation« bezeichnete, eine Häßlichkeit, für die er sich später mit einem Blumentopf entschuldigte. Karin hielt immer im richtigen Augenblick den Mund, ich erst erschrocken hinterher. Sie ließ sich von Horn anziehen – mir fehlte stets das Anhängsel am Mantelkragen.

Unsere gemeinsamen Freunde behaupteten, ich verfüge über einen besseren Charakter als sie. Aber ich hab's nicht gern, wenn man vor allem meinen Charakter bei der Aufzählung meiner Qualitäten erwähnt. Denn im Rennen um einen Mann – wann hat da schon der Charakter vor der Schönheit gesiegt?

O ja, Karin hatte mir so peu à peu eine Menge Komplexe eingelöffelt. Doch an diesem Vormittag traten sie den Rückzug an. Ich war versöhnt mit meinem unvollkommenen Ego, und das war das Werk von zwei zärtlichen braunen, in Turmhöhe angebrachten Augen, die Büffels Freund gehörten.

Er hatte mir gut getan, auch wenn ich ihn nicht wiedersehen sollte.

Ich war wieder jung, hübsch, mit Vergnügen blond und fähig, mich zu verlieben.

»Fräul'n Thomas«, rief Hulda vor meiner Tür. »Telefon für Sie. Ein Herr Kolbe. Herr Doktor hat ins Wohnzimmer umgestellt.«

Herr Jürgen Kolbe, das ist der nämliche Herr, mit dem ich drei Jahre lang umsonst verlobt war, und sein unerwarteter Anruf konnte mir nicht mehr als ein schwaches Wundern an diesem Tage abringen.

»Ich habe geschäftlich in Berlin zu tun«, sagte er, und ich fühlte einen menschlichen Stich in der Brust: Jahrelang hatte die Pleite zärtlich an Jürgen festgehalten, so fest, daß wir nicht heiraten konnten. Mit Karins Eintritt in unser Leben hatte auch Jürgens geschäftlicher Aufstieg als Vertreter für pharmazeutische Firmen begonnen. Er verdiente immer besser, und ich hatte nichts mehr davon.

»Was macht Karin? Ist sie auch hier?«

»Nein«, sagte er, »aber sie läßt dich grüßen.«

»Sehr aufmerksam. Wann steigt denn eure Hochzeit?«

»Och, das hat noch Zeit«, sagte Jürgen lahm.

Nanu, dachte ich, nanu, nanu! Es war. mir doch deutlich im Gedächtnis, daß sie so schnell wie möglich heiraten wollten.

»Und wie geht's dir, Julie?«

»Danke, ich habe mich verliebt.«

Jürgen verschluckte sich erschrocken an seinem Atem. Er hustete. »Wer ist es denn?«

»Keine Ahnung«, sagte ich wahrheitsgemäß, »aber er hat ein reizendes Grübchen.«

»Dann natürlich! Und seit wann schwärmst du für Grübchen?«

»Seit heute vormittag.«

»Julie«, sagte Jürgen dringend, »ich möchte dich unbedingt sehen. Hast du nachmittags für mich Zeit?«

Wir trafen uns um fünf Uhr im »Bristol«.

Anfangs bediente sich Jürgen im Umgang mit mir verstockter Zärtlichkeit. Er nahm es sich anscheinend übel, daß ich ihm wieder begehrenswert erschien.

»Du bist fraulicher geworden«, stellte er mißgestimmt fest, »und hübscher. Das Kostüm steht dir gut. Neu?«

»Fast. Aber du wirst es kaum kennen. Ich hab's in deinem Beisein höchstens zehnmal angehabt.«

Später fragte ich ihn nach Hamburg, das ich vor anderthalb Wochen verlassen hatte, nach unseren gemeinsamen Bekannten und endlich auch nach Karin.

»Du wohnst jetzt bei ihr, nicht wahr?« Er hatte kurz nach unserer Entlobung seine schlecht möblierte Bleibe aufgegeben, um als künftiger Schwiegersohn in die Villa ihrer Eltern zu ziehen, jedoch …

»Ich wohne im Hotel.« Seine Augen richteten sich mit soviel tragischem Schmelz auf mich, daß mir ganz unheimlich wurde. »Ich bin heimatlos.«

»Du armer, armer Jürgen.« Es ist ein seltsam Ding, den Mann zu bedauern, der einen verlassen hat. »Warum bist du nicht zu Karins Eltern gezogen?«

»Nein«, unterbrach er mich energisch, »das würde mich zu sehr verpflichten.«

»Wozu verpflichten?« forschte ich interessiert.

»Na ja –« Er schob den Aschenbecher ziellos über das Tischtuch. Und ich war verwirrt. Man darf nicht denken, daß ich begriffsstutzig bin. O nein, ich begreife eine ganze Menge. Wenn man zum Beispiel zu mir sagt: Ich möchte von dir fort, um meine ganz große Liebe zu heiraten, begreife ich das – wenn's auch schwerfällt. Wenn man mir aber nach dieser Trennung sagt: Du siehst hübsch aus, und ich möchte nichts unternehmen, was mich verpflichten könnte, meine ganz große Liebe zu heiraten, so begreife ich nichts mehr.

