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Das Halsband der Taube

Historischer Roman - »Die Säulen der Welt«-Saga 1 | Ein Tempelritter in der Welt der Sarazenen und Assassinen

©2015 459 Seiten

Zusammenfassung

Tauch ein in eine Welt voller Sinnesfreuden – und tödlicher Gefahren! Der Bestseller „Das Halsband der Taube“ von E.W. Heine als eBook bei dotbooks.

Der Schrei zerreißt den letzten Sonnentag des Jahres 1231. Ein Dolchstoß nur, schon liegt Ludwig von Bayern in seinem Blut. Doch warum wurde der Tempelritter Adrian zum kaltblütigen Mörder – jener Mann, der im Geheimauftrag seines Ordens vor Jahren nach Persien aufbrach und seitdem als verschwunden galt? Nur einer kann das Rätsel lösen: sein Zwillingsbruder Orlando. Es gelingt ihm, nach einer gefahrvollen Reise in der Felsenfestung Alamut aufgenommen zu werden. Wie sein Bruder wird auch Orlando dort in die Lehren der Assassinen eingeweiht, jenem geheimen Orden von Attentätern – und wie Adrian vor ihm droht er, den betörenden Reizen der fremden Kultur zu verfallen …

Ein sprachgewaltiger historischer Roman über das Zeitalter der Kreuzzüge, die Intrigen von Papst und Kaiser, die faszinierende Welt der Sarazenen – opulent, kraftvoll, ein Erlebnis!

„Ein mittelalterlicher Spionageroman, eine geheimnisumwitterte Geschichte von Liebe, Tod und Haschisch.“ Focus

Jetzt als eBook kaufen und genießen: „Das Halsband der Taube“ von E.W. Heine. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Über dieses Buch:

Der Schrei zerreißt den letzten Sonnentag des Jahres 1231. Ein Dolchstoß nur, schon liegt Ludwig von Bayern in seinem Blut. Doch warum wurde der Tempelritter Adrian zum kaltblütigen Mörder – jener Mann, der im Geheimauftrag seines Ordens vor Jahren nach Persien aufbrach und seitdem als verschwunden galt? Nur einer kann das Rätsel lösen: sein Zwillingsbruder Orlando. Es gelingt ihm, nach einer gefahrvollen Reise in der Felsenfestung Alamut aufgenommen zu werden. Wie sein Bruder wird auch Orlando dort in die Lehren der Assassinen eingeweiht, jenem geheimen Orden von Attentätern – und wie Adrian vor ihm droht er, den betörenden Reizen der fremden Kultur zu verfallen …

Über den Autor:

E.W. Heine (1935–2023) wurde in Berlin geboren und studierte Architektur und Stadtplanung. Er verbrachte viele Jahre in Südafrika, wo er ein Architekturbüro unterhielt und verschiedene internationale Projekte realisierte. Parallel dazu widmete sich E.W. Heine seiner anderen Leidenschaft, dem Schreiben: Aus seiner Feder stammen neben dem Bestseller »Das Halsband der Taube« unter anderem Drehbücher, Sachbücher, historische Romane und die makabren Kille-Kille-Geschichten, die Kultstatus erreichten.

Zu E.W. Heines bekanntesten Werken gehört die Trilogie, in der er sich mit den großen Weltreligionen Islam, Judentum und Christentum auseinandersetzt: »Das Halsband der Taube«, »Der Flug des Feuervogels« und »Die Raben von Carcassonne«. Außerdem veröffentlichte er bei dotbooks den Roman »Das Geheimnis der Hexe«, auch bekannt unter dem Titel »Papavera – Der Ring des Kreuzritters«.

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eBook-Neuausgabe Dezember 2015, März 2024

Copyright © der Originalausgabe 1994 by Albrecht Knaus Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München

Copyright © der um ein Nachwort ergänzten Neuausgabe 2015 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/StockSmartStart, RODINA OLENA, RealArtStudios, 100ker, Mega Pixel und eines Gemäldes von Pontefract Castle

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (mm)

ISBN 978-3-95824-392-7

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E.W. Heine

Das Halsband der Taube

Historischer Roman – »Die Säulen der Welt«-Saga 1

dotbooks.

Teil I:
Der Auftrag

NON NOBIS DOMINE, NON NOBIS
SED NOMINI TUO DA GLORIAM

Nicht uns, Herr, nicht uns,
sondern Deinem Namen gib die Ehre

Losung der Templer

Kapitel 1

Wie ein Biberbau lag Burg Keltege im Strom. Das bemooste Gemäuer troff von Nässe. Grünschimmelige Schleier klebten wie Spinnengewebe an verrostetem Gitterwerk. Weiden und Wasserschierling wucherten auf den Wällen. Das Rauschen der Donau durchdrang die Mauern und eisenbeschlagenen Tore, ja selbst die Gedanken und den nächtlichen Schlaf. Geschwätzig und wissend wie eine alte Frau war der Fluß. Er behütete Hunnengold, Gotengräber, römische Ruinen, Marientaler und heimlich versenktes Hexengerät. Ewig und dennoch in stetem Wandel beherrschte der Fluß alle Wunder der Verwandlung. Mondlicht, das in milden Maiennächten auf dem Wasser lag, wurde beim Gesang der Nixen zu Silber. Sonnenstrahlen, die zur Sommersonnenwende den dunklen Grund der Donau erreichten, gerannen beim Geläut der Glocken zu Gold. Allwissend wie Gott war der Strom. Er wußte von dem Fluch, der an jenem Morgen zwei Tage vor Lamberti über der hölzernen Brücke hing. Die Wellen erwarteten ihr Opfer.

Als Ludwig der Kelheimer an jenem Septembermorgen hinüberblickte zu der hölzernen Brücke, die die herzogliche Insel mit Kelheim verband, war seine Lebensuhr abgelaufen. Man schrieb den 15. September Anno Domini 1231.

Täglich zur gleichen Stunde besuchte der Herzog seine Stadt. »Inspectio« nannte er diesen Gang durch die Gassen. Sein Sohn, etliche Ritter, eine Schar von Höflingen und die Hunde der Herzogin begleiteten ihn.

An jenem Morgen lockte die spätsommerliche Sonne wohlig warm. Wildenten trieben mit gespreiztem Gefieder im Flachen, umschwirrt vom Tanz der Mücken über dem Ufermorast. Selbst die scheuen Wasserratten hatten sich hervorgewagt. Die angeleinten Hunde verbellten sie.

Als Ludwig die Brücke erreichte, sah er auf der anderen Seite den Mann. Er stand dort, als habe er den Herzog erwartet. In der Linken hielt er ein aufgerolltes Pergament. Ludwig liebte es nicht, wenn man ihn während seines Stadtganges belästigte. Die Kelheimer wußten das und richteten sich danach. Der Fremde hatte den Oberkörper vorgeneigt. Sein Gesicht war nicht zu erkennen. Das blonde Haar leuchtete in der Sonne. Er trug es lang wie ein Freier. Er wirkte sehr jung und trotz seiner bittenden Haltung kühn, ja fast anmaßend.

Die Hunde begannen zu bellen und zu reißen.

»Weg da! Aus dem Weg!« rief der Höfling, der sie führte.

»Laß das!« sagte Ludwig. »Jedermann verdient, daß man ihn anhört.«

Er befand sich jetzt mit dem Fremden auf gleicher Höhe und wollte nach dem Pergament greifen, als jener einen Schritt vortrat und dem Herzog ein Stilett durch den Hals stieß. Es geschah so schnell und überraschend, daß weder Ludwig noch seine Begleiter das Entsetzliche zu fassen vermochten. Mit weit aufgerissenen Augen, mehr erstaunt als erschrocken, betrachtete der Herzog seinen Mörder. Die Hände umklammerten die klaffende Wunde. Der Herzog wankte. Dann schlug er zu Boden wie ein Baum, durch dessen Stamm die Säge gefahren ist. Sein Sturz löste die Männer aus ihrer Erstarrung. Wie Pfeile vom Bogen schwirrten die Schwerter aus der Scheide. Während der Herzog grauenvoll röchelnd sein Leben aushauchte, zerhackten seine Ritter den Mörder mit grimmigen Hieben. Es war ein so gräßliches Gemetzel, daß der herbeigerufene Wundarzt glaubte, er hätte es mit vielen Verwundeten zu tun. Die Rächer trieften vom Blut ihres Opfers. Dem Fremden fehlten beide Arme und ein Fuß. Seine Eingeweide klebten in Fetzen zwischen den Brettern der Brücke. Der Anblick war derart ekelhaft, daß die Höflinge Sand über den Leichnam warfen und die abgeschlagenen Gliedmaßen kurzerhand in die Donau stießen.

Für den Herzog kam jede Hilfe zu spät. Er erlitt den Tod, den man für den allerschlimmsten erachtete. Unvorbereitet, ohne Beichte und ohne Sterbesakramente hatte ihn ein grausames Geschick aus dem Leben gerissen. Sie hatten den Toten mit seinem Mantel zugedeckt. Er lag rücklings auf den Planken und wartete auf seine würdige Heimholung. Keiner der Herbeigelaufenen sprach. Alle waren wie gelähmt von dem Fluch, der auf diese Brücke gefallen war.

Wer war der Mörder? Warum hatte er das getan?

Ludwig war kein Tyrann. Seine Untertanen liebten ihn. War es die Tat eines Wahnsinnigen? Oder hatte der Meuchelmörder im Auftrag einer höheren Macht gehandelt? Gab es Mitverschwörer unter den Begleitern des Herzogs? Warum hatten sie es so eilig gehabt, den Täter zu richten? Fürchteten sie, er könne unter der Folter Namen nennen? Was hatte in dem Brief gestanden, den der Fremde dem Herzog überreichen wollte? Sie suchten ihn vergeblich. Hatte ihn der Fluß davongetragen? Oder hatte ihn jemand an sich genommen?

Endlich wurde der Leichnam auf einen Leiterwagen gehoben, zwei Rappen davor. So zogen sie ihn durch die Stadt am Strom, eingesponnen in Nebel und Schwermut, vorbei an grauem Mauerwerk, von der Zeit zerfressen, an dramatisch vernutzten Treppen. Lattenzäune: zerbrochen, lückenhaft wie grinsende Greisenmünder. Rieddächer: schief, viel zu groß auf verkrüppeltem Fachwerk, Narrenkappen auf Kinderköpfen. Und immer wieder Stege, Brücken, Bogen, Übergänge, denn die Stadt war voller Kanäle. In den Gassen trockneten geflickte Netze. Fisch, das Fleisch der Armen, gab es in feuchter Fülle. In unverglasten Fensterlöchern drängelten sich Blumentöpfe, stumpfe unglasierte Scherben. Wäsche trocknete im Wind neben Zwiebelzöpfen, Dörrfisch und Kräutersträußen: Baldrian, Borretsch und Bohnenkraut.

Stolz streckte die Stadt ihre Türme zum Himmel: Wehrtürme, Wachtürme, Schuldturm und Rathausturm, vor allem jedoch die Glockentürme der Gotteshäuser, von denen jetzt die Totenklage gellte.

***

Noch selbigen Tages wurde der abgeschlagene Kopf des Attentäters öffentlich ausgestellt. Das geschah nicht wie üblich vor dem Stadttor, sondern in der zugigen Durchfahrt des Torhofes, um die rasche Verwesung zu verzögern. Der Kopf steckte auf einer Lanze. Die offenen Augen waren glanzlos wie die Augen von Flußfischen, die nicht am Fangtag verkauft werden. Zwei Wachen standen Tag und Nacht dabei, um den Kopf vor dem Zorn der Kelheimer und der Gier der Raben zu beschützen. Ein Trommler verkündete dem gaffenden Volk, daß eine Belohnung von vier Pfund Heller in Silber auf denjenigen warte, der Name und Herkunft des Mörders zu nennen vermöchte.

***

Zu Lamberti ritten vier geistliche Herren durch das Stadttor von Kelheim. Es waren dies Abt Babo von Biburg und Abt Sylvester von Weltenburg, in Begleitung der beiden Tempelherren Domenicus von Aragon und Ferdinand Le Fort.

Als die Reiter den aufgespießten Kopf passierten, der sich mit ihren Gesichtern in gleicher Höhe befand, stieß Domenicus einen so wilden Schrei aus, daß sein Schimmel scheute und ihn abwarf.

In der Nacht – sie war mondlos und windig – kehrten die beiden Tempelherren zurück. Im Licht der Stallaterne untersuchten sie den abgeschlagenen Kopf. Sie betasteten das blutige Haar und blickten in den geöffneten Mund.

Am Hals oberhalb der Stelle, wo man den Kopf vom Rumpf gehackt hatte, entdeckten sie eine Kette von rätselhaften Hautmalen.

»Was sind das für seltsame Narben?«

»Sieht aus wie eingebrannt.«

»Nein, wie Bisse, Vampirbisse oder Teufelskrallen.«

Die Männer bekreuzigten sich.

»Ihr kennt den Mann?« fragte die Wache.

»Da behüte uns Gott vor«, erwiderte Domenicus, der jüngere der beiden Templer.

Als sie heimritten in ihre Herberge, sagte er: »Ich habe ihn sofort erkannt. Das Baphomet-Brandmal unter seinem Nackenhaar ...«

»Ich habe es gesehen. Es gibt keinen Zweifel.«

»Aber diese seltsamen Narben auf seinem Hals, was haben die zu bedeuten? Sie waren älter als der Tod des Mannes. Sie waren bereits vernarbt. Ich habe niemals zuvor dergleichen gesehen.«

»Mein Gott, einer von uns! Wie ist das möglich? Das kann doch nicht sein.«

»Stultorum plena sunt omnia. Die Welt ist voll von Torheiten.«

Kapitel 2

Einen Tagesritt von Paris entfernt, in der Templerfeste Jisur, hatten die Fratres capellani, die geistlichen Ordensbrüder, die Morgenmesse mit einem Tedeum beendet. Die Fratres milites, die Templer, die vornehmlich für den Kampf ausgebildet waren, sattelten in den Ställen ihre Pferde für die leichte Attacke, mit der der tägliche Waffendrill begann. Die Fratres servientes, die Handwerker, waren seit Sonnenaufgang bei der Arbeit, um das trockene Wetter auszunutzen. Auf dem Dach der Mälzerei hämmerten die Zimmerleute. Die Baumeister, die Brüder der Freiheit hießen, mischten Kalkmörtel für die neuen Kemenaten des Kastellan. Aus der Schmiede klang das glockenhelle Schlagen der Brüder der Pflicht.

In den unteren Klostergärten zwischen Wald und Fischwasser war Orlando damit beschäftigt, einen Hamsterbau auszuheben. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn, während sein junger Gehilfe weiterschaufelte. Plötzlich rief dieser: »Seht nur, seht! Wir haben sein Versteck gefunden.« Der Boden war eingebrochen. Darunter kam ein Hohlraum zum Vorschein. Orlando kniete nieder, um die lehmige Erde mit den Händen fortzuräumen. Goldene Getreidekörner quollen hervor.

»Schau dir das an«, sagte Orlando. »Er hat das Hundertfache seines Körpergewichtes geerntet und gespeichert, ohne Sichel, ohne Sack und ohne Wagen. Kein Bauer könnte das. Diese Körner liegen seit fast einem halben Jahr unter der Erde, ohne zu keimen und ohne zu faulen. Wie schafft der Bursche das nur? Wenn wir dahinterkämen, wie er das bewerkstelligt, so bräuchten wir keine Scheunen und keine Speicher.«

Sie füllten vier Säcke mit Weizenkorn.

»Das ist nichts im Vergleich mit dem Tannhäher«, fuhr Orlando fort. »Der sammelt mehr als hundert mal tausend Bucheckern, die er auf über tausend Baumhöhlen verteilt. Und er findet sie fast alle wieder, so wie die kleine Sumpfmeise, die sich viele tausend Verstecke merkt. Meister im Lagerhalten ist jedoch der Maulwurf. Er sammelt Hunderte von Regenwürmern in einer Speisekammer unter der Erde, gleich neben seiner Schlafkammer. Er beißt ihnen den Kopf ab. Das bringt die Würmer nicht um, aber sie können nicht mehr fortkriechen. So hat der Maulwurf im Winter stets Frischfleisch am Bett. Die, die er nicht auffrißt, machen sich im Frühjahr aus dem Staub, weil ihnen bis dahin der Kopf nachgewachsen ist. So wird kein einziges Würmchen vergeudet. Fascinatio nugacitatis. Welche Faszination selbst im Kleinsten!«

»Ich glaube, da ruft einer nach uns«, sagte der Junge.

Oben auf dem Hügel bei der Klostermauer stand Bruder Bernhard. Er winkte mit den Armen. Orlando verstand nur: »Gemini ... zum Großmeister ...«

Peter von Montaigu, der Großmeister der Templer zu Paris, stand an einem der hohen Fenster seiner Komturei und blickte hinab auf den Kreuzgang, in dessen Arkaden sich die Tempelritter nach dem Complet versammelt hatten. Ihre weißen Mäntel mit dem roten Kreuz über der linken Schulter wehten im Wind. Der Großmeister fragte seinen Sekretär, der an einem Stehpult Federkiele spitzte: »Ist der Gemini gekommen?«

Orlando und Adrian da Padua waren Zwillinge. Da niemand sie zu unterscheiden vermochte, nannte man sie: Gemini, die Zwillinge.

Die hohe Tür wurde geöffnet. Ein Mann betrat den Raum, groß, hager, Mitte Dreißig. Sein Haupthaar war stoppelig wie Igelfell. Ein breiter Bart umrahmte sein Gesicht. Abwartend verharrte er in dem dunklen Viereck der Tür; eine eigenartige Mischung aus bäuerlicher Grobheit und verletzlicher Empfindsamkeit, eine Art, wie man sie bisweilen bei Pferden und Hunden antrifft, wenn sich edle Zucht und Wildwuchs paaren. Die sinnlichen Lippen und Nasenflügel standen in erstaunlichem Gegensatz zur Breite seines Kinns und dem prächtigen Raubtiergebiß. Seine wasserblauen Augen bewegten sich ungewöhnlich lebendig, wie die eines jungen Tieres. Überhaupt hatte er zu den Tieren ein innigeres Verhältnis als seine Zeitgenossen, was vielleicht daran lag, daß er wie die meisten Vierbeiner aus einer Mehrlingsgeburt stammte. Vom Augenblick der Zeugung an war er wie ein Wurf Tiere mit anderem Leben vom gleichen Fleisch und Geist herangereift. Der vorgeburtliche Kontakt mit seinem zweiten Ich hatte ihm Zugang zu Welten verschafft, die anderen verschlossen waren. Sie konnten miteinander reden, ohne zu sprechen, eine Gabe, wie sie den Tieren eines Rudels oder den Immen eines Volkes gemeinsam ist.

Wer ihn nicht kannte, mochte ihn leicht für phlegmatisch halten. Er bewegte sich mit der kraftvollen Gemächlichkeit eines Bären. Zu seinem Körper hatte er ein Verhältnis, wie es Hauskatzen eigen ist. Er wußte instinktiv, er konnte sich im richtigen Augenblick auf ihn verlassen, hielt aber den Zustand der entspannten Ruhe für die natürliche Daseinsform.