»Ach, Julie –« Jürgens Hand sank gleich einer schweren Last auf meine Schulter. Er seufzte aus Gemütstiefen, die ich nicht bei ihm vermutet hätte. »Ich war ein Rindvieh.«

»Aber – aber –«

»Doch, ich war ein riesengroßes Rindvieh.«

Selbstkritik ist gesund– sofern sie nicht ausartet. Es ist schwer, den Anfang zu finden; wenn sie aber erst den hemmenden Damm von Stolz und Eitelkeit überwunden hat, strömt sie unaufhaltsam fort, überschwemmt alles – auch den gesunden Menschenverstand und die Grenzen des guten Geschmacks. Denn – Selbstkritik ist nicht ohne Wollust, so richtige dunkellila Wollust. Das spürte ich an Jürgens düster süchtigem Blick und dem Ton, in dem er mehrere Male wiederholte, daß er ein Rindvieh gewesen sei, als er sich von mir getrennt habe.

Und dann kam unser Kaffee. Herr Kolbe aß trotzig Windbeutel mit Schlagsahne, und ich hatte ihn in diesem Augenblick herzlich gern.

Was er wohl für einen Eindruck auf mich machen würde, wenn ich ihm heute zum erstenmal begegnete? Ich kannte ihn zu gut – lachend, weinend, abweisend, fluchend, verkatert, liebend, schlafend –, und es gelang mir nicht, ihn objektiv zu sehen.

Er spürte meinen Blick, schob den Kuchenteller zurück und zündete – so wie in alten Zeiten – zwei Zigaretten an, von denen er eine mir reichte. Ich überlegte, ob er dazu als schuldig Entlobter noch berechtigt sei – und nahm sie. Aus langjähriger Gewohnheit.

»Julie«, sagte er, »was meinst du – wollen wir's noch einmal miteinander versuchen?«

Ich nahm ein Haar von seinem Sakko und dachte an Büffels Freund. Und lächelte wohl dabei, denn Jürgen fragte eifrig: »So ganz abgeneigt wärst du also nicht?«

»Im Augenblick bin ich gar nichts.«

»Doch –«, seine Zigarette starb, jämmerlich verkrümmt, im Aschenbecher –, »verliebt bist du in einen Kerl mit Grübchen. Und ich dachte, du würdest noch unter unserer Trennung leiden!«

Weder das Grübchen noch meine Leiden hätten ihn einen Deut gekümmert, wäre Karin noch immer seine ganz große Liebe gewesen.

Meine Zigarette verglomm neben der seinen. Ich hatte plötzlich eine unbestimmte Hoffnung, die mich nach Hause trieb.

Bei meinem Heimkommen saßen noch immer Patienten im Wartezimmer.

Hulda deckte im Eßzimmer klirrend den Abendbrottisch. Ich ging in den Wohnraum, der ebenso anheimelnd und gemütlich war wie Onkel Julius' Temperament. Er besaß die Ausmaße einer Leichenhalle und hatte den letzten Sonnenstrahl bei seiner Erbauung vor fünfzig Jahren gesehen. Die Wände verdüsterte reichgeschnitzte Neorenaissance, überall standen einem Bronzegriechen im Wege. Nur die Polstermöbel waren modern. Sie wirkten in diesem Raum genauso verirrt wie eine Neubausiedlung inmitten einer rußigen, alten Stadt.

Ich rettete mich zu dem einzig Lebendigen – dem Aquarium. Hinter dem dicken Glas schwammen schillernde, bizarr geformte Fischlein mit träger Eleganz und sehr viel Zeit auf und ab, standen minutenlang still und zeigten nur durch feine, aufsteigende Bläschen an, daß sie lebten. Und ich wunderte mich. Fünf von den acht Zahnärzten, die mich erleben durften, hatten Fischlein anderen Haustieren vorgezogen. Dabei waren die doch ganz und gar zahnlos – oder gerade deshalb?

Und dann klingelte das Telefon – schrill, aufschreckend, verheißungsvoll. Meine unbestimmte Hoffnung – da war sie wieder! Ich nahm den Hörer nicht ohne Spannung ab.

»Bei Dr. Wayer!«

»Ja – hier Berner. Ich rufe im Auftrage meines Freundes an.« Es war meine ziemlich bestimmte Hoffnung!

»Ich weiß schon«, lachte ich und ärgerte mich, weil erregtes Lachen leicht nach Gackern klingt.

Jetzt lachte er auch, woraus ich schloß, daß er ahnte, mit wem er sprach.

»Was gibt es – Herr Berner?«

»Mein Freund ist fest entschlossen zu sterben. Im Augenblick ist er blau. Aber die Flasche Kognak hat nichts gegen seine Wundschmerzen genützt. Und Tabletten nimmt er aus Prinzip nicht. Was soll ich tun?«

»Lösen Sie ihm die Pillen, die ihm mein Onkel mitgegeben hat, in einem weiteren Glas Kognak auf. Vielleicht merkt er's nicht.«

»Weise Idee.« Seine Stimme wurde von einem gräßlichen Geschrei im Hintergrund begleitet.