»Setz dich, Bruder Orlando, ich muß mit dir sprechen«, sagte der Großmeister. »Drei Sommer ist es her, daß wir deinen Bruder in geheimer Mission nach Persien geschickt haben. Spätestens zu Chilligani sollte er zurück sein. Er kam nicht.«

»Der Weg ist weit und voller Gefahren.«

»Er kennt sie alle. Er ist einer unserer besten Männer. Aber er ist seit acht Monaten überfällig. Hast du eine Erklärung dafür?«

»Wie kann ich ...?«

»Man sagt, Zwillingskinder seien miteinander verbunden wie ein Leib. Erzähl mir von deinem anderen Teil... Was für ein Mensch ist Adrian?«

»Ihr kennt ihn.«

»Wer kennt schon die Menschen. Tempora mutantur et homines in illis. Die Zeiten ändern sich und mit ihnen die Menschen. Erzähl mir von Adrian.«

»Er ist wie ich.«

»Dann erzähl mir von dir, nein, erzähl mir von der, die euch geboren hat, von deiner Mutter.«

»Wir wurden nicht geboren. Wir wurden aus dem Leib einer Sterbenden herausgeschnitten. Sie hat die Geburt nicht überlebt.«

»Und ihr Gemahl, dein Vater?«

»Sie war nicht die Gemahlin unseres Vaters. Sie war seine Geliebte. Wir, ihre Söhne, waren Bastarde, von Adelstitel und Erbfolge ausgeschlossen.«

Der Großmeister wischte den Einwand beiseite:

»Ein Bastard zu sein bedeutet, eine Mutter zu haben, die so hervorragende Eigenschaften besaß, daß sie von einem Hochwohlgeborenen um ihrer selbst willen geliebt wurde und nicht aus irgendwelchen heiratspolitischen Erwägungen, wie das bei vielen anderen adeligen Müttern der Fall ist. Gewiß war sie schön.«

»Auf dem Abbild, das unser Vater aufbewahrte, war sie von edlem Wuchs und anmutigem Antlitz, eine Aragonesin mit arabischem Blut in den Adern.«

»Und dein Vater?«

»Er starb in der Schlacht bei Las Navas de Tolosa. Ein Almohadenpfeil hatte beide Oberschenkel durchschlagen. Festgenagelt an sein Pferd verblutete er, ohne zu fallen. Er starb aufrecht wie ein Baum.«

»So sehr haßte er die Sarazenen?«

»Er kämpfte im Heer der christlichen Königreiche, um die Iberische Halbinsel von den Muselmanen zu befreien, aber er erlernte ihre Sprache, las ihre Bücher, liebte arabische Lyrik und Lebensart.

Er war wie ein Jäger, der seine Beute hetzt und liebt. In seinem letzten Willen verfügte er, daß seine Söhne vor allem im Arabischen unterrichtet würden.«

»So sehr liebte er die Sarazenen?«

»Et verba et arma vulnerant. Das war sein Wahlspruch. Worte verwunden wie Waffen, und wer seine Waffen beherrscht, beherrscht seinen Gegner. Sprachkenntnis ist Waffenkunde.«

»Ihr wurdet am Hof Alfons des Achten erzogen.«

»Wir lernten alles, was ein christlicher Ritter können muß. Wir sprachen Spanisch und Französisch, wenig Latein und viel Arabisch, die Sprache der Gebildeten bei Hof.«

»Das war der Anlaß, weshalb der Orden Adrian nach Persien entsandte. Er kam nicht zurück.«

»Er wird kommen.«

»Was macht dich so sicher?«

»Wie könnt Ihr zweifeln? Er ist ein Templer.«

Der Großmeister gab seinem Sekretär ein Zeichen. Die Tür zu einem Nebengemach wurde geöffnet. Domenicus trat herein.

»Du kennst ihn?«

»Aber ja, gewiß. Bruder Domenicus von Aragon. Ich kenne ihn.«

»Erzähl uns, was du in Kelheim gesehen hast«, sagte der Großmeister. »Füge nichts hinzu und verschweige nichts.«

Domenicus berichtete von der Bluttat auf der Donaubrücke, von dem Meuchelmörder, den die Ritter des Bayernherzogs zerhackt hatten, von dem abgeschlagenen Kopf im Regensburger Tor.

»Du hast den Toten erkannt?« fragte der Großmeister.

»Ja.«

»Nenne uns seinen Namen.«

»Horribile dictu! Es ist zu schrecklich!«

»Sprich!«

»Es war ...«, Domenicus zögerte, »es war der Gemini.«

»Der Gemini? Mein Bruder? Das ist nicht Euer Ernst! Wie kannst du ...? Du bist von Sinnen! Welch ein Wahnsinn! Adrian ist bei den Persern. Wie kann er da an der Donau sein? Und warum sollte er den Herzog von Kelheim erdolchen?«

Orlando war aufgesprungen. Er zeigte erregt auf Domenicus und rief zum Großmeister gewandt: »Er lügt, oder er ist einer Täuschung zum Opfer gefallen. Ihr glaubt doch nicht allen Ernstes, daß ...«

»Er war es«, unterbrach ihn Domenicus. »Ferdinand Le Fort ist mein Zeuge. Ein Irrtum ist ausgeschlossen. Da war nicht nur die unverwechselbare Ähnlichkeit der Gesichtszüge. Das Baphomet-Mal hinter dem linken Ohr. Ein Irrtum ist ausgeschlossen. Ich kannte ihn gut.«

»Du sagst, du kennst ihn und behauptest, er sei ein Mörder, erschlagen wie ein tollwütiger Hund? Adrian? Wie kannst du es wagen?« Orlando ballte die Fäuste. Seine Augen sprühten vor Zorn und Verachtung.

»Omnia aequo animo ferre sapientis. Es verrät einen Weisen, wenn man Leid mit Gleichmut erträgt«, sagte der Großmeister.

»Es ist nicht wahr!« schrie Orlando. »Wenn Adrian etwas zugestoßen wäre, so würde ich es wissen. Er ist mein Zwillingsbruder. Er lebt! Ich weiß es mit meinem Herzen. Er lebt!«

»Er ist tot«, sagte Domenicus. »Der Herr erbarme sich seiner Seele. Requiescat in pace!«

»In Ewigkeit. Amen«, ergänzte der Großmeister.

Kapitel 3

Zu Allerseelen, im Anschluß an die Laudes, dem mittäglichen Stundengebet, fand im großen Turmzimmer über dem Palatium eine Zusammenkunft statt. Nur wenigen Eingeweihten war das Betreten dieser Räume gestattet. So wie die Chorkrypta als die Herzkammer des Ordens galt, so war das Palatium das Gehirn der Organisation. Hier lagerte hinter ellendicken Mauern das Zentralarchiv der Templer.

Zwölf Männer saßen um einen runden Tisch aus blankpoliertem Kastanienholz. Durch die schießschartenengen Turmfenster sickerte nur spärlich Licht. Das Geschrei der Seine-Fischer, die ihre Boote für die Allerseelen-Flußprozession herrichteten, wehte wie aus weiter Ferne herauf. Novembernebel verhüllten den Tag.

»Wir haben den Fall Gemini zur Genüge disputiert«, sagte der Großmeister. »Ich habe den Inneren Rat einberufen, um euch über die angeforderten Texte aus Bayern zu informieren. Vor allem jedoch will ich euch davon in Kenntnis setzen, was der Orden zu tun gedenkt, um den Verrat aufzuklären. Wir kennen die Tat, das Opfer und den Mörder. Unbekannt ist das Motiv. Wer steckt dahinter?

Vor euch liegen die Annalen einiger bayerischer Klöster, die das Vertrauen Herzog Ludwigs besaßen und die mit den politischen Verhältnissen bestens vertraut sind. Ich habe Abschriften anfertigen lassen. Die Annalen des Klosters Weltenburg zwei Tage vor Lamberti Anno Domini 31 (15. September 1231) vermerken über den schicksalsschweren Tag:

Dux Bavarie, procurante imperatore, a quodam sicario occiditur; sed ille nisus fugere trucidatur. (Der Herzog von Bayern wurde auf Anstiften des Kaisers von einem Meuchelmörder getötet. Dieser wurde auf der Flucht erschlagen.)

Abt Hermann von Alteich, der als Beichtvater das Vertrauen des Herzogs besaß, wird noch deutlicher. Er schreibt: Ludvicus, dux Bavarie, presente familia sua a quodam ignoto pagano cultro percussus obiit et hoc apud Chelheim insidiis domini Friderici Imperatoris. (Ludwig, Herzog von Bayern, wurde in Gegenwart seiner Familie von einem Unbekannten mit einem Dolch durchbohrt und starb. Das geschah zu Kelheim auf Anstiften seines Herrn, des Kaisers Friedrich.)

Die übrigen Abschriften könnt ihr selbst einsehen. Besonders interessant erscheint mir der Kommentar der Augustiner Chorherren:

Ludvicus dux Bavarie a quodam Sarraceno nuncio ›Vetuli de Montanis‹ in medio suorum est occisus. Hoc autem conscientia imperatoris creditur gestum esse, quia imperator ipsum ducem paulo ante dissidaverat in rebus et in persona, misso ad hoc nuncio speciale. (Der Herzog wurde inmitten der Seinigen durch einen Sarazenen, einen Abgesandten des Alten vom Berge, ermordet. Man glaubt, daß dieses mit Wissen des Kaisers geschehen sei, weil es zwischen ihm und dem Herzog kurz zuvor zu heftigen Meinungsverschiedenheiten gekommen war.)

Alle bayerischen Schreiber sind sich darin einig, daß der Kaiser hinter dem Attentat steht. Die Chorherren erwähnen als einzige den Alten vom Berge und seine Sarazenen. Die Augustiner unterhalten sehr gute Beziehungen zum Hof in Sizilien. Ihr Abt half Kaiser Friedrich bei der Abfassung seines mehrbändigen Werkes über die Falkenjagd.«

»Was hat das mit den Sarazenen zu tun?«

»Wie ihr wißt, besteht die kaiserliche Leibwache aus Sarazenen, die ihrem christlichen Herrn so treu ergeben sind wie Hunde. Selbst der päpstliche Bannstrahl vermag sie nicht zu schrecken.«

»Eine Leibwache und ein Mord sind zweierlei«, sagte der alte Girac, den sie auch den Admiral nannten, denn er hatte viele Jahre den Oberbefehl der Templerflotte auf Zypern innegehabt. »Ist es Kaiser Friedrich zuzutrauen, daß er ungläubige Fanatiker damit beauftragt, einen christlichen Fürsten zu ermorden? Glaubt ihr das wirklich?«

Er blickte in die Runde, und als er nicht die Spur eines Zweifels in den Mienen seiner Ordensbrüder entdeckte, resignierte er: »O Herr, so weit ist es mit uns gekommen. Wir haben mit unserem Blut das Heilige Land von den Ungläubigen befreit, und unser Kaiser kauft muselmanische Meuchelmörder, um seine Hausmacht zu erweitern.«

»Es obliegt uns nicht, über Kaiser Friedrich zu urteilen«, sagte Großmeister Montaigu. »Wir müssen herausfinden, warum einer von uns diesen Mord ausgeführt hat. Hat er für den Kaiser oder für den Alten vom Berge gearbeitet? Geschah es freiwillig? Oder war er ein willenloses Werkzeug? Er kann nur unter Zwang gehandelt haben. Welch Teufelswerk hat ihn dazu verleitet, Orden, Eid und Auftrag zu verraten? Er war einer unserer besten Männer!

Warum hat er sein Leben einer fremden Macht geopfert? Er hatte nicht die geringste Chance, mit dem Leben davonzukommen. Welch magische Kraft hat ihn so verblendet? Wir müssen es herausfinden. Und wir werden es herausfinden.«

»Was habt Ihr vor?« fragte Girac.

»Ein griechisches Sprichwort lautet: Niemand vermag zweimal in den gleichen Fluß zu steigen.

Wir werden es tun. Der gleiche Mann wird an derselben Stelle noch einmal in den Strom der Zeit steigen, so, als wären die letzten zwei Jahre nicht verflossen. Wir werden den Gemini noch einmal zu den Assassinen schicken. Niemand außer ein paar Ordensbrüdern weiß, daß er ein Zwilling ist. Er wird den gleichen Weg noch einmal gehen, um herauszufinden, was sich ereignet hat. Er wird noch wachsamer und gewappneter sein müssen als beim erstenmal. Wir werden ihn gut darauf vorbereiten.«

»Das wird auch nötig sein«, rief einer der Anwesenden, »denn dieser Zwillingsbruder ist kein Frater milites, sondern ein serviens.«

»Habe ich recht gehört?« fragte der Admiral, »Ihr meint, er ist ein Blaurock?«

»Ein Bruder der Pflicht«, sagte der Großmeister.

»Ein Schmied«, empörte sich der Admiral. »Ihr wollt einen Schmied zu den Assassinen schicken? Das ist nicht Euer Ernst. Einen Hufschmied ...«

»Laßt die Übertreibung. Ihr wißt sehr wohl, daß alle Ordensbrüder den Umgang mit der Waffe erlernen.«

»Laien, Anfänger«, schnaubte der Admiral verächtlich. »Schlachtvieh für die Sarazenen. Bei meiner Ehre ...«

»Wir haben keine Wahl«, schnitt ihm der Großmeister das Wort ab. »Es gibt keinen anderen Zwilling. Nur Orlando kann den Weg noch einmal gehen. Für den größten Teil der Reise werden wir ihn mit Geleitschutz versorgen.«

»Was gedenkt Ihr zu unternehmen?«

»Zacharias von Ratzenhofen wird ihn begleiten.«

»Nie gehört. Wer ist das?«

»Ein hervorragender Kämpfer.«

»Wann und wo empfing er die Ordensweihe?«

»Er wird sie demnächst empfangen.«

»Ein Novize!« stöhnte der Admiral. »Ein Novize und ein Hufschmied. O tempora, o mores!«

»Er ist achtzehn«, sagte der Großmeister, »so alt wie David, als er den Goliath erschlug, so alt wie Alexander der Große, als er aufbrach, die Welt zu erobern.«

Der Großmeister erhob sich zum Zeichen, daß die Versammlung beendet war. »Abschließend möchte ich noch bemerken, daß ich Bruder Benedict damit beauftragt habe herauszufinden, ob Kaiser Friedrich hinter dem Attentat steht.«

»Welchen Bruder Benedict?«

»Mus microtus, die Wühlmaus.«

»Und wie soll er das bewerkstelligen?« fragte der alte Girac.

»Pecunia amicos invenit. Wer Geld hat, hat überall Freunde.«

***

Nur sein Schreiber Gal, ein hagerer Riese von der Frieseninsel Juist, war anwesend, als der Großmeister noch am gleichen Tag ein Gespräch mit Orlando führte. Er sagte: »Du und dein Begleiter, ihr werdet nach Narbonne reiten. Von dort bringt euch ein Schiff nach Alexandria. Hier werdet ihr euch einer Karawane anschließen, die nach Osten zieht. Jenseits des Euphrat seid ihr allerdings ganz auf euch selbst angewiesen. Von diesem Teil der Erde wissen wir nur wenig. Euer Ziel ist das Hochland von Dailam, eine wilde, unerschlossene Gebirgswelt südlich des Meeres, welches das Kaspische heißt. Der Herr dieser Schluchten ist Hasani Sabbah, den sie den Alten vom Berge nennen. Er ist der Quaim, der Großmeister eines islamischen Ordens von Mönchsrittern, der erstaunliche Gemeinsamkeiten mit unserem Orden aufweist. Unglaublich klingt, was von ihrem Todesmut berichtet wird. So heißt es in einem Bericht des Erzbischofs Wilhelm von Tyros:

›Assassinen nennen sie sich. Die Herkunft ihres Namens ist unbekannt. Sie leben in den Bergen und sind nahezu unbezwingbar, denn sie können sich in wohlbefestigte Burgen zurückziehen. Ihr Land ist nicht fruchtbar. Daher halten sie sich Vieh. Sie gehorchen einem Meister, dem Alten vom Berge, der alle Fürsten nah und fern in größte Furcht versetzt, denn das Band der Ergebenheit, das dieses Volk mit seinem Führer verbindet, ist so stark, daß es keine Aufgabe gibt – und koste sie das Leben –, die nicht jeder von ihnen ohne zu zögern übernehmen würde. Wenn es jemand wagt, sich ihnen entgegenzustellen, so überreicht der Alte vom Berge einem seiner Gefolgsleute den Dolch. Wer immer den Befehl erhält, bedenkt weder die Folgen der Tat, noch die Möglichkeit des Entkommens. Er wird das Urteil vollstrecken.‹«

Der Großmeister schlug das Buch zu, aus dem er gelesen hatte.

»Wir Templer sind die Elite der Ordensritter. Kein anderer christlicher Ritter kämpft so kühn wie wir. Niemals wurde für einen gefangenen Templer ein Lösegeld gezahlt. Und weil der Feind das weiß, werden unsere Männer bei Gefangenschaft grundsätzlich getötet. Sie kämpfen auf Leben und Tod. Ihnen bleibt keine andere Wahl. Und dennoch sind wir nichts im Vergleich zu diesen Todesengeln, die sich Assassinen nennen, und die nichts und niemand aufzuhalten vermag.«

Der Großmeister legte Orlando die Hände auf die Schultern. Er blickte ihm tief in die Augen und beschwor ihn: »Finde heraus, wie es dieser Alte vom Berge fertigbringt, daß sich seine Anhänger so todesmutig und scheinbar freudig für ihn opfern! Und nicht nur seine ergebenen Anhänger, sondern sogar einer aus unseren eigenen Reihen. Wie bewerkstelligt er das? Woher in drei Teufels Namen nimmt er diese ungeheure spirituelle Überlegenheit? Ich muß es wissen. Diese Hundesöhne verfügen über eine Geheimwaffe, vor der alle Welt zittert, und das zu Recht. Ist es Magie? Ich glaube nicht an Zauber. Ist es eine Droge, eine heilsbringende Reliquie, ein Gral, eine neue Art von Gehirnmanipulation oder etwas völlig Unbekanntes?

Finde es heraus! Aber sei auf der Hut! Unterschätze ihre Macht nicht! Sei stets eingedenk, wie es deinem Bruder ergangen ist! Dein Auftrag erfordert die Vorsicht des Fuchses und die Schläue der Schlange. Ich kann dir nicht raten, was du tun sollst, denn ich weiß nicht, was dich dort erwartet. Wir werden für dich beten.«

Kapitel 4

Zacharias träumte unruhig: Regen fiel auf sein Gesicht. Er schlug die Augen auf. Über die Wände seiner Zelle zuckte Fackellicht. Es roch nach Kienspan und Weihwasser, das auf seine Wangen gespritzt wurde. Zacharias erkannte den alten Magister Pierre Musnier, der die Erziehung der Novizen überwachte. »Ex oriente lux«, sagte er. Es waren die Worte, mit denen die feierliche Weihe zum Templer eingeleitet wurde. Zacharias erhob sich rasch. Der Schlaf war verflogen. Durch das schmale Zellenfenster sickerte das erste Licht des Tages. »Ex oriente lux.« Die Klosterglocke läutete zur dritten Stunde.

»Bist du bereit?«

»Ich bin bereit.«

Zacharias folgte dem Fackelschein, der über steinerne Stufen sprang, seitlich des Ganges Nischen aufriß und forteilend mit Finsternis versiegelte. Balkendecken erzitterten im züngelnden Flammenschein. Kreuzgewölbe schwankten wie beim Jüngsten Gericht, wenn die Posaune ertönt und der Boden bebt. Fledermäuse schossen davon. Fratzen grinsten aus zerfressenem Gemäuer, Teufelskralle und Hexenbrut. Dann warf die Dunkelheit ihr schwarzes Tuch über den Spuk.

Düster und schicksalsschwer war der Gang hinab in die Erde bis tief in die Katakomben unter der Krypta. Es war ein mythischer Weg durch Tod und Geburt. Der Eingeweihte war ein Schmetterling, der seine Raupennatur abstreifte, um in Lichtgestalt neu zu erstehen.

Der schwerste Teil des Weges zu sich selbst lag noch vor ihm. Nur wer stark und furchtlos ist, besteht den Gang durch die Elemente, durch Feuer und Wasser, durch Erde und Luft. Nur der Wissende vermag die Schwelle zu überschreiten. Nur er vermag in den Spiegel zu blicken, dessen Glanz den Unwürdigen blendet und tötet.

Jahrelang war er auf diesen Augenblick vorbereitet worden. Fünf Sommer war er alt gewesen, als ihn die Mutter an der Klosterpforte abgegeben hatte, um ihn »Gott und den Heiligen darzubringen«, wie es in der Adoptionsurkunde hieß. Mit unerbittlicher Disziplin wurden die Klosterknaben erzogen. Sprechen durften sie nur, wenn sie dazu aufgefordert wurden. Selbst das Sitzen war ihnen verboten. Sie standen bei Tisch, zum Gebet und beim Lernen, achtzehn Stunden am Tag. Für die geringsten Verstöße gab es Schläge und Essensentzug. Schlimmer als alles Speisefasten war das Schlaffasten. Es gab Zeiten, da hatte er die Toten um ihren ewigen Schlaf beneidet. Besonders der Drill mit den schweren Waffen zehrte an den Kräften der Knaben. Der Schwertkampf mußte mit beiden Händen erlernt werden. Und immer wieder übten sie Bogenschießen, Speerwerfen, Lanzenreiten, Klettern an Stangen und Seilen, Laufen und Springen, Schwimmen und Tauchen, Faustkampf und Ringen. Kein Tag ohne Kampf, ohne Beulen und Schrammen. Um drei Uhr nachts nach dem ersten Morgengebet begannen die geistigen Exerzitien: Lesen, Schreiben, Algebra und Geometrie. Im Mittelpunkt stand die Geheimlehre der Templer. Nur ganz behutsam wurde das Allerheiligste aufgedeckt. Unwürdige, Schwätzer und Schwächlinge, wie Magister Musnier sie nannte, wurden gnadenlos ausgesiebt. Wer auserwählt war, der gehörte zur Elite. Er stand über allem weltlichen Recht, legibus solutus, nicht an Gesetze gebunden. Kein Landesherr und Kirchenfürst hatte Macht über ihn, nicht einmal der Kaiser. Nur dem Papst war der Orden Rechenschaft schuldig.

In Wahrheit unterstanden sie nicht einmal dem Stellvertreter Christi, denn sie hatten sich sogar von Christus befreit. Für einen Templer war der Glaube an einen gekreuzigten Gottessohn Götzendienst. Nach der Lehre der Kirche waren die »treusten Kämpfer Christi« allesamt Ketzer. Denn das war ihr Geheimnis: Die Elite der christlichen Kreuzritter verleugnete den Gekreuzigten. Ihr geheimes Glaubensbekenntnis begann mit den Worten:

Perdifficilis quaestio de natura dei. Außerordentlich schwierig ist die Frage nach dem Wesen Gottes. Wir wissen nicht, wie Gott ist. Wir wissen nur, wie er nicht ist. Er hat keine Gestalt, nicht einmal eine geistige. Er ist unbegreiflich und unaussprechbar, denn alle unsere Vorstellungen und Worte werden aus der Begegnung mit dieser Welt gewonnen. Wir vermögen nicht in Worte zu kleiden, was außerhalb unserer Welt liegt. Versuchen wir es dennoch, so scheitern wir in lächerlichem Aberglauben, im Eselsstall von Bethlehem oder am Marterpfahl von Golgatha.

Zacharias kam ein Satz des Lukrez in den Sinn: Tantum religio potuit suadere malorum! Wieviel Unglück hat die Religion uns einzureden vermocht! Der Eingeweihte bedarf dieser Krücken nicht. Zacharias war bereit.

Tore öffneten sich. Unsichtbare Hände hoben ihn über Hindernisse hinweg. Er fiel, wurde aufgefangen, schwebte und schwamm. Körperlos wie die Seele eines Toten, nein, wie eines noch Ungeborenen, trieb er den mächtigen Strom der Zeit hinab. Längst war alles irdische Licht erloschen. Am Ende erreichte er den Ort, an dessen Schwelle das Schweigen beginnt, das Land ohne Wiederkehr. Die sieben Richter der Unterwelt hefteten ihre Augen auf ihn, die Augen des Todes. Er stieg über schlafende Riesen, über Drachen und Bären. Da waren Schlangen, schlüpfrige Aale, Ratten. Er stieg über sie hinweg dem Licht entgegen, das oberhalb einer steilen Treppe den Weg wies. Die Allesgebärende erschreckte ihn, Schoß und Sarg zugleich, das Muttertier, das seine Ferkel verschlingt.

Er betrat einen höhlenartigen Saal. Stalaktiten hingen wie Eiszapfen von der Decke herab. Im schwachen Licht weniger Kerzen erkannte er den Großmeister, dahinter den alten Girac, Pierre Musnier, Orlando, den Gemini, und die anderen, alle in ihren weißen Festgewändern. Er blickte in Gesichter wie aus Granit gemeißelt. »Ex oriente lux«, sagte eine Stimme, die er nicht kannte. Er wurde entkleidet. Nackt und schutzbedürftig wie ein Kind war er ihren Blicken preisgegeben. Seine Haut schimmerte bleich wie Kerzenwachs. Ihn fror. Er mußte niederknien. Sie salbten seine Stirn und die Schläfen mit duftendem Öl aus Bilsenkraut, Stechapfel, Schierling und Tollkirsche. Sie salbten seine Handflächen und Achselhöhlen. Die Essenz brannte auf der Haut wie Branntwein in der Kehle. Es war ein wohliges Gefühl, erregend wie die rauhe Zunge einer Geiß, die gierig Salz aus dargereichter Hand leckt. Auf Befehl erhob er sich. Sie salbten seine Lenden. Er spürte, wie das Öl den Rücken hinabfloß, den After benetzte. Erschrocken nahm er wahr, wie sein Geschlecht anschwoll, sich aufrichtete. Er schämte sich. Ihre Blicke hielten ihn. Er war ihnen ausgeliefert wie ein Opfertier.

Die Elixiere der Nachtschattengewächse verwirrten seine Sinne. Der Boden schwankte. Die Decke senkte sich herab. Abgründe taten sich auf, in deren Schlünden Irrlichter aufleuchteten. Wolfsgeheul mischte sich mit der Klage einer Eule. Töne verwandelten sich in wirbelnde Bilder, Farben in nie gehörte Wohlklänge. Dann lag er mit ausgebreiteten Armen auf dem Boden und spürte mit dem Bauch den Atem der Erde. Er erlebte die Windstille der Seele. Er stieg über glühende Kohle, tauchte in eiskaltes Wasser, wurde vom Wind davongetragen und von feuchter Erde umhüllt wie die Wurzeln eines Baumes. Er spie auf das Kruzifix, das sie ihm entgegenstreckten, verfluchte Christus und gelobte dem wahren Schöpfer aller Dinge ewige Treue.

Er sprach das Glaubensbekenntnis der Templer und vernahm die feierlichen Worte der Verwandlung. Kniend spürte er, wie sie ihm oberhalb des Nackens die Haare abschnitten. Die entblößte Stelle war nicht größer als eine Malteser Münze. Mit zusammengebissenen Zähnen erwartete er den Schmerz. Als sie ihm mit glühendem Eisen das Baphomet-Mal in den Nacken brannten, ertrug er die Marter schweigend und gefaßt.

»Ferte fortiter. Hoc est quo deum antecedatis. Ille extra patientiam malorum est, vos supra patientiam. Ertragt Leid mit Stärke. Darin überragt Ihr Gott. Er steht außerhalb des Erduldens der Übel. Ihr aber steht darüber.«

Feierlich klangen die Worte des Großmeisters durch den Raum. Plötzlich blendete ihn der Glanz unzähliger Kerzen. Er wurde angekleidet. Sie legten ihm den weißen Mantel der Tempelherren um die Schultern. Gemeinsam sangen sie: »Quare splendidum te, si tuam non habes, aliena claritudo non efficit. Dich läßt kein fremder Glanz erstrahlen, wenn du keinen eigenen besitzt.«

Nun war er einer von ihnen.

***

Als Zacharias an jenem Morgen seine Zelle betrat, war die Sonne noch nicht ganz aufgegangen.

Wie ist das möglich? fragte er sich. Wie kann die ganze Weihe nur wenige Minuten gedauert haben?

Später bei der Laudatio für den Heiligen des Tages erfuhr er, daß seit dem Morgen seiner Weihe drei Tage vergangen waren. Was zählt die Zeit an der Schwelle des Todes? Er bekreuzigte sich und erinnerte sich an die Worte des alten Magister Musnier: Parcite natales timidi numera deorum. Zählt mir das Alter der Gottheit nicht ängstlich nach Tagen!

Kapitel 5

Unendlich langsam verstrich die Zeit.

Zacharias und Orlando zählten die Tage bis zu ihrem Aufbruch. »Mit dem Reisen ist es wie mit dem Säen«, sagte Magister Musnier. »Alles hat seine rechte Zeit. Wer im Oktober Bohnenkerne in den Boden legt oder im Mai nach Nüssen sucht, handelt genauso vergeblich wie einer, der jetzt aufbricht, um in den Osten zu reisen. Der Regen hat die Wege aufgeweicht. Keine Furt ist passierbar.

Wen Gott liebt, den läßt er daheim.

Jede Reise ist wie eine gefährliche Krankheit. In beiden Fällen sollte man sein Testament machen. Nur wenige überleben das Fieber. Kennst du das Reisefieber? Der Puls steigt, denn das Leben verrinnt rascher auf Reisen. Es wiegt weniger. Ein Hagelwetter von Eindrücken verwirrt deine Sinne. Nie gekannte Gerüche und Geräusche rauben dir die Übersicht. Ein schäumendes Gebräu von Bildern betäubt dich wie Baldrian und Dinkelbier. Städte, Türme, Häuser wirbeln vorüber, Bäume und Blumen, Tiere, Bestien, friedfertiges Vieh, gefiedert und befellt, und Menschen, vor allem Menschen, viel Feind und wenig Freund, viel Pech und wenig Gold. Hinter jedem Ziel liegt ein neues. Wege winden sich durch den Tag, überspringen Schluchten, tasten sich durch Wälder, durchqueren Bäche, gabeln sich in Scheidewege, führen den Fremden in die Irre. Räuber lauern im Hinterhalt, Kobolde und Krankheiten, gegen die kein Kraut gewachsen ist. Wasser und wilde Tiere versperren den Weg. Gebirge mit fremden Namen verdunkeln den Himmel. Reißende Ströme tragen den Reisenden davon. Meere locken ihn in die Ferne, ob ins Glück oder ins Verderben, wer weiß das schon, wenn er sein Leben den Planken eines Schiffes anvertraut.«

***

Als der Tag der Abreise gekommen war, wurden bei Sonnenaufgang zwei Pferde gesattelt. Lasttiere benötigten die Templer nicht. Sie reisten ohne Gepäck. Der Orden hatte ihre Reiseroute so ausgearbeitet, daß sie jeden Abend in einer anderen Templer-Abtei übernachteten. Dort wurden sie mit allem versorgt, was sie benötigten, einer warmen Mahlzeit, Reiseproviant, Wäsche zum Wechseln und frischen Reittieren. Kein Templer trug Geld bei sich. So konnte man sie weder berauben noch anbetteln. Von Wegezöllen und Brückengebühren waren sie durch päpstlichen Erlaß befreit. Unbelastet von allem Gepäck reisten sie so schnell wie die königlichen Kuriere. Zacharias war mit einem Langschwert bewaffnet. Sein neuer weißer Mantel wehte im Wind. Orlando im blauen Baumwollhemd wirkte daneben bescheiden wie ein Knappe, der seinen Herrn begleitet. Er trug weder Schwert noch Speer. Eine Wolfsfalle lag quer hinter dem Sattel. Ihre eisernen Zähne bleckten wie die Zähne eines bissigen Köters.

»Wofür soll das gut sein?« fragte Zacharias.

Orlando erwiderte: »Es gibt keine wirkungsvollere Waffe.«

Zum Beweis knotete er die Falle vom Pferd. Sie war fast drei Fuß lang, schwer wie ein Hammer und endete in einer Kette mit einem eisernen Ring, durch den sich ein Pflock in den Boden schlagen ließ, um die Beute an der Flucht zu hindern. Orlando mußte seine ganze Kraft aufwenden, um die Kiefern des Fangeisens auseinanderzustemmen. Schwer atmend stellte er die gespannte Falle auf den Boden. Die Drohgebärde des weit aufgerissenen Rachens war nicht zu übersehen. Orlando hob einen armdicken Ast auf. Der hatte kaum den Fangmechanismus berührt, als die Stahlzähne mit solcher Wucht zuschlugen, daß ihnen die Holzsplitter krachend um die Ohren flogen.

»Miserere mei, erbarme dich meiner«, rief Zacharias erschrocken.

»Es gibt nichts Besseres«, lachte Orlando und verschnürte das Wolfseisen hinter den Satteltaschen. »Wieviel Entbehrung muß ein Wolf auf sich nehmen, wenn er ein Wild schlagen will. Hungrig hetzt er hinter ihm her, meist vergeblich und häufig selbst das Opfer der Jagd. Schau dir dagegen die Spinne an. Sie kann warten. Die Beute geht ihr von allein ins Netz, bringt sich selbst zur Strecke. Jedes Raubtier kann jagen. Das Fallenstellen aber ist eine Kunst wie Schreiben und Rechnen. Sie gehört zu den wichtigsten Fähigkeiten, die ein Geschöpf beherrschen muß, wenn es überleben will. Ein Kaufmann, der zu Geld kommen will, muß seine Ware wie Köder auslegen. Und ein Mädchen, das nicht als alte Jungfer enden will, muß wissen, wie man einen Mann umgarnt. Die Jünger Jesu waren keine Jäger, sondern Fischer. Ihr Werkzeug war die Angel, nicht der Spieß. Selbst Gott braucht Glocken und Gnadenmittel, um unsere Seelen zu ködern.«

»Aber dennoch solltest du ein Schwert tragen«, sagte Zacharias.

»Ich brauche kein Schwert. Ich trage meinen Hammer im Gürtel. Hast du je ein Schwert gesehen, das einen Hammer schmiedet? Der Hammer ist stärker als alle Schwerter, und nützlicher dazu.«

***

In der Umgebung von Paris waren die Straßen noch belebt von vielerlei umherziehendem Volk: Händler und Bauhandwerker, Studenten und Spielleute, Ritter und Pilger, Bettelmönche und reitende Boten, Wunderheiler, Henkersknechte und Huren. Die meisten reisten zu Fuß. Karren oder gar Kutschen sah man außerhalb von Paris nur selten. Die Landstraßen waren in so schlechter Verfassung, daß die Wagenräder bei Regen im Schlamm versanken und bei trockenem Wetter in den Schlaglöchern zerbrachen. Fürstliche Damen oder die höhere Geistlichkeit reisten in geschlossenen Sänften, die sich mit der Kraft vieler Träger in hoppelndem Schweinsgalopp fortbewegten, weshalb sie von Gemini verächtlich »schwangere Schweine« genannt wurden: »In ihnen steckt immer ein Ferkel.«

Südlich von Orleans verlor sich die Straße in unberührter Einsamkeit, die nur gelegentlich von größeren Ortschaften unterbrochen wurde. In den dichten Wäldern der Sologne verirrten sich die beiden Templer mehrere Male. Die Abzweigungen waren ohne Wegweiser. Denn die Menschen, die hier lebten, zerstörten alle Straßenschilder, damit kein fremdes Gesindel ihre abgelegenen Siedlungen fände.

***

Die Katze war mit dem Rückenfell an das hölzerne Scheunentor genagelt worden. Sie hing dort wie der Gekreuzigte vor der Dorfkirche. Ihre grünen Augen waren weit aufgerissen. Die ausgefahrenen Krallen zitterten vor Wut und Angst. Speichel rann aus dem fauchenden Rachen. Kot und Blut klebte an ihrem gesträubten Fell. Ein paar Burschen und Mädchen – alle mit grobem bäuerlichen Leinen bekleidet – standen davor. Sie schüttelten sich vor Lachen und Übermut.

»Ch ... ch ... ch«, fauchte ein langer dünner Jüngling, den sie Wurm nannten. Er fletschte die Zähne, spuckte nach der Katze.

»Na los, gib es ihr«, lachten die Mädchen. »Oder hast du Angst um dein Milchgesicht? Mach sie zu Mus! Stampf sie ins Scheunentor!«

»Ch ... ch ... ch«, machte Wurm. Immer wieder sprang er in die Luft und ruderte mit Armen und Beinen wie eine Windmühle. Schwer atmend duckte er sich. Mit zusammengekniffenen Augen fixierte er die Katze. Ihre Blicke suchten sich, verkrallten sich ineinander.

»Mach sie fertig! Zerquetsch sie wie eine Laus!«

Wurm legte die Hände auf den Rücken. Er atmete tief durch. Dann rannte er los, den Kopf gesenkt wie ein angreifender Schafbock. Als sein Schädel die Gemarterte traf, explodierte die Katze in einem Feuerwerk wahnwitziger Hiebe und Bisse. Mit blutender Stirn und zerfetzten Ohren suchte Wurm das Weite. Die Mädchen kreischten vor Vergnügen. Schon stellte sich der nächste Bursche auf, ein Rotschopf mit einem Gesicht voller Pickel. Tief gebeugt rannte er los. Er verpaßte die Katze, krachte mit dem Kopf gegen das Scheunentor. Glotzäugig wie ein geschossenes Kaninchen blieb er liegen.

»Komm schon, schlaf nicht ein«, rief der nächste Junge.