»Lärmt da Ihr Freund?« fragte ich schaudernd.

»Nein, das ist nur sein Sohn.«

»Hat er auch Wundschmerzen?«

»Keineswegs. Er gebärdet sich von Natur aus so, als ob er welche hätte.«

Jetzt, da mein Interesse nicht durch sein günstiges Äußeres von seiner Stimme abgelenkt wurde, fiel mir auf, daß er in leicht umständlich-schwyzerischem Tonfall sprach. (Ich hatte bisher nicht gewußt, daß ich diesen geradezu entzückend fand.)

»Möchten Sie meinen Onkel noch sprechen?«

»Danke. Ich werde es jetzt mit den Tabletten im Kognak versuchen, und wenn er den Schwindel merken sollte –«

»Dann rufen Sie am besten noch mal an.« Das sollte wie ein unverbindlicher Vorschlag klingen, aber ich glaube, ich sprach ihn wie eine Bitte aus.

»Leider geht das nicht«, sagte er. »Ich fliege noch heute abend die Schweiz zurück.«

»So –«

Meine Stimmung sank im Nu auf halbmast.

Als ich den Hörer auf die Gabel gelegt hatte, zog es mich wieder zu den Fischen.

Tante Sophie kam im Morgenrock herein und stellte sich neben mich. Ihr Fingerknöchel klopfte gegen das Aquariumglas, und sie seufzte.

Ade, Grübchen, all ihr Hoffnungen … Ich seufzte auch.

»Was hast du eben gesagt, Tante Sophie?«

»Ich sagte, Fische haben es leichter –«

Am Sonnabend früh um acht Uhr fuhr ich mit Jürgen Kolbe nach Hamburg zurück.

Nach der letzten westlichen Kontrolle in Helmstedt trat Jürgen – befreit vom Kofferschleppen und Papierevorzeigen – den Gashebel durch.

Ich schälte eine Apfelsine für ihn, träumte in den leuchtend gefärbten Herbsttag hinein und lauschte Jürgens einfältig-fröhlichem Gepfeife. Wenn ich scharf hinhörte, konnte ich den »Reigen« von Oscar Straus erkennen.

»Warum sagst du nichts?« fragte er plötzlich.

»Ich höre dir zu.«

»Und zählst die falschen Töne – eh?«

»Nein, die richtigen, das ist leichter. Du Jürgen – ist Krämer in Hamburg?«

Günter Krämer war Produktionschef der Grollig-Film und ein gemeinsamer Bekannter von uns aus verlobten Tagen.

»Weiß nicht. Warum?«

»Er sucht doch einen Stoff für einen Lustspielfilm.«

»Und da wolltest du ihm einen anbieten?«

»Ganz recht. Mir ist eben eine Idee gekommen, das heißt, der Anfang zu einer Idee. Soll ich mal erzählen?«

Jürgen nickte auffordernd.

»Also – es beginnt in einer Zahnarztpraxis. Die weibliche Hauptperson ist dort Sprechstundenhilfe. Eines Morgens sitzt ein Mann mit randalierendem Weisheitszahn und seinem bezaubernden Freund im Wartezimmer. Der Mann ist feige – also, das Feigste von Mann, was mir je begegnet ist.«

»Wieso dir?« fragte Jürgen erstaunt.

»Habe ich ich gesagt? Ich meine natürlich die Sprechstundenhilfe.« Ich erzählte ihm nun, was an jenem Vormittag in Onkel Julius' Praxis vorgefallen war.

Als ich geendet hatte, verstand Jürgen seine Begeisterung ausgezeichnet zu zügeln.

»Gefällt's dir nicht?«

»Hm«, sagte er vorsichtig (er wollte mich ja wiedergewinnen), »es ist noch ein bißchen wenig. Ein Anfang immerhin. Du wirst schon etwas daraus machen.« Er blickte geradeaus auf die Autobahn, die der Kühler fraß. »Die Sprechstundenhilfe und der Freund des Feiglings kriegen sich am Schluß?«

»Gott geb's«, seufzte ich. Und da kein anderes Holz in der Nähe war, klopfte ich dreimal verstohlen gegen meinen Kopf.

»Julie, sag mal, der Freund hat doch nicht etwa ein Grübchen?«

»Laß mich mit dem Grübchen zufrieden, es wird schon langsam albern!« Ich hatte es nicht gern, wenn man mich ertappte.

»Mir unverständlich, daß er dich nach Hamburg zurückfahren ließ«, bohrte er weiter. »Sooo junge Liebe und schon eine Trennung! Ja, wer macht denn so was!«

»Wenn er aber in die Schweiz zurück mußte?«

»Ach, Schweizer ist er? Nicht übel. Aber auch diese Nationalität bedeutet im nächsten Krieg keine Lebensversicherung mehr.« (Er mußte mir ja eins auswischen!) »Kommt er wieder?«

»Natürlich.«

»Und – meint er es ernst?«

»Ziemlich«, sagte ich, und dann sprachen wir nicht mehr von ihm.