»Ich will dir zeigen, wie man's macht. Weg da! Verschwinde!«

»Seht nur«, sagte einer der Burschen, »zwei Mönchsritter.«

Der Junge, der als nächster an der Reihe war, machte eine übertrieben äffische Verbeugung vor Gemini und Zacharias: »Die Herren haben natürlich den Vortritt. Ein Templer fürchtet weder Tod noch Teufel.«

»Aber Weiber«, lachte der Pickelige. »Wer sich vor Miezen fürchtet, der hat auch Angst vor Miezekatzen.«

Gemini sprang aus dem Sattel und gab seinem Begleiter die Zügel. Er ging zu dem Scheunentor. Zitternd erwartete die Katze den nächsten Angriff. Der Templer bekreuzigte sich. Dabei sprach er:«Mors ut malum non sit, efficies. Du wirst bewirken, daß der Tod kein Übel ist.« Dann stieß er der Katze seinen Kopf mit solcher Wucht in den Leib, daß ihr Brustkorb splitternd zerbrach. Es war ein Geräusch, als wenn man Nüsse zertritt.

Ohne sich umzublicken, bestieg Gemini sein Pferd.

Grußlos ritten sie davon.

»Warum hast du dich an diesem ekelhaften Spiel beteiligt?« fragte Zacharias.

»Es ist mehr als ein Spiel. Die alten heidnischen Opferrituale sind tief verwurzelt im Volk. Der Katze war nicht mehr zu helfen. Ich habe sie von ihrer Qual erlöst. Multaque dum fiunt turpia, facta placent. Viel Häßliches muß oft erledigt werden, um eine Sache gut zu Ende zu bringen.«

»Wie können Christenmenschen so etwas tun?«

»Wer die Kreuzigung eines Gotteskindes feiert, wie kann der Mitleid mit einer gekreuzigten Katze empfinden? Magst du Katzen?«

Und als Zacharias schwieg, sagte Orlando: »Ich auch nicht, aber sie sind nützliche kleine Teufel. Sie sorgen dafür, daß die Mäuse nicht überhand nehmen.«

»Was klauen die schon?« lachte Zacharias, »die paar Körner.«

Orlando erwiderte: »Aus einem Scheffel Saatgetreide werden auf gutem Boden vier Scheffel. Von diesen brauchst du wieder ein Scheffel für die Aussaat im nächsten Jahr. Ein Scheffel fressen die Kornkäfer, ein Scheffel die Mäuse, ein Scheffel bleibt dem Bauern, und den muß er mit dem Grundherrn teilen. Da bleibt nicht viel zurück. Eine gute Katze kann den Kornertrag verdoppeln. Doch erntet sie nur selten Dank dafür. Das Volk hier kreuzigt seine Katzen. Sie nageln sie an ihre Scheunentore aus Aberglauben. Und als Zeichen ihrer eigenen Dummheit und Bosheit.«

Zur Nacht erreichten sie ein Kartäuserkloster. Einsam wie eine Insel im Ozean lag es in der kargen Landschaft. Nur das Bimmeln eines Glöckchens kündete von Leben. Über dem Tor stand eingemeißelt: EGO VIR VIDENS, Ich bin der, der sieht.

»Das Auge ist ein stilles Organ«, sagte der Pförtner, der ihnen ihr Quartier zuwies. »Nichts ist so schöpferisch wie die Macht des Schweigens. Die Kartäuser dürfen nur einmal in der Woche sprechen. Alle Erleuchtung liegt in der Stille.«

Beim Abendbrot am Tisch des Abtes sagte dieser: »Mit dem Mund zu schweigen ist einfach. Weit schwieriger ist es, die innere Stimme anzuhalten. Es gibt eine Grenze, hinter der versiegen die Gedanken. Die Erleuchtung liegt im Finsteren. Ungeheuer heilsam sind die höheren Bewußtseinszustände. Wir Kartäuser werden sehr alt.«

Als sie im ersten Morgenlicht aufbrachen, rief Zacharias: »Gottlob, es ist vollbracht! Keinen Atemzug länger hätte ich es dort ausgehalten. Sie sind stumm wie die Fische. Welch tödliches Schweigen! Man erzählt sich, Kaiser Friedrich hätte Neugeborene absondern lassen, um herauszufinden, mit welcher Zunge Adam gesprochen hat. Niemand durfte mit den Heranwachsenden sprechen. Würden sie griechisch, hebräisch oder lateinisch reden? Und weißt du, was geschah? Sie starben trotz bester Pflege allesamt, denn der Mensch braucht das Gespräch so nötig wie Nahrung und Atemluft.«

»Wir Menschen sind eine geschwätzige Gesellschaft«, lachte Orlando. »Wir verständigen uns fast ausschließlich durch Wort und Schrift. Welch enger Käfig für das, was wir empfinden! Wie reich ist die stumme Sprache der Pflanzen und Tiere. Was vermag mir mein Pferd alles mitzuteilen, und dennoch ist es schweigsam wie ein Kartäuser. Es gibt eine stumme Verständigung, die ist aufrichtiger als alle gesprochenen Wörter.«

»Du redest wie ein Magister«, sagte Zacharias. Er verstand ihn nicht. Orlando aber dachte bei sich: Mit Adrian rede ich so, und es sind meine glücklichsten Gespräche.

Kapitel 6

Staub, Mittagsglut ohne Schatten, Durst. Dann mit einemmal wie eine Verheißung: Frische! Die Nüstern der Pferde bebten. Sie hörten den Bach, bevor sie ihn sahen. Plätschernd sprang er über blanke Kiesel, staute sich gurgelnd zu glasklaren Becken, die überflossen und sich als kleine Wasserfälle ins nächste Becken ergossen.

Roß und Reiter stillten schmatzend ihren Durst.

Mit nackten Füßen standen sie im Wasser. Libellen umschwirrten sie. Dann lagen sie bäuchlings am Bach. Beide Hände unter dem ausgehöhlten Ufer, behutsam tastend. Wenn sie die Forelle erfühlt hatten, faßten sie blitzschnell zu, bogen den glitschigen Leib des Fisches zum Hufeisen und warfen ihn hinter sich ins Gras, wo er zappelnde Luftsprünge vollführte.

»Ich hab ihn. Ich hab ihn!« schrie Zacharias. »Schau, wie der Bursche sich wehrt! Au, verdammt, er hat mich gebissen.«

Das Messer fuhr ihm durch die Kiemen.

»Ein Prachtexemplar«, sagte Orlando.

»Das klingt, als hättest du Mitleid mit ihm«, lachte Zacharias.

»Was ist daran lächerlich? Er besitzt die Würde der freien Tiere. Er hat um sein Leben gekämpft wie ein Mann. Er hat unser Mitleid verdient.«

Zacharias hatte ein Feuer entzündet. Fünf Forellen, eingewickelt in Huflattichblättern, warteten darauf, am Rand der Glut goldbraun gebraten zu werden.

***

Sie verbrachten einen halben Tag damit, einen Übergang über den Fluß zu suchen. Als sie endlich eine Holzbrücke fanden, war sie so morsch und durchlöchert, daß wohl nur Ortskundige wußten, wohin man treten mußte, um unbeschadet hinüberzukommen. Gemini führte die Pferde einzeln und mit verbundenen Augen über die Brücke, während Zacharias ihnen an allzu morschen Stellen die Kampfschilde unter die bebenden Hufe schob.

An jenem Tag wurden sie von der Dunkelheit überrascht, bevor sie ihr Nachtquartier erreicht hatten. Hungrig und durchnäßt vom Regen suchten sie Schutz unter einer überhängenden Felswand.

»Herr, verzeih mir, mein Gebet ist nur kurz«, sprach Orlando, bevor ihm die Augen zufielen. »Im Bett betet es sich leichter als auf steinigem Boden. Beschütze uns, oder laß mich wenigstens wach werden, wenn Gefahr droht.«

»Was hast du gesagt?« fragte Zacharias.

Aber da schlief Orlando bereits.

Zur Vorsicht war die Wolfsfalle aufgestellt worden. Zacharias hatte sein Schwert mit Wachs bestrichen, damit es im Ernstfall schnell aus der Scheide führe.

In der Nacht wurden sie vom Schnauben ihrer Pferde geweckt. Zacharias glaubte, Stimmen zu hören.

Am Morgen entdeckten sie die Fährte eines Bären.

***

Nach fünftägigem Ritt erreichten sie drei Tage vor Vinzentis die Templer-Abtei von Limoges. Sie hatten die Hälfte des Landweges zurückgelegt. Als sie in den Hof der Abtei ritten, läuteten die Glocken den Sonntag ein. Sie beschlossen, den Feiertag zu heiligen und eine längere Rast einzulegen, zur »Erholung von Herz und Hintern«, wie Orlando meinte, denn Zacharias hatte sich so wund geritten, daß er stehend in den Steigbügeln trabte, was viel Kraft kostete.

»Ich habe mich noch nie so sehr danach gesehnt, einen Sonntag auf den Knien zu verbringen«, meinte er mit gequältem Lächeln, als ihm Bruder Tulian, der Apotheker der Abtei, die Backen mit Dachsfett salbte: »Du hast einen Arsch zum Eierkuchen backen, Bruder, so rot wie eine Kardinalsrobe.«

Zacharias entgegnete: »Ich trage einen Heiligenschein um meinen Schinken.«

»Einen Heiligenschein? Cave mendacium! Hüte dich vor der Lüge! Mit so prächtigen Hoden, wie du sie hast, wird man nicht heiliggesprochen.«

Bevor sie an jenem Abend einschliefen, sagte Zacharias: »Wie wenig braucht der Mensch doch zu seinem Glück. Gibt es Schöneres, als in einem weichen Bett zu schlafen und ohne Schmerzen zu sein!«

»Eigentlich seltsam«, antwortete Orlando. »Wir fühlen uns am wohlsten, wenn wir uns nicht wahrnehmen.«

***

Während Zacharias die Wunden pflegte, die ihm der Weg geschlagen hatte, folgte Orlando der neugierigen Menge, die nach der sonntäglichen Morgenmesse zum Markt drängte, wo ein fränkischer Wundarzt und Starstecher seine Wanderbude aufgestellt hatte. Ein Fahnentuch mit einem Auge so groß wie ein Wagenrad diente ihm als Firmenschild. Der Doktor stand auf einem Podest. Sein kahler, blasser Kopf lag auf dem Biberpelzkragen wie ein Gänseei auf einem weich gepolsterten Tuch. Er hielt ein gläsernes Fläschchen in die Höhe und rief: »Tretet näher, Brüder und Schwestern. Hier seht ihr das Auge eines Gehenkten. Es schwimmt im Fruchtwasser einer Fehlgeburt, vermischt mit Fledermausblut, Zimtwurz, Mumienlatwerge und Viola canis vulgaris. Drei Tropfen täglich vor dem ersten Hahnenschrei, und ihr könnt schärfer sehen als ein Adler. Vier und ein halber Heller für die Flasche, so lange der Vorrat reicht. Und hier, schaut her: Bei Schlaflosigkeit Igelurin und Krötenschleim auf die Lider geschmiert. Schlingpflanzentee gegen Schielen. Tropicana Tagetes für Triefaugen. Jordanwasser macht Blinde sehend, und Belladonna gibt selbst Greisenaugen geilen Glanz!«

Orlando war näher getreten, um eine Schautafel zu betrachten. Ein Mann saß gefesselt auf einem Stuhl. Drei Knechte hielten seinen Kopf. Der Operateur hatte ein stricknadelartiges Instrument in das Auge gebohrt. Über dem Bild stand in verschnörkelter Schrift zu lesen: »Die hohe Kunst des Starstechens, durch die so mancher Blinde wieder sehend geworden.« Orlando wollte sich angewidert abwenden, als der Meister ihn in der Menge entdeckte. Ein freudiges Leuchten erhellte sein Gesicht. Er unterbrach seinen Vortrag und eilte mit ausgebreiteten Armen auf Orlando zu: »Welche Freude, Bruder, Euch wieder zu treffen. Wie ist es Euch bei den Sarazenen ergangen? Habt Ihr schon eine Herberge? Ich bitte Euch, seid mein Gast.« Und zu seinem Publikum gewandt, sagte er auf Orlando zeigend: »Ich verdanke diesem tapferen Templer mein Leben. Wäre er nicht gewesen, so könnte ich euch heute nicht heilen.« Verwirrt durch Orlandos Erstaunen rief er: »Ihr schaut so fragend. Erkennt Ihr mich nicht wieder, Bruder Adrian?«

Adrian? Er kannte Adrian. Was wußte er über ihn? Orlando war hellwach. »Wer könnte Euch vergessen«, rief er. »Gern bin ich Euer Gast.«

»Zum Sechserläuten im Pied de Cochon«, lachte der Doktor. »Ich hoffe, Ihr seid nicht beim Fasten.«

***

Das Gasthaus Le Pied de Cochon lag gleich hinter der Stadtmauer in einer engen, dunklen Gasse. Man konnte es nicht verfehlen, wenn man seiner Nase folgte. Ein klebriger Geruch von heißem Schweinefleisch und Bier, von saurem Sud und Bratfisch entströmte dem Gemäuer. Vor allem jedoch stank es nach Urin, denn die Stadtmauer diente den Zechern als Abtritt. Hier traf Orlando den Doktor, der damit beschäftigt war, den Latz seiner engen Hose zu schließen: »Ein offener Leib ist der wahre Garant aller natürlichen Gesundheit. Plenus venter non cenat libenter! Ein voller Bauch speist nicht gern. In ein volles Faß geht weniger hinein als in einen leeren Fingerhut.«

Er schob Orlando vor sich her in die Gaststube: »Kommt, setzt Euch. Seid mein Gast. Ich hoffe, Ihr seid hungrig. Einen Humpen Hopfensaft für meinen Lebensretter! Mögt Ihr Fleischmus vom Schaf? Stippgrützen und Ragouts sind die Spezialität des Hauses, Preßsack und fette Pasteten. Oder probiert die saure Sulz von frischgeborenen Ferkeln, so zart, daß man sogar die Knochen mitessen kann. Aber, ich sehe, Ihr habt ja noch alle Eure Zähne. Wir leben in einer Zeit, in der ein Mann von Ehre schneller seine Schneidezähne verliert als eine Jungfrau ihre Unschuld. Was rede ich. Das wißt Ihr besser als ich. Wenn Ihr nicht gewesen wäret ... wenn Ihr mich nicht aus den Klauen der Ungläubigen befreit hättet, ich hätte vermutlich mehr verloren als mein Gebiß. Wer weiß, ob ich ohne Euch überhaupt noch lebte. Sie waren wie wilde Tiere. Aber fürwahr, Ihr habt es diesen tollen Hunden gegeben. Einer gegen drei ...«

»Oho, das hört sich gut an«, rief ein Fuhrmann vom Nebentisch. »Einer gegen drei. Erzählt!«

»Ja, erzählt!« riefen jetzt auch die Viehhändler vom anderen Ende der Tafel. Einer von ihnen füllte dem Doktor den Becher mit Bier. Der nahm einen kräftigen Schluck, wischte sich den Schaum mit dem Ärmel von den Lippen und begann:

Kapitel 7

»Ich war in Alexandrien an Land gegangen und wohnte in der Herberge Zum Bärtigen Patriarchen. Spät in der Nacht wurde ich von einem Mohren geweckt. Er fragte, ob ich der fränkische El-Hakim wäre, der Tags zuvor mit dem Schiff angekommen sei. Er sagte, er käme im Auftrag seines Herrn, der meine Hilfe benötigte. Ich solle meine ärztlichen Utensilien einpacken und ihm folgen. Er sprach in abgehackten Sätzen, keuchend und außer Atem, so wie jemand, der eine längere Strecke gerannt ist. Schnell, schnell, rief er immer wieder und klatschte dabei in seine Mohrenpfoten, die so braun waren wie der Braten hier vor mir auf dem Tisch.

Wir eilten durch dunkle Gassen bis an den Rand der Stadt, wo die Häuser immer armseliger und die Straßen immer einsamer wurden. Um so erstaunter war ich, als wir plötzlich vor einem palastartigen Gebäude standen, das so gar nicht in diese Gegend zu passen schien. Überragt von Türmen und Zinnen, umgeben von hohen Mauern lag es wie ein gestrandetes Schiff am Ufersaum der Stadt. Durch eine enge Pforte gelangten wir in einen Innenhof, wo mich ein Knabe erwartete. Er führte mich über mehrere Treppen in einen Raum, durch dessen Fenster der Blick weit über die Wüste reichte. Schon kündigte ein feiner roter Streifen den neuen Tag an. Eine doppelflügelige Tür wurde aufgestoßen. Herein trat ein alter Araber in weißen wallenden Gewändern. Sein Bart war noch weißer als sein Turban. Nur seine Augen glänzten schwarz wie nasser Schieferstein.

Mein Begleiter warf sich vor ihm auf die Knie. Der Alte betrachtete mich so, wie man eine Ware begutachtet, die man erwerben will.

Du bist ein fränkischer Arzt?

Augenarzt, erwiderte ich.

Du weißt, warum ich dich habe rufen lassen?

Nun, ich kann es mir denken. Warum ruft man zur Nachtzeit einen Arzt? Wo ist der arme Kranke, der meine Hilfe braucht?

Der Araber betrachtete mich, als habe er nicht recht verstanden. Seine Augenbrauen hoben sich fragend, voll Erstaunen. Dann begann es in seiner Brust zu zucken, als würde er von Hustenreiz gequält. Ein Glucksen quoll aus seiner bärtigen Kehle, ein ziegenartiges Meckern. Am Ende lachte er, daß ihm die Tränen über die faltigen Wangen liefen. Dann rief er: Bei Allah, ist das köstlich! Oh, ist das köstlich! Habt ihr das gehört: Wo ist der arme Kranke, der meine Hilfe braucht?

Er wischte sich die Tränen aus den Augen und sagte:

Der arme Kranke ist ein Knabe.

Und was fehlt ihm?

Noch fehlt ihm nichts. Doch du sollst das ändern.

Ich verstehe euch nicht.

Erklär du es ihm, sagte der Alte zu einem Mann, der hinter ihm in den Raum getreten war. Der sagte:

Ihr sprecht erstaunlich gut Arabisch. Gewiß seid Ihr nicht zum erstenmal in Alexandria?

Doch, das erste Mal, erwiderte ich. Mein Arabisch habe ich in Andaluz gelernt.

Andalusien, sagte der Mann. Es klang wegwerfend, fast verächtlich. Dort ist alles anders. Wißt ihr, was ein ›hadim‹ ist, ein Bartloser?

Ein Eunuch.

So ist es. Ein Verschnittener. Wißt Ihr nun, was man von Euch erwartet?

Ihr meint ... ich soll ... warum gerade ich?

Dafür gibt es drei Gründe: Erstens. Ihr seid ein geschickter Operateur. Wer sich mit dem Messer an ein Auge wagt, der weiß auch, wie man Eier schneidet.

Zweitens. Ihr seid ein Ungläubiger. Der Koran verbietet unseren Ärzten die Entmannung. Die Bibel kennt kein Verbot dieser Art. Kastrieren nicht selbst die Ärzte eures römischen Kalifen kleine Knaben, nur ihrer schönen Stimmen wegen?

Der dritte und beste Grund ist das Honorar, das wir Euch zahlen werden. Und dabei warf er mir einen Lederbeutel mit klingenden Münzen zu. Als ich noch zögerte, sagte der Alte: Nimm nur. Es ist ehrlich verdientes Geld. Kein christlicher Medicus hat es bisher verweigert.

Aber ich habe noch nie eine Kastration...

Du bist ein geschickter Starstecher, du verstehst es, das Messer zu führen, und weißt, wie man Wunden versorgt.

Ich wurde in ein Nebenzimmer geführt. Auf einem niedrigen Tisch lag ein ledergebundenes Buch mit ganzseitigen Zeichnungen, auf denen die verschiedenen Schnittechniken der Entmannung erklärt wurden.«

»Wieso verschiedene?« fragte der Viehhändler. »Einen Bullen oder einen Bock kann man nur auf eine Art kastrieren.«

»Gewiß, aber beim Menschen ist das alles ganz anders.«

»Das müßt Ihr uns erklären«, verlangten die Fuhrleute. Sie füllten dem Doktor die Bierkanne. »Los, erzählt!«

»Grundsätzlich gibt es im Orient fünf verschiedene klassische Kastrationstechniken. Sie werden mit wohlklingenden arabischen Namen bezeichnet. Beim ›gemähten Kornfeld‹ werden dem Unglücklichen Penis und Hoden abgeschnitten. Beim ›Baumfällen‹ nur der Penis. Der Operierte bleibt theoretisch zeugungsfähig, aber es fehlt ihm die anatomisch wichtigste Voraussetzung, seinen Trieb zu befriedigen. Das ›Baumfällen‹ wird im allgemeinen nur als Strafe angewandt, so wie das Handabhacken. Eine andere Operationstechnik heißt ›Nest ausnehmen‹. Mit einer Drahtschlinge werden die Eier aus dem Hodensack herausgezogen und abgekniffen. Beim ›Nüsseknacken‹ werden die Hoden zerquetscht, mit einer Zange, am häufigsten mit den Zähnen. Diese Methode wird vor allem bei Kleinkindern praktiziert.«

»O Mann, hört auf! Ich kann nichts mehr davon hören. Dabei vergeht einem ja jeglicher Appetit«, stöhnte der Wirt, der um sein Abendgeschäft bangte.

»Und so etwas hast du gemacht?« fragte einer der Fuhrleute. Das Entsetzen stand ihm sichtbar auf der Stirn. »Wie kann man einen Menschen...?«

»Einen Menschen?« unterbrach ihn der Doktor, »einen Menschen? Der Kastrierte war ein ungetaufter Mohr ohne unsterbliche Seele, ein schwarzhäutiger Affe aus der afrikanischen Wildnis. Wo steht es geschrieben, daß man einem Affen nicht den Schwanz abschneiden darf? Zeigt mir das Gebot!«

»Weiter! Erzählt weiter!« drängten die Viehhändler.

»Sie hatten den Knaben an ein Bett gefesselt und ihm den Mund mit einem Knebel verschlossen. Seine Augäpfel rollten und zuckten in ihren weitaufgerissenen Höhlen, als wollten sie hervorquellen und davonspringen. Sie hatten baumwollene Binden um seine Oberschenkel gespannt und kalte Kompressen auf seinen Leib gelegt, um den Blutverlust einzudämmen. Sein schwarzer Schoß wurde mit gepfeffertem Wasser gewaschen. Dann habe ich ihm mit einem einzigen Schnitt Penis und Hoden abgetrennt. Die Kunst liegt darin, blitzschnell und so dicht wie möglich am Unterleib entlangzuschneiden, um die Wunde klein zu halten. Sie wurde mit siedendem Öl ausgebrannt. Dann wurde ein Zapfen aus Zinn in die offene Wurzel des Penis eingeführt, um den Harnweg offen zu halten.

Nachdem die Wunde mit einem Verband versorgt war, mußte der Junge gestützt von zwei Männern im Raum auf und ab gehen. Erst dann durfte er sich hinlegen. Ich sagte:

Das Schlimmste hat er hinter sich.

Nein, vor sich, so wurde ich belehrt. Er darf jetzt drei Tage lang nichts trinken und kein Wasser lassen. Die Qualen werden höllisch sein. Doch er wird es überleben.«

Der Doktor machte eine längere Pause.

»Und? Wie ging es weiter?«

»Er sprang aus dem Fenster, mit dem Kopf voran. Ihm war nicht mehr zu helfen. Er war sofort tot, tot wie ein Fuchs in der Falle, dem man den Schädel eingeschlagen hat, um sein Fell nicht zu verletzen.« Der Doktor trank von seinem Bier.

»Im Namen der Gerechtigkeit, es war nicht meine Schuld. Meine Operation war erfolgreich verlaufen, und diese Hundesöhne forderten mein Honorar zurück. Natürlich verweigerte ich die Herausgabe. Es kam zu einem heftigen Wortwechsel auf der Straße unter dem Fenster, aus dem sich der schwanzlose Wilde gestürzt hatte. Sie griffen nach mir. Ich wehrte mich, so gut ich konnte. Schon fuhren die ersten Dolche aus den Gürteln, da erschien wie von Gott gesandt jener Tempelherr hier in der Gasse. Es war Rettung im allerletzten Augenblick. So wie der Herr den Daniel aus der Löwengrube errettet hatte, so befreite mich Bruder Adrian aus den Klauen meiner Mörder. Dem Mohren – bei Gott, er war so groß, er hätte nicht durch jene Tür gepaßt – brach er mit einem Schlag den Arm. Den anderen hob er hoch wie eine Fahne. Er warf ihn durch ein Fenster, hinter dem ein Rudel wilder Hunde raste. Ich hätte nicht in seiner Haut stecken mögen. Den dritten aber griff er mit zwei Fingern in die Nasenlöcher, und mit einem einzigen Ruck riß er ihm die Nase von der Oberlippe. Bei meiner Ehre, ich habe dergleichen noch nie gesehen. Seit jenem Tage weiß ich, warum die Tempelritter als unbezwingbar gelten. Kommt Freunde, trinkt mit mir auf meinen Retter!«

Sie leerten ihre Humpen. Dann fragte einer der Viehhändler: »Ich wüßte gar zu gern, was ein Templer in so übler Umgebung zu so ungewöhnlicher Tageszeit zu schaffen hat?«

»Das habe ich ihn auch gefragt«, lachte der Doktor. »Und wißt ihr, was er geantwortet hat?«

»Ja, was hat er dort gemacht?« rief Orlando.

Der Doktor blickte ihn belustigt an: »Ihr seid ein Schelm. Ich vermag Eure Erinnerung nicht aufzufrischen, denn Ihr habt es mir nicht verraten. Als ich Euch fragte, sagtet Ihr: ›Pisces imitar.‹«

»Was heißt das?« fragte der Viehhändler.

»Machen wir es wie die Fische, die ja bekanntlich stumm sind, so stumm wie die Templer, wenn es um geheime Ordensaufträge geht. Oder war es eine private Mission oder Passion, die Euch dort hingeführt hat? Die Alexandrinerinnen sind verteufelt reizvoll. Verzeiht mir den Spaß. Kommt, trinkt mit mir! Das alles erscheint mir so, als habe es sich erst gestern ereignet. Dabei ist es zu Peter und Paul ein Jahr her. Anderen Tags habe ich Euch ans Schiff gebracht, das Euch von Alexandria nach Kreta bringen sollte. Wißt Ihr noch, Bruder Adrian, wie Ihr beim Abschied ...«

In aufgeregter Eile ordnete Orlando das Gehörte:

Anfang Juli war Adrian von Alexandria aus westwärts gereist. Er hatte sich also auf der Heimreise befunden. Zehn Wochen später war Ludwig der Kelheimer ermordet worden ... Zehn Wochen, das war ziemlich genau die Zeitspanne, die man benötigte, um die Entfernung bis über die Alpen zu bewältigen. Aber was besagte das schon? Mußte Adrian deshalb ein Mörder sein? Was hatte das alles zu bedeuten?

Der Doktor redete ununterbrochen. Seine vom Essen fettigen Lippen formten Asund Os. Wenn sie sich zum M aufeinanderlegten, so erinnerten sie an kopulierende Schnecken. Wie Blasen in brodelndem Brei, so platzten die Psund Bshervor. Orlando nahm das alles wahr, ohne daß die Worte ihn erreichten. Später auf dem Heimweg vermochte er sich nicht einmal daran zu erinnern, was er an jenem Abend gegessen hatte.

In der Nacht hatte er einen Traum:

Er stand auf einem Berg und blickte über eine Wüste. In der Ferne gewahrte er einen winzigen Punkt, der sich wie ein Insekt auf ihn zubewegte. Als er näher herankam, erkannte er einen Reiter in wehendem Gewand. Die Hufe seines Pferdes warfen den Wüstensand wie Wasserfontänen zum Himmel. Als der Reiter in Sichtweite war, erkannte er ihn. Es war Adrian. Orlando rief ihn beim Namen. Doch so laut er auch schrie, der andere hörte ihn nicht. Auf Armeslänge flog er an ihm vorüber, pfeilschnell und doch geisterhaft langsam, als habe sich der Strom der Zeit in zähflüssigen Schlamm verwandelt.

Wie bleich er war, blaß wie ein Toter!

»Warte!« rief Orlando. »Bleib! Wo willst du hin?«

Und Orlando hörte wie von weit her Adrians Stimme. Er rief nur ein einziges Wort. Es klang wie »Alamut«.

Orlando erwachte. Er fand keinen Schlaf mehr. Das Wort ging ihm nicht aus dem Sinn: ALAMUT.

Kapitel 8

Nach dreitägiger Karenz vertauschten sie die Kissen des Konvents wieder mit den Rücken ihrer Reisepferde. Zwei Tagesritte bis nach Cahors reisten die beiden Templer in Begleitung des Doktors. Er kannte den Weg und war ein gewitzter Erzähler.

»Die Menschen sind dümmer als das Vieh«, sagte er, »erst opfern sie ihre Gesundheit, um Geld zu erwerben. Dann opfern sie ihr Geld, um die Gesundheit zurückzugewinnen. Glaubt mir, auch die Dummheit ist eine Krankheit. Sie ist die einzige Krankheit, unter welcher nicht der Befallene leidet, sondern seine Umgebung. Vivat morbi! Male se habet medicus, nemo si male se habuerit. Es lebe die Krankheit! Schlecht ergeht es dem Arzt, wenn es niemand schlecht ergeht.«

»Welche ist die schlimmste aller Krankheiten?« wollte Zacharias wissen.

»Das sind die Ärzte. Medico tantum hominem occidisse summa impunitas est. Der Arzt allein darf einen Menschen umbringen, ohne bestraft zu werden.«

»Was muß man tun, um gesund zu bleiben?«

»Enthaltsam leben.«

»Der Satte lobt das Fasten«, sagte Orlando, und Zacharias fügte hinzu: »Ihr geht da aber nicht mit gutem Beispiel voran.«

Der Doktor lachte: »Auch die Dicken erfüllen ihre gottgefällige Aufgabe in der Schöpfung. Der Herr segnet sie, um den armen Friedhofswürmern eine Freude zu machen.«

***

Gegen Mittag erreichten sie einen ärmlichen Weiler, der am Weg lag, als habe ihn ein über die Ufer getretener Fluß ausgespien. Die Löcher in der Straße waren tief. Enten badeten darin. Ein Mädchen trieb einen Esel vor sich her. Als es die Reiter erblickte, versuchte es zu fliehen, ein verängstigtes Kind, barfuß mit viel zu großem Kopftuch, das beim Laufen davonflog.

Schon von weitem hörten sie die schrillen Schreie, tierische Schreie, in höchstem Diskant sich überschlagend.

»Wir kommen gerade recht«, rief Zacharias, »sie schlachten ein Schwein.«

»Das ist kein Schwein«, sagte der Doktor, »das ist ein Weib.«

Sie gaben ihren Pferden die Sporen. Die Schreie kamen aus einer Hütte, aus deren Schornstein schwarzer Rauch in den Aprilhimmel stieg. Orlando hastete als erster durch die niedrige Tür. Bevor sich seine Augen dem verräucherten Halbdunkel angepaßt hatten, hörte er die Stimme des Doktors hinter sich: »Steckt Euren Hammer weg! Hier wird nicht gemordet, hier wird geboren.«

Unter einem eisernen Kessel brannte ein rauchendes Feuer. Davor auf einem Stuhl hockte ein Mann. Er hatte seine Arme von hinten um eine junge Frau geschlungen, die auf seinem Schoß saß. Vor ihr auf dem Boden kniete ein Mädchen. Es preßte die Schenkel der Gebärenden auseinander. Die dicht behaarten Arme des Mannes umspannten den prallen Bauch wie Schlangen, die ihr Opfer würgen. Die Frau schrie, daß Orlando sich die Ohren zuhielt.

»Halt, hört auf!« befahl der Doktor. »Ihr bringt sie um.« Er griff nach einem Topf mit Schweineschmalz, der beim Herd stand, schmierte sich damit die Hände ein und schob seine fettigen Finger in den Schoß der Frau.

Dann sagte er zu dem werdenden Vater: »Du bist doch ein Bauer. Hast du noch nie ein Kalb oder ein Lamm geholt? Was seid ihr bloß für Stümper? Habt ihr keine Hebamme unter euren Frauen im Dorf?«

Das Mädchen antwortete: »Die alte Bonne-mère ist letzten Winter an den Blattern gestorben.«

Der Doktor zog einen Stuhl heran. Mit Hilfe ihres Mannes brachte er die Gebärende dazu, sich auf den Stuhl zu knien, wobei sie sich mit den Armen auf der Lehne abstützte.

»Hast du ihr etwas eingegeben?«

»Mutterkorn in heißer Brühe und Alraune und Adlerstein.«

»Wann?«

»Erst vor kurzem. Die restliche Brühe ist noch warm.«

»Es dauert mindestens eine Stunde, bis das Mutterkorn die Krämpfe auslöst«, sagte der Doktor. Er tauchte ein Stück Tuch in das heiße Wasser und wickelte es der Frau um den nackten Bauch. »Das ist ein unfehlbares Verfahren, um festzustellen, ob die Geburt bereits begonnen hat. Läßt der Schmerz nach, so hast du noch Zeit.«

Die Frau begann wieder zu schreien und zu winseln. Ihre Stimme klang wund und geschunden, kraftlos. Ihre weit aufgerissenen Augen erinnerten Orlando an ein Tier, das seine eigene Schlachtung erlebt.

»Wir haben keine Zeit mehr zu verlieren. Da, nimm diesen Napf!« befahl der Doktor dem Mann. »Mach hinein!«

»Ich verstehe Euch nicht...«

»Du sollst in den Becher pinkeln.«

Der Mann tat, was man von ihm verlangte. Auch er war am Ende seiner Kräfte. Der Doktor nahm den Becher, setzte ihn der Frau an die Lippen: »Trink! Alles!«

Angewidert drehte sie das Gesicht zur Seite. Der Doktor griff ihr mit der Linken ins Haar, riß ihren Kopf zurück und zwang sie, den warmen Urin bis auf den letzten Tropfen auszutrinken.

Orlando spürte, wie sich sein Magen umstülpte. Er stürzte nach draußen, wo Zacharias bleich vor Übelkeit an der Wand lehnte. »Mein Gott«, stöhnte er, »tristis est voluptatum exitus. Traurig ist der Ausgang aller Leidenschaft.«

***

An diesem Abend übernachteten sie in der Pfarrei St. Martin von Brive-la-Gaillarde. Der Priester hatte ihnen zu Ehren eine junge Ziege schlachten lassen. Der Wein war so schwer, daß er mit Wasser gemischt wurde, was der Doktor entrüstet ablehnte. So wie am Abend einer Schlacht die Abenteuer des Tages im Mittelpunkt der Gespräche stehen, so war natürlich auch hier vor allem die Rede von der schweren Geburt und ihrem erfolgreichen Abschluß.

»Trinken wir auf das winzige Menschlein, dem wir heute zum Leben verholfen haben. Mögen seine Erdentage angenehmer und sein Tod weniger qualvoll sein als seine Ankunft.« Der Doktor leerte sein Glas in einem Zug. Er leckte sich das Bratenfett von den Fingern. Orlando mußte an den Schmalztopf denken. Nur mühsam vermochte er die Bilder der Erinnerung zu verdrängen. Zacharias mußte wohl ähnlich empfunden haben, denn er sagte: »Was ich Euch den ganzen Tag über schon fragen wollte: Warum habt Ihr die Frau gezwungen, die Pisse ihres Mannes zu trinken?«

»Was zu trinken?« fragte der Priester, der glaubte, nicht recht verstanden zu haben.

»Ihr habt Euch nicht verhört«, lachte der Doktor. »Ich hatte keine andere Wahl. Der Kirche und der Quacksalberei ist jedes Mittel recht, das zum Heil führt.«

»Und so etwas Ekelhaftes hilft?«

»Je ekliger, um so besser. Es gibt unter den Hebammen ganze Rezeptbücher mit solchen Mixturen. Diese Recueils de Secrets sind die reinsten Orgien aus Kadaver, Kot und allem möglichen Teufelsdreck, alle dem gleichen Ziel dienend, nämlich den Brechreiz und damit die Geburt auszulösen.«

»Wie widerwärtig«, sagte der Priester.

Der Doktor hielt seinen Weinbecher gegen das Licht und sagte:

»Wein ist wie Harn.
Du erkennst seine wahre Art
am Geruch, am Geschmack,
an der Farbe zart.

Die matula, das Uringlas, verrät dem Arzt mehr über den Gesundheitszustand eines Menschen als alle anderen Anzeichen. Zwanzig Farben werden bei der Harnschau unterschieden, von ut vellus cameli (wie das Fell des Kamels) über Kardinalsrot und Kükengelb zu ut cornu unicorni (schwarz wie das Horn des Einhorns). Sie verraten nicht nur unsere Leiden, sondern auch unsere Temperamente. Ist der Harn rötlich und dünn, so ist der Mensch hitzig und dürre, also ein Choleriker. Ist er weiß und dick, so zeigt er eine kalte Natur an, einen Phlegmatiker.«

»Wie ekelhaft ist das alles!«

Der Doktor erwiderte: »Naturalia non sunt turpia. Natürliches ist nicht häßlich. Hat einer von euch schon einmal eine Nachgeburt in den Händen gehalten? Eine abscheulich aussehende, weiche schwabbelige Fleischmasse, die gleich nach der Geburt so schamhaft unter dem Misthaufen verscharrt wird, daß viele gar nichts von ihrer Existenz wissen. Die tierischen Weibchen fressen ihre Nachgeburt auf. Dieses gierige Fressen der Plazenta ist allen Tieren eigen, den Grasfressern, den Raubtieren, dem wilden Getier und dem häuslichen Vieh. Der weise Avicenna schreibt in seinem Canon medicinae, daß es für eine Wöchnerin keine bessere Medizin gäbe als ihre eigene Plazenta.«

»Wie kann einer sein eigenes Fleisch essen«, sagte Orlando.