Jürgen Kolbe besuchte eine Firma in der Georgstraße, ich wartete im Café Kröpke auf ihn. Eigentlich wollte ich schon hier mit der Ausarbeitung des Exposés beginnen, aber eine alte Frau, die sich an meinen Tisch setzte, wollte es nicht. Sie war seit fünf Jahren Witwe und bezog Pension. Ihr Mann war zu Lebzeiten was Höheres bei der Post gewesen. Vor einem Monat hatte sie eine Nachzahlung bekommen und sich davon eine Polstergarnitur gekauft, denn wenn man das Geld nicht gleich richtig anlegte, plemperte es sich so weg. Das wüßte ich sicher aus Erfahrung. Doch, das wußte ich.

Nach einer halben Stunde sah sie ihre Kränzchenfreundin vor dem gegenüberliegenden Warenhausfenster stehen. Sie bummerte gegen die Scheibe, vollführte eine treffliche Pantomime und eilte grußlos davon.

Ich holte meine Gedanken vom seligen höheren Postbeamten zurück zur Filmhandlung, als sich zwei graugekleidete Damen an meinen Tisch setzten. Die eine von ihnen, Frau Dr. Schön, hatte einen titelreichen Bekanntenkreis. Ich erfuhr eine Menge über ihre Freundinnen, Frau Senatsrat a. D., Frau Professor h. c., Frau Amtsgerichtsrat und Frau Apotheker (Apethäker ausgesprochen). Gerade heute hatte sie einen Brief von ihrer Schwägerin Frau Erste Bergrat bekommen. Einzig ihre Aufwartung nannte sie schlicht Frau Schulz und nicht Frau Reinemach. Ich weinte trocken vor mich hin, als wir aus dem dämmrigen Hannover hinausfuhren.

»Was fehlt dir denn, Julie?«

»Ein Titel. Ich möchte einen Titel, bitte. Alle Freundinnen von Frau Dr. Schön haben einen klangvollen Titel von ihrem Mann. Ihre Schwägerin nennt sich sogar Frau Erste Bergrat. Ich kann mich doch nicht Fräulein entlobte Vertreter nennen lassen. Wie klingt denn das!«

»Julie«, sagte Jürgen nach einer Weile besorgt, »mach mal Höhh! Ich möchte prüfen, ob du was getrunken hast.«

Anfangs inspirierte mich der Nebel zu einem modischem Vergleich. Ich bezeichnete ihn als tüllzarten Schleier. Später erinnerte er mich in Farbe und Dichte an unsere Roggenmehlsuppe nach 1945.

Zwischen Soltau und Lüneburg leistete ich mir weder Vergleiche noch Schweizer Träume. Ich betete, um Jürgens Flüche im himmlischen Ohr zu entschärfen.

Unter uns war schlüpfrige, runde Straße, vor und hinter uns lauerten – nun, im harmlosesten Fall die Stoßstangen anderer Wagen. Die Scheinwerfer brachen sich blaß an der dichten, schwimmenden Nebelwand.

Als Jürgen sagte, er habe gerade tanzende Geister gesehen, zog ich den Mantel über den Kopf.

»Angst?« fragte er.

»Klar. Du nicht?«

Gegen elf Uhr krochen wir in Hamburg ein.

»Ich bringe dich jetzt nach Hause und fahre dann in mein Büro, um die Nacht zwischen zwei harten Stühlen zu verwarten, denn ein Hotelzimmer bekomme ich während der Ausstellungszeit bestimmt nicht«, sagte Jürgen leidend.

»Was gibt's denn jetzt für Ausstellungen?«

»Na – eh, eine landwirtschaftliche Geräteschau und bei Planten un Bloomen eine Blumenausstellung.«

»Jetzt im Oktober?« wunderte ich mich.

»Natürlich. Man zeigt winterfeste Blumen.«

»Jürgen Kolbe«, sagte ich, »du lügst. Was willst du eigentlich?«

»Bei dir bleiben.«

Ich hätte jetzt schallend protestieren müssen, aber der Gedanke an meine verlassene Wohnung mit all ihren scherben- und liebereichen Erinnerungen und dem zwei Wochen dicken Staub bedrückte mich schon seit unserer Einfahrt in Hamburg. Ich mochte sie nicht allein betreten, wenigstens heute nacht nicht.

»Also gut. Du kannst meinetwegen auf der Couch im Wohnzimmer schlafen, aber nur diese Nacht und – falls du dir einbildest, daß – und so – kommt üüüüberhaupt nicht in Frage«, fügten ich streng hinzu.

Er schleppte unsere Koffer zum Fahrstuhl und versprach alles, was ich von ihm verlangte.

Meine Wohnung lag im vierten Stock eines Neubaus. Sie bestand aus zwei kleinen Zimmern mit schrägen Wänden und Nischen, einem Bad (königsblau gekachelt, bitte!) und einer Einmannküche. Man stieß sich laufend etwas in dieser Puppenwohnung: den großen Zeh, das Schienbein, den Kopf– und man stieß laufend etwas um: eine Holzplastik, die Lampe oder eine Blumenvase. (Wieviel Wasser eine Vase enthält, wird einem erst so recht bewußt, wenn man es aufwischen muß.)