Der Priester bekreuzigte sich und fügte hinzu: »Viel Zauberinnen gibt es unter den Hebemüttern. Kein anderer hat so viel Macht über die Frauen eines Ortes wie die Hebamme. Für alle Leiden und Lüste des Schoßes kennt sie ein Kraut. Sie mischt Liebestränke, Fruchtbarkeitssalben und Gifte gegen unerwünschte Leibesfrucht. Sie verwaltet nicht nur das werdende Leben, sondern auch das erloschene, denn sie wäscht die Toten nach altem heidnischen Ritual. Sie hält die beiden Enden des Lebensfadens in ihren Händen. In ihr lebt die Schlange des Alten Testaments.«

»Die Schlange des Äskulap«, sagte der Doktor.

»Schreien alle Weiber so schrecklich, wenn sie niederkommen?« wollte Zacharias wissen.

»Alle. Das Geschrei der Gebärenden ist so typisch wie das Gegacker der Hühner. Die Bauern der Bretagne sagen: Hunde, Hähne und Kreißende muß man im ganzen Ort hören können. Und in der Tat strapaziert so manche Mutter ihren Schlund mehr als ihren Schoß. In keiner Folterkammer wird so laut gejammert wie im Wochenbett.«

»Platon vertritt in seinen Schriften die Meinung, die Gebärmutter sei ein Tier, das so selbständig im Leib des Weibes schmarotze wie ein Darmparasit. Was haltet Ihr von dieser recht aufschlußreichen These?« fragte der Priester.

»In der Tat scheint die Gebärmutter von eigenem Willen beseelt zu sein. Das wußten schon die Griechen. In der Sprache Platons heißt sie Hyster. Hysterische Weiber, das sind Frauen, die von den Launen ihrer Gebärmutter beherrscht werden. Und welches Weib wird das nicht? Manche halten die Gebärmutter für eine Art Frosch, andere mehr für einen Fisch. In Paris nennen wir sie Museau de Tauche, Schleienmaul. In der Champagne sagt man, sie sei eine Kröte. Die Gefräßigkeit dieses Tieres offenbart sich vor allem beim Geschlechtsakt. Dann öffnet sich das Maul rasch und gierig, um das Sperma zu verschlucken. Dabei flattert und zuckt es wie ein Fisch, der am Ende eines fetten Wurmes saugt und lutscht.«

»Ort der Finsternis und des Schreckens«, sagte der Priester, »Quelle der Sünden, Schlangengrube und Kloake.«

Der Doktor fügte hinzu: »Backofen des Lebens, heiligste Wiege der Menschheit.«

»Heilig nennt Ihr den Ort, wo die schmutzigsten und stinkendsten Ausscheidungen des Körpers lagern, zwischen After und Harnblase. Welch eine Umgebung! Aber ist die Gebärmutter nicht selbst eine Kloake! Scheidet sie nicht selbst regelmäßig das unreine, verdorbene Blut der Frau aus, wenn sie nicht schwanger ist?«

»Simon Magus hat gelehrt: Die Gebärmutter ist das wahre Paradies, in dem der Mensch frei von allen Sünden noch mit der Schöpfung eins ist. Die Vertreibung erfolgt mit der Geburt.«

»Simon Magus war der Vater der Gnostiker, ein Ketzer.«

Der Doktor erwiderte: »Die Gebärmutter ist nicht nur das erste Obdach aller Menschen, einschließlich aller Heiligen, sie war auch die erste Wohnstatt des Heilandes, der dort neun Monate weilte, bevor er mit dem Werk der Erlösung begann.«

»Und dennoch gibt es kein schädlicheres Gift als Menstruationsblut. Alles, was eine menstruierende Frau berührt, muß verderben. Milch wird dick, Brotteig geht nicht auf, Fleisch verfault, Honig und Wein werden sauer, Medikamente verlieren ihre Heilkraft. Hunde können schon von den Ausdünstungen tollwütig werden. Allein eine Berührung oder ein Blick solch einer Unreinen hat verheerende Wirkungen. Plinius schreibt in seiner Naturalis Historia: Ein einziger Blick einer Menstruierenden genügt, um einem Spiegel seinen Glanz zu nehmen. Schwerter verlieren ihre Schärfe.«

»Auch die Männer verlieren an Schärfe«, lachte der Doktor.

»Aber nein, keinesfalls«, rief der Priester. »In jedem Dorf findet ihr die rothaarigen Früchte der Unzucht.«

»Welche Früchte?« fragte Zacharias.

»Rotfüchse, Klinkerköpfe, Feuerhexen.«

Der Doktor sagte: »Kinder, die während der Menstruation gezeugt werden, werden mit roten Haaren geboren ...«

»Mit Muttermalen, Sommersprossen und Lepraflecken«, ergänzte der Priester. »Ein rothaariges Kind ist der Pranger seiner Eltern: Hier schaut her. Mein Vater hat es wie ein Vieh mit der Mutter getrieben, als sie mit dem Hintern in der Rotweinsoße saß! Die rote Brut der Unzucht verkörpert alle schlechten Eigenschaften der menschlichen Rasse. Zu Recht sagt man: Trau keinem mit rotem Haar! Auch Judas hatte rotes Haupt- und Barthaar. Kein Weib ist so geil und verderbt wie die Rotfüchsin. Ein Tier ist sie, ein Vieh.«

»Wenn man Euch so reden hört, könnte man der Meinung sein, Ihr zähltet Evas Töchter nicht zu den Menschen«, lachte der Doktor.

Der Priester antwortete: »Gallina non est avis, uxor non est homo. Das Huhn ist kein Vogel, das Weib ist kein Mensch.«

***

Als sie anderen Tags durch das Tal der Dordogne ritten, fragte Zacharias: »Ist die Geschlechtlichkeit wirklich so schmutzig, wie jener Priester predigt?«

Der Doktor sagte: »Ein halber Arzt schadet dem Leben mehr als gar kein Arzt. Ein halber Priester schadet dem Glauben mehr als gar kein Priester. Dieser Pfaffe weiß nichts von dem wunderbaren, unerbittlichen Zyklus des Lebens, in dem das eine vergehen muß, damit das andere entstehen kann. Die Saat trägt nur Frucht, wenn sie im Acker ruht. Der Same des Mannes benötigt den fruchtbaren Boden der Frau. Ein Narr, wer sich einreden läßt, die Erde sei schmutzig. Gott will es, daß sich seine Geschöpfe fortpflanzen, denn nur die Vermehrung sichert den Bestand. Aus diesem Grund hat er es so eingerichtet, daß wir bei der Erfüllung dieser so wichtigen Aufgabe Freude empfinden.

Die Liebe ist eine lustvolle Lockspeise, der Orgasmus ist Gottes Dankeschön für die Mitarbeit an der Erhaltung seiner Arten, ein schweres, schmerzvolles und nicht ungefährliches Unterfangen, wie wir gesehen haben.«

»Warum werden wir krank? Warum müssen wir sterben?« fragte Zacharias.

»Du stirbst nicht, weil du krank bist; du stirbst, weil du lebst. Das Leben ist eine Krankheit, die der Schlaf allnächtlich lindert. Das Heilmittel aber ist allein der Tod.«

In Cahors vor der Kathedrale St. Etienne verabschiedeten sie sich voneinander. Der Doktor sagte: »Der Herr sei mit dir, Adrian.«

Ja, dachte Orlando, der Herr sei mit Adrian!

Dann ritten sie in entgegengesetzten Himmelsrichtungen ihrem Schicksal entgegen.

Auf der steinernen Brücke über dem Fluß Lot hielt Orlando sein Pferd an. Er schleuderte einen Stein in die Tiefe und rief: »Alamut!«

»Was rufst du da?« fragte Zacharias. »Alamut, was bedeutet das?«

»Dies diem docet. Es wird sich zeigen.«

Kapitel 9

Bruder Benedict war der einzige seines Ordens, der, obwohl geweiht, nicht den Mantel der Templer trug. Er ging glatt rasiert und trug sein Haar lang wie ein Mann von Adel. Wer ihn nicht kannte, mochte ihn für einen Junker halten, den Bürger einer freien Stadt, für einen Kaufherrn oder Theologen gar. Benedict beherrschte viele Rollen. Dabei war er alles andere als ein Held. Er verabscheute Gewalt, war schreckhaft und von beißendem Spott. Als der alte Girac in einem Streitgespräch behauptete, Jesus sei wie er in Wahrheit Römer gewesen, erwiderte Benedict: »Er sagt es. Nur ein Italiener bringt es fertig, seine Mutter für eine Jungfrau zu halten. Und nur eine italienische Mutter hält ihren Sohn für einen Gott.«

Benedict Lebon war ein blasser Mensch. Seine Unscheinbarkeit verschaffte ihm den Vorteil, von seinen Gegnern unterschätzt zu werden. Er beherrschte ein halbes Dutzend Sprachen und besaß die für seine Zeit seltene Gabe, logisch zu denken und kausale Zusammenhänge zu erkennen, wo sie niemand vermutete. Magister Musnier sagte von ihm: »Er ist wie der Heilige Geist, äußerlich nicht wahrnehmbar, aber von umwerfender Wirkung.«

Aus dem großen Schreibsaal der Bibliothek war er schon früh in das Kollegium für Urkunden versetzt worden, eine Abteilung, die ihren Mitarbeitern nahezu geniale Fähigkeiten abverlangte, handelte es sich doch um nichts Geringeres als um eine Fälscherwerkstatt, in der verbriefte Rechte und Besitzstände geschickt so umfrisiert wurden, daß sie dem Orden zum Vorteil gereichten. Sie fälschten kaiserliche Siegel, päpstliche Privilegien, antike Tinten und Pergament, kopierten Unterschriften, setzten sie unter Steuerbefreiungen, Schenkungen und Erbschaften.

Nie wäre es Benedict in den Sinn gekommen, seine Tätigkeit sei ein Unrecht. Vollzog sie sich nicht im Dienste Gottes und des Ordens, und stand das nicht moralisch über der Wirklichkeit? Wenn die Dinge nicht so waren, wie sie gerechterweise hätten sein müssen, so gehörten sie halt in Ordnung gebracht, so wie man Krankheiten kuriert und Weinstöcke veredelt.

Da seine besondere Begabung jedoch mehr im Aufspüren fälschungswürdiger Pfründe lag, entwickelte er sich allmählich zu einem reisenden Agenten in geheimen Angelegenheiten. Zugute kamen ihm hierbei seine Sprach- und Menschenkenntnis sowie sein unruhiges Temperament, das ihn nicht lange an einem Ort hielt. Mäuse versetzten ihn in Panik. Um so verwunderlicher muß es erscheinen, daß man ihn Mus microtus, die Wühlmaus, nannte. Obwohl gewisse Ähnlichkeit durchaus gegeben war, verdankte er diesen Namen nicht seinem Aussehen, sondern seiner Arbeitsweise. Wie bei den Wühlmäusen war der Untergrund sein wahres Wirkungsfeld. Eine Armee von Spitzeln von allen wichtigen Höfen und Kardinalskollegien versorgte ihn mit Informationen. Wichtige Missionen pflegte er im Alleingang zu erledigen. Dann verschwand er für Wochen von der Oberfläche, wühlte, sammelte und tauchte erst wieder auf, wenn er den Fall gelöst hatte.

***

Wenn immer ihn seine Reisen durch Chartres führten, war Benedict fasziniert von dem Gewimmel an der Dombaustelle. Kaum waren die letzten Sterne verblaßt, da krochen die Arbeiter aus ihren primitiven Unterkünften hervor wie die Toten aus ihren Gräbern beim Jüngsten Gericht. Ihre Leiber dampften in der Morgenkühle. Ein Heerwurm von Arbeitstieren. Zwanzig, dreißig von ihnen vor einen Ochsenkarren gespannt. Die Räder ächzten unter der Last der Quadersteine. Ein Mönch feuerte sie an: »Vorwärts, vorwärts! Gott will es.«

Gespenstische Gestalten, weiß gepudert vom Staub, mischten in hölzernen Kübeln den Mörtel für die Maurer. Der Lärm der Steinmetze war so ohrenbetäubend, daß man sich nur schreiend unterhalten konnte.

»So stell ich mir die Hölle vor«, rief Benedict.

»Laß das bloß keinen hören«, erwiderte Bruder Jacopo, der ihn begleitete. »Du befindest dich im Vorhof des Paradieses. Hier gilt nicht: Ora et labora! Hier heißt es: Ora est labora. Für sie ist Arbeit und Gebet das gleiche. Bevor sie morgens die Arbeit aufnehmen, empfangen sie die heilige Kommunion. Wer es wagt, die Baustelle zu betreten, ohne zuvor gebeichtet zu haben, wird davongejagt wie ein Gotteslästerer.

Nicht nur aus Chartres, von allen umliegenden Dörfern eilen sie herbei, opfern all ihr Habe, bringen der Mutter Gottes ihre Muskelkraft dar. Lehnsherren überlassen ihr Pacht und Gült. Selbst der Bischof und die Kanoniker verzichten auf ihre Einnahmen. Die Klöster versorgen den menschlichen Bienenschwarm mit Speisen, die Weiber mit Wolle und Krankenpflege, und auch die Kranken und Krüppel tragen ihren Teil mit inbrünstigem Gebet.«

Zwei Mönche führten einen wehklagenden Menschen vorüber, dessen Gesicht von nassem Leinen verhüllt war.

»Das sieht bös aus. Was ist ihm widerfahren?« fragte Benedict.

»Ätzkalk.«

»In beiden Augen?«

»Er hatte nur noch eins.«

»Mein Gott, wie schrecklich!«

»Die Jungfrau wird ihm beistehen. Hat nicht Jesus den Blinden geheilt?«

»Auf jeden Fall wird er den Glanz des himmlischen Jerusalem schauen«, sagte der Mönch und schlug das Kreuz über den Mann.

»Eine Baustelle wie ein Schlachtfeld«, sagte Benedict.

»Du sagst es, Bruder. Sie bauen seit fast zwanzig Jahren an der Kathedrale. Weißt du, wie viele in dieser Zeitspanne ihr Leben lassen mußten? Mehr als vierhundert! Vierhundert Erschlagene, Zerquetschte, zu Tode Gestürzte, die Geblendeten und Verkrüppelten nicht mitgezählt. Welch ein Menschenopfer! Vergleichbar mit der heiligen Raserei des alten Abraham, der bereit war, seinen eigenen Sohn zu schlachten zur Ehre Gottes. Siehst du dort oben den hölzernen Kran auf dem Kranz des Turmes? Von dort sind am Tag vor Mariä Empfängnis zwei Zimmerleute – o mater dolorosa – vom Gerüst gestürzt. Dem jüngeren gelang es noch, das Regenblech zu fassen. Zappelnd wie ein Fisch an der Leine hing er über dem Abgrund. Die Priester erteilten dem Unglücklichen die Sterbesakramente ex distatus. Unser aller Gebete stiegen gen Himmel, aber kein Flehen vermochte ihn zu halten. Mit der Stirn voran stürzte er auf die Steinplatten. Andere brechen sich die Beine. Der Sargschreiner, der auch die Krücken schnitzt, beschäftigt sechs Gesellen. Wenn das so weitergeht, dann wird es bei der Weihe kaum noch genügend Menschen geben, um das riesige Kirchenschiff zu füllen. Neulich hörte ich einen Dachdecker sagen: Die Hölle ist nicht unten. Sie ist da oben am Himmel.«

»Sind nicht schon die Urenkel Adams für die Hybris gestraft worden, einen Turm bis in den Himmel zu bauen? Warum muß diese Kathedrale so himmelstürmend hoch sein?«

Ich werde den Großmeister fragen, dachte Benedict.

Als er ein paar Tage später zum Großmeister gerufen wurde, fragte der: »Du warst in Chartres, Bruder Benedict. Wie geht es dort voran?«

»Wie beim Turmbau zu Babel.«

»Noch nie«, sagte der Großmeister, »nicht einmal im alten Römischen Reich, wurden so viele und so gewaltige Bauten zum Himmel getürmt wie in unseren Tagen.«

Peter von Montaigu war vor einer der Landkarten stehengeblieben, die die Wände seines Arbeitszimmers bedeckten. Benedict erkannte die vertrauten Umrisse Frankreichs.

»Eine Großbaustelle an der anderen: Noyon, Senlis, Laon, Paris, Poitiers, Soissons, Bourges, Chartres, Rouen, Reims, Le Mans, Amiens. Die Pläne für Beauvais und Straßburg sind fertig. Und das sind nur die wichtigsten Kathedralen. Noch erstaunlicher als die Menge und die Dimension dieser Bauten ist ihre Architektur. Alle bisherigen Baustile des Abendlandes bestehen aus antiken Elementen: griechische Säulen, römische Bogen und Kuppeln. Unsere Architektur ist etwas völlig Neues. Nie zuvor gab es ähnliche Formen oder konstruktive Techniken. Die Decken dieser neuen Riesenräume werden nicht von dicken, plumpen Säulen getragen. Bündel von steinernen Lisenen, fein wie Halme, schießen gleichsam schwerelos zum Himmel. Die Wände – in den alten Bauten oft viele Ellen dick – werden aufgelöst in Fenster, breit wie Scheunentore und höher als die höchsten Wehrtürme. Fensterrippen aus Stein, so fein gesponnen wie Brabanter Spitze, mit Glas bespannt, leuchtender als alle Schmetterlingsflügel der Welt. Masse wird in Kraft verwandelt. Und was für Kräfte!«

»Warum sind diese neuen Räume so himmelstürmend hoch?« fragte Benedict. »Was nützt es, ob ein Kirchenschiff fünfzig oder hundert Ellen hoch ist? Deshalb gehen nicht mehr Menschen hinein.«

»Diese Bauten sind mehr als Versammlungsräume.«

»Ja gewiß, Gotteshäuser«, sagte Benedict. »Aber hat Gott solche Hallen wirklich nötig?«

»Nicht Gott, wir brauchen diese neuen Räume.«

»Wir Christen ...?«

»Nein, wir Templer«, unterbrach ihn der Großmeister, und er fügte hinzu: »Wir glauben, wir formen unsere Bauten, in Wahrheit jedoch formen die Bauten uns. Mit den. Architekturen verhält es sich wie mit den Religionen. Ursprünglich von Menschen geprägt, verwandeln sie alle, die in ihnen leben. Das geschieht ohne unseren Verstand, denn mehr als durch irgendeine verstandesmäßig erfaßbare Lehre werden wir von unserer Umgebung geprägt. Unsere Persönlichkeit – das, was wir wirklich sind – wird während unserer ersten drei Lebensjahre ausgebildet, und dennoch vermögen wir uns später an diese für uns so wichtige Zeit nicht mehr zu erinnern.«

Der Großmeister war vor einem Modell stehengeblieben.

Er betrachtete es liebevoll und fragte:

»Hast du mal in einer dieser neuen Kathedralen gestanden? Welch eine Weihe! Wer sie erfahren hat, ist nicht mehr der, der er einmal war. Non sum qualis eram! Diese Räume sind die Schmelztiegel für den neuen Menschen, himmelstürmende Monumente am Anfang einer neuen Ära, ersonnen und eingeleitet von uns. Nur wenige vermögen zu erfassen, was hier wirklich vor sich geht.

In kaum hundert Jahren über siebzig Kathedralen, die gewaltigsten Bauwerke seit Ägyptens Pyramiden. Diese Hallen werden die Menschen mit unglaublicher Inbrunst erfüllen. Im Glanz der größten Fenster, durch die je Sonnenlicht fiel, werden sie das Paradies leibhaftig erschauen. Wie kann einer zweifeln, der den Glanz des Himmels mit seinen eigenen Augen sieht!

Dieser Farbenrausch durchflutet Menschen, die in ihrem ärmlichen Alltag keine anderen Farben kennen als grauen Dreck, bräunliches Holz, Kalkschlämme und Feldstein.

Das steingewordene himmlische Jerusalem, wahrhaft lichtdurchwoben vom Heiligen Geist. So wie der Stein der Weisen aus Blei Gold macht, so werden diese heiligen Hallen die Menschen verwandeln. Ein Mysterium der Weihe für ein ganzes Volk. Und wir werden den neuen Menschen führen. Virgo paritura (die Jungfrau, die gebären wird), Chartres aber wird die Krone tragen. Auf der Spitze des Nordturmes wird eine Sonne angebracht werden, auf dem Südturm wird ein Halbmond leuchten. Baphomet!!! Nihil in intellectu, quod non ante in sensu. Nichts kann verstandesmäßig erfaßt werden, was nicht zuvor sinnlich wahrgenommen wird.«

Der Großmeister hatte seine Umgebung vergessen. Er sprach zu sich selbst, beschwor eine Vision.

»Verzeih mir die Abschweifung, Bruder Benedict. Ich bin überarbeitet, und das hier gehört nicht zu der Angelegenheit, die wir mit dir besprechen wollten. Der Seneschall erwartet dich. Er wird dich über deinen Auftrag informieren.«

Kapitel 10

Die beiden Templer gingen nebeneinander den schmalen Ufersaum entlang. Auf der anderen Seite der Seine zogen ein paar Schiffer ihren Kahn flußaufwärts. Der Frost verwandelte ihren Atem in kleine weiße Wolken.

»Wie du gewiß weißt, Bruder Benedict«, sagte der Seneschall, »hat Herzog Ludwig einen großen Teil seines Lebens im Dienst des Reiches verbracht. Seine Tätigkeit zwang ihn zu langen und weiten Reisen bis nach Sizilien und sogar hoch den Nil hinauf. In seinen deutschen Landen weilte er nur selten. Trotzdem muß er bei seinen Untertanen sehr beliebt gewesen sein. Als er in die Gefangenschaft des niederländischen Fürstenbundes geriet, haben ihn seine Untertanen mit 10 000 Gulden freigekauft.«

»Das geschieht gewiß nicht oft«, sagte Bruder Benedict.

»Der Kelheimer stand in unglaublich hoher Gunst beim Kaiser. Er hatte ihn nicht nur zum Reichsverweser, sondern auch zum Vormund seines Erstgeborenen ernannt. Das Verhältnis zwischen dem Kelheimer und dem Prinzen soll jedoch nicht gut gewesen sein. Prinz Heinrich beschwerte sich wiederholt bei seinem Vater über die Strenge des herzoglichen Vormundes.«

»Das ist kein Grund für einen Mord«, lachte Bruder Benedict.

Der Seneschall nickte und fuhr fort: »Wie du weißt, gab es eine böse Auseinandersetzung zwischen Kaiser Friedrich und Papst Gregor. Du kennst den Grund: Der Kaiser hatte seinen Kreuzzug abgebrochen, wegen der schwarzen Seuche, wie er sagte, oder aus politischen Erwägungen, wie ihm Rom vorwarf. Gregor belegte ihn mit dem Kirchenbann, was den Kaiser nicht daran hinderte, im darauffolgenden Jahr seinen eigenen Kreuzzug auszurufen. Es kam zum Zerwürfnis zwischen Kaiser und Papst, bei dem sich Herzog Ludwig auf die Seite des Papstes schlug. Nach allem, was Kaiser Friedrich für ihn getan hatte, war das ganz gewiß kein schöner Zug von dem Kelheimer.«

»Da haben wir das Mordmotiv!« rief Brüder Benedict.

»Respice finem! Nicht so voreilig«, warnte der Seneschall.

»Wie du weißt, endete dieser Kreuzzug erfolgreich. Friedrich gewann die heiligen Stätten durch Vertrag mit dem ägyptischen Sultan und gründete das Königreich Jerusalem. Welch Wunder! Papst und Kaiser versöhnten sich! Es gab also gar keinen Grund mehr, Ludwig aus dem Weg zu schaffen. Und dennoch wurde der Kelheimer zwei Jahre später erdolcht.«

Benedict sagte: »Wie sehr muß der Kaiser den Herzog gehaßt haben.«

»Unsinn«, rief der Seneschall, »wieso sollte er ihn gehaßt haben? Er wußte sehr wohl, daß Ludwig nur Partei für Rom ergriffen hatte, um daraus politischen Nutzen zu schlagen, der dem Kaiser nicht schadete, aber Ludwigs Hausmacht in Bayern vergrößerte. Der Kaiser selbst ist ein geschickter Fallensteller auf diesem Gebiet. Er verbindet sich und entzweit sich mit Päpsten und Kalifen, gerade wie es seiner Sache dienlich erscheint. In der hohen Politik ist es wie beim Schachspiel. König und Bischof sind Steine eines Spiels. Für welchen Zug ich mich entscheide, ist nicht eine Angelegenheit des Herzens, sondern des Verstandes. Es gibt keinen anderen Herrscher, der sich so kühl von den gegebenen Erfordernissen leiten läßt. Haß oder gar Rache für einen so weit zurückliegenden Vertrauensbruch, der gar keiner war, entspricht ganz und gar nicht Friedrichs abwägendem Charakter. Die Ermordung seines Reichsverwesers bringt ihm nicht einen einzigen Vorteil, im Gegenteil, sie schadet ihm gewaltig.«

»Wieso das?« fragte Benedict.

»Weil der Verdacht der schändlichen Mordanstiftung zuerst auf ihn fallen muß. Du hast es in den Annalen der bayerischen Klöster selbst gelesen. Keiner weiß den Mörder zu nennen, aber alle vermuten den Kaiser hinter der Tat.«

»Ihr meint also, daß der Kaiser mit dieser Bluttat nichts zu schaffen hat? Aber warum soll ich dann in dieser Richtung Nachforschungen anstellen?«

»Ich habe nicht gesagt, daß Kaiser Friedrich nichts damit zu tun hat. Ich bin davon überzeugt, daß er in den Mord verwickelt ist, aber nicht als Täter, sondern als Opfer.«

»Opfer?« Benedict wiederholte das letzte Wort des Seneschalls, als habe er sich verhört.

»Ein Grundsatz der alten römischen Rechtfindung lautet: Is fecit, huic prodest. Der hat es getan, dem es nützt.«

»Wo beginnen wir?«

»Bei Hagen von Halberstedt. Er war als Sekretär des Deutschordensmeisters mit dem Kaiser im Heiligen Land; ein Haudegen, der mit der Waffe so gut umzugehen versteht wie mit der Feder. Vor allem steckt er ständig in Geldnot. Bei ihm werden wir beginnen.«

***

Dem Turnier war wie üblich eine Frühmesse vorausgegangen. Der geistlichen Stärkung folgte ein Frühstück im Freien. Danach riefen die Herolde zu den Waffen.

Bruder Benedict stand bei den Rittern des Gaugrafen und beobachtete das Treiben der Knappen und Knechte, die die Rösser für den Kampf aufzäumten: Wiehern, Waffenklirren, Flüche, Befehle, Gebete. Auf der Mauerkrone fiedelten die Musikanten. Der Wind trug die Melodien davon wie wirbelnde Spreu. Die Turniere zur Maienzeit waren ein willkommener Anlaß, Wohlstand vor aller Welt zu entfalten. Jeder wollte zeigen, was er hatte. Nirgendwo sonst entblößten die Damen ihre Brüste so schamlos wie hier. Bei keiner anderen Gelegenheit waren die Hosen der Herren so eng, so prall gestopft mit aufgeblasenem Hammeldarm.

Die beiden Kontrahenten hatten beim ersten Durchgang ihre Lanzen aneinander zerbrochen, ohne daß es einem von ihnen gelungen war, den anderen aus dem Sattel zu heben. Schwer atmend mit schweißglänzendem Fell bäumten sich die Pferde unter den straff gespannten Zügeln.

Dann das Signal. Die Attacke. Mit der Wucht von zwei Rammen prallten sie gegeneinander. Holzteile wirbelten durch die Luft, eine Helmspange, eine eiserne Hand. In hohem Bogen stürzte der Getroffene zu Boden. Sein Pferd war in den Vorderfüßen eingeknickt, überschlug sich, kam wieder auf die Beine, wurde von ein paar Pagen eingefangen.

Der Sieger badete im Beifall. Der Verlierer wurde auf einer Bahre davongetragen. Ein junger Ritter, der neben Benedict an der Barriere lehnte, sagte: »Er hat alles gewagt und alles verloren.«

»Das Leben ist ihm geblieben«, sagte Benedict.

»Das ist aber so ziemlich das einzige«, lachte der Ritter. »Wie du vielleicht nicht weißt, Bruder – mich dünkt, du bist ein Ordensbruder –, verliert der Geworfene seine Waffen samt Rüstung und Roß an den Gewinner. Das ist ein Betrag, für den du dir drei Bauernhöfe mit Land und allem Vieh und Knechten kaufen kannst. So mancher stolze Herr schleicht nach verlorenem Turnier zu den Juden, um sein väterliches Erbteil zu verpfänden.«

Die Fanfaren verkündeten den nächsten Kämpfer. Mit aufgerichteter Lanze ritt er in die Arena. Der Herold rief:

»Hier kommt Herr Lutz von Vasaland.
Er trägt Frau Venus ihr Gewand.«

Noch nie hatte Benedict einen so seltsamen Menschen gesehen. Auf dem kleinen zartgliedrigen Pferd, das er ritt, wirkte der gepanzerte Mann wie ein Riese. Über seiner eisernen Rüstung trug er ein langes durchsichtiges Mädchenhemd, das ihn umwehte wie Spinnweb. Hinten an seinem Helm flatterte ein blonder Zopf.

»Zwischen Köln und Cherbourg gibt es kein Turnier ohne ihn, den treuesten Vasallen der Frau Venus«, sagte der junge Ritter. »Die Frauen vergöttern ihn.«

Zum zweitenmal ertönte die Fanfare. Der Herold verkündete:

»Hier kommt Hagen von Halberstedt
Mit seiner Ratze, rot und fett.«

Die Pferdeburschen lachten. Wie hieß es doch in dem bekanntesten Gedicht Oswald von Wolkensteins:

Komm lieber Schatz,
Mich schreckt mein Ratz,
Davon ich dick erwache.
Komm laß das Bettlein krache.

Hagen von Halberstedt ritt einen riesigen Rappen mit silberner Satteldecke. Sein Wappenschild zeigte eine fette rote Ratte mit langem Schwanz. Die Ritter grüßten hinauf zu den Zinnen, wo die Gäste des Gaugrafen unter farbigem Fahnentuch Platz genommen hatten. Dann trabten sie zu der Barriere, die die beiden Kämpfer voneinander trennte. Mit bunten Bändern geschmückt reichte sie den Rössern bis an die gepanzerte Brust. Jetzt hatten sie die Finalen, die Endpunkte der Barriere erreicht. Dreißig Doppelschritte trennten sie. Die Buhurttrommel wurde geschlagen. Die Helmvisiere wurden heruntergelassen. Es war still geworden, so still, daß das Klicken der Eisenscharniere noch oben auf der Mauer vernehmbar war. Für die beiden Kämpfer versank die sonnenhelle Umwelt in verliesartige Finsternis. In dem winzigen Rechteck des Sehschlitzes gab es nur noch den Gegner.

Der erste Fanfarenruf. Die Reiter senkten die Lanzen. Ihre Spitzen zuckten wie Natternzungen. Die Flanken der Pferde bebten. Jeder Nerv bis zum Zerreißen gespannt, zwei Pfeile auf durchgezogenen Bogen. Da! Das zweite Hornsignal!

Ein Schrei aus hundert Kehlen. Wie zwei Jagdfalken schossen die Reiter aufeinander zu. Wie Hämmer schlugen die Hufe den Boden. Heilige Mutter Maria, hilf! Verrecken soll das Schwein! Ein Brechen und Knacken wie von tausend Knochen. Ein wilder Schrei aus hundert Kehlen! Die Zuschauer waren aufgesprungen. Lutz von Vasaland hielt nur noch den Schaft seiner Lanze in der eisenbewehrten Faust. Sein Gegner lag neben der Barriere, das Gesicht im Sand. Sein Schild war beim Sturz zerborsten. Zwei Knappen knieten neben ihm. Knechte eilten herbei, befreiten den Bewußtlosen aus seiner Rüstung.

Als sie ihm den Helm vom Kopf hoben, schrien die Umstehenden laut auf vor Entsetzen. Der Anblick war ekelhaft. Gesicht und Haar klebten von gelblicher Gehirnmasse, die sich jedoch bei näherer Untersuchung als erbrochener Mageninhalt herausstellte. Aus seiner Ohnmacht erwacht, kletterte der Gedemütigte aus eigener Kraft auf ein herbeigeführtes Pferd und trabte mit schmerzverzerrtem Gesicht davon, wobei er die herbeigelaufenen Gaffer und sein glückloses Schicksal mit schaurigen Flüchen bedachte. Der Vasall der Frau Venus wurde von seinen Verehrerinnen mit Blumengebinden, Wäscheschleifen und verheißungsvollen Blicken belohnt.

Kapitel 11

Benedict musste drei Tage warten, bis der Graf so weit wiederhergestellt war, daß er seinen Besucher empfangen konnte. Als Ehrengast bewohnte der Graf das Obergeschoß des Südflügels gleich neben dem Söller. Der Ausblick war atemberaubend. Hagen von Halberstedt saß in einem Stuhl mit hoher Lehne beim Fenster. Sein fahles Gesicht war wie eine Karstlandschaft von tiefen Falten zerfurcht, geprägt von eisernem Willen, Trotz und hochmütiger Verachtung gegenüber allem und jedem.

Benedict ließ durchblicken, daß sein Orden bereit sei, gewisse Auskünfte gut zu honorieren. Der Graf versicherte, er habe stets allergrößte Hochachtung vor den Templern empfunden, fügte jedoch hinzu: »Mehr vor den Männern als vor dem Orden.«

Benedict fragte: »Ihr wart mit dem Kaiser im Heiligen Land?«

»Ihr sagt es.«

»Ihr wart Sekretär des Deutschordensmeisters Hermann von Salza? Erzählt mir ein wenig von jenen tapferen Tagen.«

»Sie waren mehr wundersam als tapfer. Wir gewannen die heiligen Stätten ohne einen verdammten Schwertstreich. In dem Manifest des Kaisers hieß es: Durch wundersame Fügung und Verhandlung haben wir erreicht, was kein Mächtiger mit Waffen vermocht hat.«

»Erfolg ist nur sehr selten die Frucht einer wundersamen Fügung.«

»Es war sein Verdienst. Vom Papst gebannt, abgesetzt und für tot erklärt, hatte der Kaiser Feind und Freund gegen sich. Im Lager von Jaffa hungerte sein Heer. Abgeschnitten vom Nachschub drängten die Heerführer zum Handeln: Worauf warten wir? Schlagt die Marschtrommeln! Hebt die Fahnen in den Wind! Wir erobern uns, was wir brauchen. Aber Friedrich hielt sie zurück. Noch war kein Schwert aus der Scheide gefahren. Noch klebte kein Blut an den Lanzen. In einem Brief an den Sultan, den der Kaiser in meinem Beisein diktierte, hieß es: ›Wir sind nicht übers Meer gefahren, um Euer Land zu erobern. Länder besitzen Wir mehr als irgendein Herrscher auf Erden. Wir sind hier, um mit Euch einen Vertrag über den Zugang zu den heiligen Stätten abzuschließen. Wir sollten nicht länger das Blut Unserer Untertanen vergießen.‹«

»Äußerst ungewöhnlich für einen Kreuzritter, der gelobt hat, das Heilige Land mit dem Schwert zu erobern.«

»Das fanden wir auch«, sagte der Graf. »Der Kaiser, der fließend Arabisch spricht, verhandelte mit den Wesiren persönlich. Einladungen und Ehrenbezeugungen wurden ausgesprochen. Sultan al-Kamil wurde mit Geschenken überhäuft: Bernstein, Perlen und Rubine, Pelze von Biber und Bär, Greife aus den kaiserlichen Falknereien, vor allem jedoch Mädchen, blaß, blond und blauäugig, wie al-Kamil sie liebte. Den gelehrten geistlichen Beratern des Sultans erwies der Kaiser seine Verehrung durch Austausch von wissenschaftlichen Erörterungen.«

»Wissenschaftliche Erörterungen?« fragte Benedict. »Was für wissenschaftliche Erörterungen?«

»Es waren mathematische Probleme, aber auch ganz alltägliche. Ich erinnere mich, in einem Fall ging es um die Frage, warum ein Stock, den man ins Wasser steckt, so aussieht, als sei er geknickt.«

»Über solche Dinge hat der Kaiser mit den Ungläubigen gesprochen?«

»Während das Heer tatenlos hungerte.«

»Wie ist das möglich?«

»Das fragten sich auch seine Hauptleute. Friedrich war ihnen fremd geworden. Er besaß nur noch wenige Vertraute unter seinen eigenen Leuten; zu ihnen gehörten der langobardische Graf Thomas von Arezzo und Hermann von Salza. Durch den letzteren erlebte ich das Geschehen aus nächster Nähe. Der Kaiser begegnete den Ungläubigen nicht wie Feinden, sondern wie Freunden. Ach, was sage ich, er benahm sich so, als wäre er einer von ihnen. Er trug ihre Kleidung, redete in ihrer Sprache, aß ihre Speisen, lauschte ihrer Musik und schlief mit ihren Mädchen. Wir alle stellten mit Bestürzung fest, daß er sich nicht etwa verstellte, sondern daß ihn der Umgang mit diesen Hundesöhnen belebte und erfreute. Zu Salza sagte er: ›Ich liebe ihre erlesene Lebensart, das geistige Vergnügen der Gespräche und Gedichte.‹

An al-Kamil schrieb er: ›Warum sollen wir uns zerfleischen wie die Tiere, wo wir beide nichts mehr bewundern als Geist und guten Geschmack? Ist es nicht vorteilhafter für uns alle, die schönen Dinge im Austausch zu genießen als sie zu zerstören?‹«

»Das hat der Kaiser geschrieben?«

»Ich habe es mit eigenen Augen gelesen. Niemand verstand ihn. Im Februar 1229, vier Tage vor Petri Stuhlfeier, geschah das Unglaubliche. Abendland und Morgenland reichten sich brüderlich die Hand. Kaiser Friedrich schwor im Namen Christi und aller Heiligen. Der Sultan versicherte beim Barte des Propheten, er werde das Fleisch seiner linken Hand verzehren, wenn er den geheiligten Vertrag bräche.«

»Welch ein Triumph der Christenheit!« rief Benedict.