Unser Abendbrot war recht eigenwillig aus dem zusammengestellt, was ich an Büchsen in der Küche fand. Es gab als Vorspeise Sardinen mit Keksen, danach folgten Hühnerbrühe mit Keksen und als Dessert Pfirsichkompott mit Keksen.

»Falls du noch Hunger verspüren solltest – ich habe Salz in der Küche und einen Arzneischrank voll Tabletten. Mehr kann ich dir nicht bieten.«

Jürgen saß schweigend im Sessel, während ich ein Laken über die blaue Couch breitete. Ab und zu blickte er mißbilligend auf seine Zigarette. Ich bezog eine Decke und reichte ihm die Hand. »Gute Nacht, Jürgen.«

»Bist du schon sehr müde? Ich hätte dir noch soviel zu erzählen.«

»Über Karin?«

»Nein«, sagte er. Fast tat er mir leid, wie er da so sehnsüchtig und seelisch verprügelt vor mir stand. »Träum schön«, seufzte er, »aber nichts Schweizerisches, in dem Grübchen vorkommen.«

Ich hatte schon das Licht gelöscht und mich auf die Schlafseite gerollt, da hörte ich ihn nebenan noch immer umherwandern, seufzen und stöhnen. Er quälte sich sogar zu einem Husten, um mein Mitleid zu erregen.

Schließlich öffnete er die Tür um einen Spalt, in dem sich die kantigen Umrisse seines Gesichts dunkel gegen das Licht im Wohnzimmer abhoben.

»Julie«, sagte er, »ich kann nicht auf der Couch schlafen.«

»Dann fahr ins Hotel.«

»Alle besetzt.«

»Spring in die Alster. In der ist bestimmt noch Platz. Mach die Tür zu.«

»Julie!«

»Gute Nacht.«

»Na schön.« Er knallte sie hinter sich ins Schloß, und die neben und unter uns in dem hellhörigen Neubau Wohnenden wußten: »Aha, die Verlobten haben sich wieder vertragen.«

Fünf Minuten später hörte ich gleichmäßige Atemzüge durch die Türritze. Jürgen schlief.

Ich lag noch eine Weile wach und dachte an zärtliche braune Augen, in die ich sicher nie mehr schauen würde.

Am nächsten Morgen war ich schlechter Stimmung. In der Badewanne fielen mir meine Finanzen ein. Finanzen – welch hochtrabender Name für achtundachtzig Mark fünfzig!

Ich erwartete zwar ein Honorar für einen Romanabdruck in einer Düsseldorfer Zeitung, aber wann würde das kommen? Morgen? In acht Tagen? Vier Wochen?

Honorar klingt eleganter als Lohn und Gehalt, aber letztere sind verläßlicher. Man kann zu einem festen Termin mit ihnen rechnen, sofern man bei einer halbwegs finanzkräftigen Firma beschäftigt ist. Honorare dagegen sind launisch und unberechenbar. Gehalt oder Lohn muß man haben – Honorare darf man sich leisten. Ich hatte nichts und leistete mir nur – in jeder Beziehung, und das ging meistens nicht gut.

Zerknirscht stieg ich aus der Wanne, zog mich an und lief durch einen vernieselten, grauen Morgen, dessen Farbe und Feuchtigkeit meine Stimmung nicht eben verbesserte, zum Kaufmann.

Als ich wieder nach Hause kam, schlief Jürgen noch. Er lag zusammengerollt auf dem zerwühlten Laken und hielt krampfhaft seine Nase fest, was diese zu einem pfeifenden Geräusch veranlaßte. Und er sah genauso aus wie der Junge, den er einmal haben würde – von Karin? Von einer anderen?

Ich deckte den Wangentisch in der Fensternische und klapperte dabei geräuschvoll mit dem Geschirr – ob aus Versehen oder mit Absicht, weiß ich nicht mehr.

Von der Couch kam ein Grunzen, das in Gähnen überging. Jürgen blinzelte zu mir herüber.

»Guten Morgen«, sagte ich.

»Grüezi, Grüezi, liebes Juleli«, rief er. »So sagt doch Grübchen, wenn er dich begrüßt?«

»Er sagt: Salü, liebe Juliane, wie hast du das nur so lange mit diesem albernen Mann ausgehalten?«

»Eh – er kennt mich doch gar nicht.«

Jürgen richtete sich auf den Ellbogen auf. »Gibt's Kaffee?«

»Sofort. Danach mußt du gehen.«

»Leider«, seufzte er. »Die Arbeit ruft. Er stieg aus dem Bett, und seine Finger spielten Harfe auf seinen Rippen. »Was machst du heute?«

»Ich fahre zu den Eltern. Mutti schrieb mir einen Jammerbrief nach Berlin. Seitdem Vati pensioniert worden ist und sich aktiv im Haushalt betätigt, hat sie viel zusätzliche Arbeit. Er kümmert sich um alles und steckt voller Ideen. Seine neueste: Er will Richard (unseren gelben Hauskater) scheren, damit er siamesisch aussieht.«

Jürgen schüttelte den Kopf. »Manche Männer benehmen sich zu komisch.«

»O jaaa –«

»Laß deine Anzüglichkeiten«, knurrte er. Beim Frühstück fiel ihm der Schweizer wieder ein.

»Was ist dein Grübchen überhaupt?« fragte er, gedankenvoll den Honig leckend, der vom Brötchen auf seinen Meinen Finger getropft war.

»Was er ist?« (Das fragte ich mich auch.) »Er hat Fabriken und viel, viel Geld.«

Ehe Jürgen ging, legte er hundert Mark auf meinen Teller.

»Was soll das? Soviel nehmen nicht mal die Jahreszeiten für eine Übernachtung in ihrem Fürstenzimmer.

»Julie –« jetzt war Jürgen sehr verlegen – »ich weiß, daß es dir im Augenblick nicht gut geht.«

»Ich brauche keine Almosen«, rief ich aufgebracht.

»Aber schau, ich habe in den letzten Jahren oft von deinem Geld gelebt, weil ich nichts verdiente. Darf ich mich nicht revanchieren?«

»Nein.«

»Also gut«, er griff nach dem Geld.

»Laß es liegen!« schrie ich erschrocken.

Zweites Kapitel

Jene Woche, in der ich das Exposé für den Lustspielfilm ausarbeitete, der beim Zahnarzt anfing und auf dem Standesamt endete, war eine einzige, beschwingte Stunde. Mein Held war Berner. Und er war leibhaftiger bei mir, als ihm dies leibhaftig je gelungen wäre. Er war ganz so, wie ich ihn mir wünschte – jungenhaft-männlich, herzlich, ritterlich …

Nur meinem gesunden Menschenverstand ist es zu verdanken, daß ich nicht eine jener gefährlichen Idealgestalten aus ihm machte, die über jede Schlampigkeit der Weltgeschichte siegen, ihrer Liebsten treu bis in den Tod sind und leuchtenden Auges für sie sterben, niemals vergessen, ihr in den Mantel zu helfen, und vor lauter Edelmut nicht dazu kommen, menschlich zu sein – so menschlich etwa wie der Mann, mit dem man etliche Jahre zusammenlebt.

Selbstverständlich erhielt sein gewalttätig-feiger Freund auch eine tragende Rolle. Ich behielt seinen Spitznamen »Büffel« im Exposé bei – er paßte wirklich gut zu ihm.

Ehe ich Günter Krämer anrief, um ihm meine Tat anzukündigen, fuhr ich zu meinen Eltern nach Blankenese. Sie halten einen Lesezirkel mit sechs Illustrierten, deren sechs Horoskope ich aufmerksam durchlas. Eins prophezeite mir häusliche Disharmonie. Das zweite: erfreuliche Tendenzen im Heim. Nummer drei frohlockte: Amor weicht nicht von Ihrer Seite. Laut dem vierten würden unerwartete Zwischenfälle meine Lage völlig verändern. »Kräfte sammeln!«

Oh, hätte ich doch nur Nummer vier mehr berücksichtigt und gesammelt! Aber ich kümmerte mich nur um Horoskop fünf und sechs, die sich beide darüber einig waren, daß sich mein Geldbeutel füllen würde.

Nummer fünf und sechs gläubig vertrauend, rief ich, ohne daß mir – wie sonst bei geschäftlichen Telefonaten – das Herz aus dem Halse klopfte, bei Krämer an.

»Günter, ich habe eine Lustspielidee für Sie! Mit viel Zahnarzt und menschlichen Schwächen und auch dem nötigen Schmus für Lieschen Müller.«

»Bringen Sie mir das Exposé«, sagte er, flog mit diesem und vier weiteren zur Auswahl stehenden Stoffen nach Berlin, und fünf Wochen später hielt ich meinen Vertrag in den ungläubigen Händen. So schnell und reibungslos war's noch nie gegangen.

»Paul Frank will die Regie übernehmen«, erzählte mir Krämer, und ich machte einen Luftsprung. Frank war einer unserer begabtesten Lustspielregisseure. Daß er meinen Stoff akzeptiert hatte, bedeutete für mich … »Frank sagte allerdings, Ihr Stoff enthalte viel Scheibenhonig, aber er könne was draus machen. Sie wissen ja, Juliane, kein Autor erkennt sich selbst wieder, wenn sein Stoff durch Franks Ideenmühle gemahlen worden ist.«

Das Drehbuch schrieb ich zusammen mit Herrn Aloisses, einem Mann, der dieses Metier seit zwanzig Jahren betrieb. Wir kämpften haßerfüllt und ehrgeizig miteinander. Ich war gegen das Einbauen von Gags, die sich bereits in zehn anderen Lustspielfilmen als Lacher bewährt hatten, und Aloisses raufte sich die Haare über meine Naivität in filmtechnischen Dingen. Aber eines Tages hatten wir's geschafft und trennten uns ohne Sentimentalitäten voneinander.

Wie stets nach einer intensiven Arbeitsperiode meldete sich das »Weib« in mir. Es wanderte unruhig durch die Miniaturwohnung, blieb endlich vor dem Spiegel im Schlafzimmer stehen und sagte: »Julchen, du hast eine Hummel im Hintern. Julchen, du mußt dringend unter Leute.«

Anschließend an diese Feststellung fuhr ich zu meinen Eltern. Da ich augenblicklich als begütert zu bezeichnen war, kam auch meine Schwester Susi aus ihrem Zimmer, um mich zu begrüßen. Das tat sie sonst nie.

Susi war Modeschülerin, einundzwanzig Jahre alt und hatte mir ebensolange nichts als Kummer bereitet. Als sie noch ein Baby gewesen war, hatte ich auf sie aufpassen müssen. Als sie größer wurde, verpetzte sie mich bei den Eltern. Seitdem sie erwachsen war, pumpte sie mich mit jener schamlosen Selbstverständlichkeit an, die nach ihrer Meinung ein geschwisterliches Verhältnis erlaubte. Sie borgte sich auch meine Kleider. Zum Dank dafür zeigte sie mir schadenfroh lächelnd, wie weit sie ihr in der Taille waren.

Susi war viel zu jung für eine Schwester und zu hübsch. Auch zu ehrlich. Als wir einmal gemeinsam über den Jungfernstieg gingen, sagte sie: »Komisch, früher guckten die Männer bloß dir nach, und heute stieren sie hauptsächlich auf mich.«

An jenem Vormittag, an dem ich meine Eltern besuchte, war sie das Thema einer geheimen Unterhaltung zwischen meiner Mutter und mir. Interne Diskussionen wurden bei uns von jeher im Badezimmer geführt, so auch diesmal. Mutti saß auf dem Wannenrand und ich auf dem weißlackierten Deckel daneben.

»Susi hat einen neuen Freund«, begann sie sorgenvoll.

»Na und, wie ist er? Bezaubernd? Himmlisch? Süß?«

»Er ist vor allem verwegen.« Sie fing die Asche ihrer Zigarette in der hohlen Hand auf und seufzte. »Susi behauptet, er sei verwegen.«

»In der Wahl seiner Schlipse und Socken – so wie ihr letzter Herzensmann?«

»Nicht nur«, sagte meine Mutter und machte Alarmaugen. »Gestern kam Susi um ein Uhr nach Hause, und Sonnabend war es noch später. Sie sagt, sie ginge mit Teddy – bürgerlich heißt er Karl-Heinz – am liebsten in die Nachtvorstellungen der Kinos.«

Mutti stieß ein zitterndes Seufzen aus. Ein pensionierter Mann mit hauswirtschaftlichen Ambitionen und eine Tochter, die mit Karl-Heinz-Teddy in Nachtvorstellungen ging – sie hatte es wirklich nicht leicht.

»Kannst du nicht mal mit Susi sprechen, Julie?« fragte sie, scheuchte mich von meinem weißlackierten Sitz, klappte ihn auf und spülte Stummel und Asche ihrer aufgerauchten Zigarette in die dunklen, feuchten Tiefen der Anonymität. Beim nachfolgenden Händewaschen begegnete sie ihrem Spiegelbild mit einem müden, lustlosen Gesicht.

»Du mußt mal heraus«, sagte ich. »Wir werden jede Woche einen Stadtbummel machen mit Kintopp und Sahnebaisers. Hinterher fahren wir zu mir. Du darfst Rock und Korsett öffnen, die Schuhe ausziehen, und dann klönen wir feucht.«

»Feucht klönen« heißt ins Hochdeutsche übersetzt: eine gepflegte Unterhaltung mit Alkohol über die intimsten Fehler und Vorzüge gemeinsamer Bekannter führen.

»Ich werde dich daran erinnern, denn ich hab's nötig. – Was macht eigentlich unser Entlobter?« fragte sie dann.

»Er hat seine Hotelodyssee aufgegeben und ist in Untermiete gezogen.«

»Und Karin?«

»… tröstet ihn so gut es geht darüber hinweg, daß er mich verlassen hat.«

Mutti lächelte genauso, wie jede andere Mutter in ihrem Falle gelächelt hätte – richtig schadenselig. Sie hatte damals intensiv mit mir mitgelitten und war glücklich, daß ich bei Onkel Julius in Berlin wieder lachen gelernt hatte. Wodurch – erzählte ich ihr allerdings nicht.

Die folgende Unterhaltung mit meiner Schwester war mir sehr peinlich und wurde zu drei Dritteln von ihr beherrscht.

»Die Alte Dame schickt dich, damit du mir die Leviten liest, ja? Liebe Jule, ich bin dir genausowenig wie irgend jemand anderem Rechenschaft schuldig. Ich bin über einundzwanzig Jahre und kann tun und lassen, was mir paßt. Teddy und ich werden heiraten. Wolltest du mir noch was sagen? Ich glaube nicht. Übrigens darfst du mir zehn Mark pumpen.«

Susi war eine schnelle, stotterfreie Sprecherin. Sie sollte sich ins Parlament wählen lassen.

Ich gab ihr die zehn Mark. Das war mein einziger Beitrag zu dieser Unterhaltung.

Kaum war ich in meine Wohnung zurückgekehrt, als schon das Telefon läutete. Der Regisseur Frank war am Apparat. Er sei zu einer Besprechung von Berlin nach Hamburg gekommen, sagte er, und er wünsche mich um vier Uhr im Büro der Grollig-Film zu sehen.

Besonders höflich fand ich ihn nicht. Sicher gehörte er zu denen, die zu rasch eroberter Ruhm zu der irrigen Annahme verführt hatte, Benehmen sei nur wichtig für gesellschaftliche und berufliche Anfänger. Ich wollte ihm dafür an Hand meines Benehmens beweisen, daß bescheiden und kniggekundig auftretende Prominenz jedem ungeschlachten Emporkömmling haushoch überlegen ist. (Hatte ich Prominenz gesagt? Hatte ich mich damit gemeint? Daß einen ein paar Scheine im Portemonnaie gleich größenwahnsinnig machen müssen!)

Ich zog mich sorgfältig an und dann noch dreimal um. Zehn Minuten vor vier entschied ich mich für das sandfarbene Kostüm mit den Persianertaschen. Er war viel zu leicht für die herrschende Dezembertemperatur, aber es war neu. Geputzt mit allen Raffinessen, die mein Kleiderschrank enthielt, verließ ich das Haus.

Mit zwanzig Minuten Verspätung erreichte die Drehbuchautorin Thomas – teuflisch elegant und klamm bis in die Knochen – das Hochhaus, in dem sich die Büros der Grollig-Film befanden. Im Paternoster nahm ich die vergoldeten Folterklammern für meine Ohrläppchen aus der Tasche (im Laden hatte ich sie unter dem Namen Clips gekauft) und klemmte sie voll eitler Tapferkeit an ihre Bestimmungsorte.

Meine Nase hatte noch nicht ihre Froströte verloren, da »ließ Herr Frank bitten.«

Krämers Sekretärin führte mich aus dem Vorzimmer, dessen Wände mit marktschreierischen Filmplakaten bepinnt waren, ins Chefbüro und schloß die Doppeltüren hinter mir.

Der Raum war niedrig und weit. Die hypermodernen Sessel führten den Streit der Plakate im Vorzimmer hier im Allerheiligsten weiter. Jeder war von einer anderen leuchtenden Farbe und bemühte sich darum, der auffälligste zu sein. Es sah ganz dekorativ aus: hier ein Rot, dort ein Grün, drüben ein Gelb, halb einem seufzenden Blau zugewandt, ein müdes Lila. Aber wehe, wenn eine Scheuerfrau einmal mit ihnen »Verwechsel die Stühlchen« spielte; eine tödliche Farbenbeißerei würde die Folge sein.

Vor einem der riesigen Schiebefenster stand Herr Frank. Er war groß und grauhaarig und drehte sich bei meinem Eintritt nicht um. Seine Finger trieben über dem Rückenschlitz seines braunen Sportsakkos ein nervöses Spielchen miteinander.

»Guten Tag«, sagte ich laut und kühl.

Da wandte er sich aufreizend langsam ins Zimmer und sah mich an.

»Also doch – die Sprechstundenhilfe!«

»Büffel –« hauchte ich.

Erinnern Sie sich noch an Horoskop vier?

»Unerwartete Zwischenfälle werden Ihre Lage völlig verändern. Kräfte sammeln!«

Dieses war der erste Zwischenfall.

Büffel alias Herr Frank wies auf einen zinnoberroten Sessel. »Bitte.«

»Danke.«

»Kognak?«

»Bitte.« Ich saß da und starrte demütig auf meine Hände, die am Verschluß der Handtasche nestelten. Und es war entsetzlich.

»Selbstverständlich bin ich zu Änderungen am Drehbuch bereit.« Meine Stimme klang so weit wie durch einen Telefonhörer beim Ferngespräch. Ich glaube wirklich, sie telefonierte aus der Unterwelt. Vielleicht war ich sogar schon den Tod der Peinlichkeit gestorben und zuckte bloß noch so ein bißchen wie ein Aal, dem man den Kopf abgeschlagen hat. Aber vielleicht träumte ich auch Alp. Bloß die Ohrclips zwickten so wirklich, und der Mann, der vor mir mit verschränkten Armen am Schreibtisch lehnte, war auch wirklich. Wirklich und unheimlich in seinem abwartenden Schweigen.

Ich blinzelte zu ihm auf. Die Zigarettenspitze zwischen seinen Zähnen klappte hin und her. Plötzlich begann mein Ersatzgehirn logisch zu denken. Es dachte: Wenn ein Mann, der sich bei der ersten Begegnung als Gewalttäter gezeigt hat, schweigt, wenn er Grund zu Gewalttätigkeiten hat, wenn dieses Schweigen dazu endlos dauert, so muß es die Stille vor einer schrecklichen Gewalttat sein.

Details

Seiten
Erscheinungsform
Neuausgabe
Jahr
2021
ISBN (eBook)
9783958243903
Dateigröße
1.6 MB
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (Mai)
Schlagworte
Frauenunterhaltung Frauenroman 50er Jahre Bestseller-Autorin Hamburg Zürich Marie Lamballe Micaela Jary Die Schwestern vom Kudamm Neuerscheinung ebooks
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Titel: Fräulein Julies Traum vom Glück
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