»Nein, nicht der Christenheit. Der oberste Hirte der Christenheit hat alles in seiner Macht Stehende getan, um den Vertrag zu verhindern.«

»Wie meint Ihr das?«

»Der Kaiser hatte gehofft, sein Erfolg würde den Papst versöhnen. Aber Rom wollte keinen Triumphator. Als reuiger Sünder sollte der Gebannte zu Kreuze kriechen, durch Mißerfolg gedemütigt. Es wurden Briefe abgefangen, in denen Papst Gregor den Sultan wissen ließ, er würde ihm einen großen Gefallen erweisen, wenn er die heiligen Stätten nicht herausgäbe.«

»Das ist nicht wahr!«

»Es ist die Wahrheit. Ich habe dieses schändliche Schreiben mit meinen eigenen Augen gesehen.«

»O mein Gott«, stöhnte Benedict. »Homo assimilatus est iumentis insipientibus et similis factus est illis.«

»Was sagt Ihr da?«

»Der Mensch ist gleich geworden den unvernünftigen Tieren. Er ist ihr Ebenbild geworden.«

»Es sollte noch schlimmer kommen. Als Rom den unblutigen Sieg nicht mehr verhindern konnte, wurde Friedrich von allen Kanzeln herab für vogelfrei erklärt. Der Papst nannte ihn einen Ketzer und Höllenfürsten, der mit den Feinden Christi verhandelt, anstatt sie zu bekämpfen, so wie es sich für einen Kaiser geziemt, der ein Kreuzzugsgelübde abgelegt hat.«

»Aber haben nicht auch der päpstliche Legat Pelagius und Gottfried von Bouillon während des ersten Kreuzzuges mit den Ungläubigen verhandelt?«

»Gregor war empört, daß ein von Rom Gebannter erreicht hatte, was keinem Kreuzfahrer mit päpstlichem Segen gelingen wollte. So groß war der Haß des Heiligen Vaters, daß er selbst vor Meuchelmord nicht zurückschreckte. Über den Ordensmeister der Templer zu Jerusalem ließ er den Ungläubigen die geheime Nachricht zukommen, der Kaiser werde zu bestimmter Stunde mit geringer Begleitung zur Taufstätte am linken Jordanufer pilgern. Es gäbe keine bessere Gelegenheit, ihn abzufangen und zu entleiben.«

»Wie könnt Ihr so unglaubliche Beschuldigungen gegen Rom und gegen meinen Orden vorbringen?« rief Benedict.

»Sultan al-Kamil schickte diesen Brief an Friedrich. Dazu schrieb er: ›Angewidert von so niederträchtigem Verrat der Ritter Eures Kalifen in Rom, übergebe ich Euch das mörderische Pergament. Es trägt das Siegel des Ordensmeisters der Templer. Möget Ihr daraus entnehmen, daß Ihr von Euren Feinden weniger zu befürchten habt als von Euren eigenen Leuten.‹«

Der Graf war aufgestanden. Die Erinnerung hatte ihn erregt. Er hinkte zum Fenster: »Möchtet Ihr wissen, Bruder Benedict, wie der Kaiser auf diesen Brief reagierte? Er lachte. Nie zuvor und niemals mehr danach habe ich einen Menschen so entsetzlich lachen gehört. Sein Lachen schallte durch alle Räume, lief die Flure entlang, treppauf und treppab, flog zu den geöffneten Fenstern hinaus, als wolle es alle Erdenreiche zum Einsturz bringen. Kein Tier vermag so schaurige Laute von sich zu geben. Am Abend des gleichen Tages sagte er in meinem Beisein zu Hermann von Salza: ›Das vergesse ich ihnen nie. Dafür werden sie zahlen, der Papst und die Templer.‹«

Kapitel 12

Orlando würde nie den Tag vergessen, an dem er das erste Mal das Meer sah. Sie ritten über eine Bergkuppe, und da lag es vor ihnen, unendlich weit, ein riesiges Ungeheuer, das an den Himmel stieß, silbergrau, als trüge es eine eiserne Rüstung. Ohne anzuhalten, galoppierten sie hinab zum Strand. Unaufhaltsam donnerten die Wellen heran. Andächtig beobachteten sie die gewaltige Bewegung. Schließlich stieg Orlando vorn Pferd. Er entledigte sich seiner Kleider, stieg in die schäumende Flut, berührte sie mit den Fingern, genoß sie auf der nackten Haut, schmeckte sie mit den Lippen, tauchte in sie ein. Zacharias lachte ihn aus:

»Wie schmeckt das Meer? Ist es warm? Paßt auf, Gevatter, daß Euch die Fische nicht den Schwanz abbeißen.«

Als Orlando wieder an Land stieg, fragte Zacharias: »Warum tust du das?« Er antwortete: »Ansehen genügt nicht. Es gibt Dinge, die muß man anfassen, schmecken, befühlen, mit Haut und Haaren erleben. Zu ihnen gehören das Meer, die Pferde und die Frauen.«

»Hast du schon mal eine Frau angefaßt, geschmeckt?« fragte Zacharias. Orlando blieb ihm die Antwort schuldig. Statt dessen stieß er den Freund vorn Pferd und schüttelte sich vor Lachen, als dieser klatschnaß das Weite suchte.

***

Am Tag vor Dreifaltigkeit bestiegen die beiden Templer im Hafen von Narbonne ein genuesisches Schiff aus Cartagena, das auf günstigen Wind nach Alexandria wartete. An Bord hatte sich eine bunte Schar von Reisenden eingefunden, Kreuzfahrer aus der Normandie, jüdische Kaufleute, Abgesandte aus Byzanz, Malteser Mönche, Sklaven, bestimmt für die Zuckerrohrplantagen von Zypern, Mauren aus Andaluz, ein ägyptischer Doktor und ein weißbärtiger Kab-al-Achbar, ein arabischer Rechtsgelehrter mit seinem Famulus.

Gemini und Zacharias erhielten einen Schlafplatz in der Mitte des Schiffes gleich hinter dem zweiten Großmast, wo die Wellenbewegung sich am wenigsten bemerkbar machte. Zunächst war jedoch von Bewegung nur wenig zu spüren. Nach zwei Tagen erwachte endlich der Wind. Die Rahsegel flatterten wie Fahnen, versuchten den Wind zu fassen. Das Schiff zerrte an den Ankerketten. Seine Planken knarrten und stöhnten wie alte Stiegen. Leinen wurden losgemacht, Schoten angezogen. Befehle und Flüche bellten über Deck. Gebete stiegen zum Himmel, denn nirgendwo sonst sind die Menschen so sehr in Gottes Hand wie vor Gericht, in der Wüste und auf dem Meer.

Der Westwind schob das Schiff vor sich her. Gleichmäßig hob und senkte es sich wie eine atmende Brust. In Sichtweite der Küste passierten sie die Saone-Mündung. Nachts sahen sie die Leuchtfeuer von Marseille. Fünf Tage später erreichten sie Genua. Der Aufenthalt war nur kurz. Der günstige Wind wollte genutzt werden. Fässer mit Salzfleisch und Trinkwasser wurden an Bord gehievt, Dörrfleisch und Holzkohle.

Am frühen Morgen sahen sie rechter Hand die Berge von Korsika. Sie erkannten Elba und suchten den Schutz der latinischen Küste, denn die Korsen waren gefürchtete Seeräuber. Weh dem, der ihnen in die Hände fiel!

Auf der Höhe von Sardinien schlief der Wind ein. Das Schiff klebte auf dem glatten Meer wie Fliegendreck auf Spiegelglas.

»Das Tyrrhenische Meer ist eine mannstolle Hure«, sagte der Kapitän. »Wen sie einmal im Bett hat, den läßt sie so schnell nicht wieder laufen.« Er zeigte nach Osten: »Dort drüben hinter dem Horizont liegt die Insel Capri. Dort hat Odysseus ein ganzes Jahr lang festgelegen. Die Griechen behaupten – Herr vergib ihnen, sie sind allesamt Lügner –, eine Zauberin Circe habe ihn festgehalten, aber ich sage euch, es war diese verdammte Flaute.«

»Hat diese Circe den Odysseus und seine Männer nicht in Schweine verwandelt?« fragte ein alter jüdischer Händler, und man sah ihm an, mit welchem Abscheu ihn die Vorstellung erfüllte, in das unreinste aller Geschöpfe verwandelt zu werden.

»Ich wäre lieber ein Schwein als ein Jude«, lachte ein junger Kreuzfahrer. Der alte Jude sprach feierlich: »Möge dein Wunsch in Erfüllung gehen.«

Nun lachten alle, auch die Christen, und die am lautesten. Überhaupt waren Gespräche die einzige Abwechslung an Bord. An den früh hereinbrechenden Abenden wurde unter Deck Holzkohle in mächtige Messingbecken gefüllt, um die sich die Reisenden scharten. Obwohl Christen, Moslems und Juden getrennt ihre Gebete verrichteten und ihre Mahlzeiten einnahmen, war die Abendgesellschaft eine ziemlich zusammengewürfelte Runde. Die Enge des Schiffes, vor allem jedoch der wärmende Schein des Feuers verband Freund und Feind, Rechtgläubige und Ketzer.

An einem dieser Abende zeigte der alte Kab-al-Achbar in die Glut und sagte: »Die Frierenden verehren die Wärme des Feuers; die im Dunkeln leben, suchen sein Licht. Andere preisen die veredelnden Kräfte der Flammen, die Erz zu Eisen schmelzen und Ton zu Töpferware. Ein jeder hat recht, aber jeder verehrt nur einen Teil des Ganzen. So verhält es sich auch mit den Religionen. Gott ist das Feuer. Christen, Moslems und Juden suchen seine Nähe. Und jeder glaubt, er allein besäße die ganze Wahrheit der göttlichen Glut.«

»Wie kannst du als Schriftgelehrter so etwas sagen«, ereiferte sich ein Maure, den sie Schiefmaul nannten, weil er ein Gesicht wie ein Plattfisch hatte. »Beginnt nicht jedes rechtgläubige Gebet mit dem Satz: Es gibt nur einen Gott, und Mohammed ist sein Prophet.«

»Vergeßt euren falschen Propheten. Die Hölle der Abtrünnigen ist ihm gewiß«, rief einer der Malteser Mönche. »Christus, der Sohn Gottes, hat gesagt: Wer nicht an mich glaubt und an meinen himmlischen Vater, der wird der ewigen Verdammnis anheimfallen. Es gibt nur eine einzige unteilbare Wahrheit.«

»Gottessohn und Zimmermannssohn«, lachte der Schiefmäulige, »jungfräulich gezeugt und in einem Stall geboren. Oder war es umgekehrt: von einer Jungfrau geboren und in einem Stall gezeugt?«

»Wahrscheinlich war es ein Eselsstall«, lachte ein junger Maure. »Oder nein, jetzt weiß ich es. Es war ein Saustall.«

Moslems und Juden lachten. Ein paar Christen griffen zu den Waffen.

»In der Lombardei gibt es ein Sprichwort«, sagte der Kapitän: »Wenn dir dein Leben lieb ist, so streite dich nie auf einem Boot, auf einer Burg und auf einem Weib.« Und er fügte drohend hinzu: »Wer hier einen Streit anfängt, geht über Bord, so wahr mir Gott helfe, egal, welcher Gott!«

Der Schiffszimmermann, ein wettergegerbter Zwerg mit einem Holzbein, verschaffte sich Gehör, indem er einen Eimer Kienspäne in die Glut schüttete. Es regnete Funken wie bei einem Vulkanausbruch. Die dicht am Feuer saßen, verbrannten sich die Bärte. Es roch wie zu Martini, wenn die Gänse geflämmt werden. Als sich der Sturm der Entrüstung gelegt hatte, erhob sich der Zimmermann, um sein Seemannsgarn zu spinnen. Er erzählte von den milchhäutigen Mapaputos, den Seeweibern vor der Westküste Afrikas, die mit ihren Brüsten die Seeleute locken, Weiber so brünftig wie heiße Hirschkühe. Beim Mondlicht werden die Männer von so unbändigem Verlangen erfüllt, daß sie sich in die See stürzen wie Falter in die Flammen.

Später erzählt er von den Kraken im Chinesischen Meer. Sie haben acht Arme, jeder zwanzig Ellen lang und so dick wie der Oberschenkel einer fetten Negerin. Mit ihnen glitschen sie nachts durch die Schiffsluken. Wehe dem schlafenden Schiffer, den sie erreichen. Sie saugen ihm das Blut aus den Adern. Bleich wie Meerschaum findet man ihn morgens tot in seiner Hängematte.

»Was haftet Ihr von der neuen Waffe, von der Arcuballista?« fragte ein Ritter aus Burgund einen Franken.

»Ihr meint die Armbrust?«

»Ja, die Armbrust.«

»Ist es wahr, daß ihr Bogen so stark ist, daß keines Mannes Arm ihn zu spannen vermag?«

»Wozu soll ein Bogen gut sein, den keiner spannen kann?« fragte ein Jude.

»Er wird mit einem eisernen Schraubgestänge gespannt. Seine Bolzen sind nur eine Handspanne lang, aber sie durchschlagen noch auf eine Entfernung von einhundert Doppelschritten jede eiserne Rüstung.«

»Im Namen des barmherzigen und gütigen Gottes«, sagte der Jude, »das ist das Ende aller Kriege. Wer will gegen eine so schreckliche Waffe sein Leben wagen!«

»Der Papst hat auf der Lateransynode die neue Waffe mit dem Bann belegt«, sagte der Franke. »Sie gilt als ars mortifera diavoli (todbringendes Teufelswerk), als deo odibilis (von Gott gehaßt). Wer die Armbrust gegen einen Menschen richtet, begeht eine Todsünde. Die ewige Verdammnis ist ihm gewiß.«

»Das ist gut«, sagte der arabische Schriftgelehrte.

»Das ist nicht gut«, verbesserte ihn sein Famulus, »denn in der Sprache Roms heißt das: Sie darf nicht gegen Christen eingesetzt werden. Nur sie zählen zu den Menschen, weil nur sie eine unsterbliche Seele haben. Gegen Heiden, Ketzer und Ungetaufte darf die neue Waffe so bedenkenlos verwendet werden wie bei der Jagd auf wilde Tiere.«

»Stimmt es«, fragte ein Händler aus Rûm, »daß es für die Arcuballista besondere Jagd- und Kriegspfeile gibt?«

»Es gibt sie.«

»Und worin unterscheiden sie sich?«

»In ihren Eisenspitzen. Die Kriegsbolzen schlagen schlimmere Wunden. Ihre Verwendung bei der Jagd gilt als unwaidmännisch.«

Ein Maure meinte: »Ihr Christen seid Stümper in der Kunst des Lebens; aber in der Kunst des Tötens übertrefft ihr Himmel und Hölle.«

»Wichtiger als die Waffe ist der Mann, der sie führt«, sagte der alte Kab-al-Achbar. »Nichts ist so unbesiegbar wie ein Mann, der bereit ist, sein Leben zu opfern.«

»Müssen nicht alle Krieger im Kampf mit dem Tod rechnen?« fragte der Knappe eines Kreuzritters aus Tarragon.

»Gewiß«, sagte der arabische Gelehrte, »sie alle rechnen mit dem Tod. Sie berechnen ihre Chancen sehr genau und hoffen auf Gottes Beistand. Sie sind fest davon überzeugt, das Glück auf ihrer Seite zu haben, geschickter als alle anderen zu sein, so wie die Seiltänzer. Welcher Gaukler aber würde sich über den Abgrund wagen, wenn immer und unfehlbar feststünde, daß er sich dabei das Genick bräche? Keiner, so sollte man meinen. Und doch gibt es Fedawis, Opferbereite, die freiwillig in den Tod gehen, brennende Fackeln, die die Welt mit ihrem Licht zum Leuchten bringen, Opferkerzen auf dem Altar des rechten Glaubens, Märtyrer.

Hört mich an, Freunde.
Ich erzähle euch von einer Tat,
die seltenen, kostbaren Perlen gleicht...

Kennt ihr den Heldengesang der Assassinen? Ein persischer Dichter hat diese Verse geschrieben. Sie berichten von der Ermordung des Prinzen Quizil Arslan. Zwei Fedawis waren ausgesandt worden, den Unwürdigen zu erdolchen.«

Mit geschlossenen Augen begann der Alte zu singen. Es war kein wirklicher Gesang, keine Melodie oder ein Lied. Es klang wie ein priesterliches Rezitativ, feierlich und fremd:

»Hört mich an, Freunde.
Ich erzähle euch von einer Tat,
die seltenen, kostbaren Perlen gleicht.
Lob, Ruhm und tausendfachen Segen
verdienen die beiden Assassinen.
Hassan war der eine,
ein Mann bereit für den Opfertod.
Mansur war der andere,
ein Mann wie eine brennende Fackel.
Sie suchten und fanden ihr Opfer.
Der Dolch der Rache fuhr ihm in die Gurgel.
Die Lanze der Gerechtigkeit zerriß sein Herz.
Und die schmutzige Seele des Schurken
fuhr zur Hölle,
wie es Allahs Ratschluß war.
Mit ihm kosteten acht Knechte
den Kelch des Todes.
Ist der Himmel nicht größer
und schöner geworden
durch die Tat dieser zwei?
Ein einziger Unerschrockener
aus ihren Reihen
ist mächtiger als der mächtigste König.
Mag er auch über hundert Heere herrschen,
er wird fallen.
Alles beginnt und alles endet
zur rechten Zeit und am rechten Ort.
Allahu akbar!«

Kapitel 13

Gemini und Zacharias handelten nach dem Templergebot »Favete linguis! Facta loquuntur!« Hüte deine Zunge! Schweig und laß die Tatsachen sprechen! Nicht umsonst hat der Mensch zwei Ohren, aber nur eine Zunge. Wie von der Ordensregel gewöhnt, legten sich die beiden Templer früh am Abend zum Schlafen nieder. Dafür waren sie bereits einige Stunden vor Sonnenaufgang wach. Diese Stunden zwischen Mitternacht und Tagesanbruch gehörten ihnen allein. Nur der Steuermann, der Ausguck am Bug und die Ratten waren um diese Zeit wach. Gemini haßte die Ratten. Nacktschwänzig huschten sie durch die Dunkelheit. Die großen gelben Zähne stets zum Biß entblößt, was ihren widerwärtigen Schnauzen ein böses Grinsen verlieh. Nichts war vor ihnen sicher. Sie zernagten die Schuhe der Schlafenden, die Taue der Takelage samt Segeltuch und selbst die Hartholzplanken des Schiffes. Sie fraßen den stinkenden Tran der Lampen und verschmähten auch Fäkalien und Erbrochenes nicht. Am ekelhaftesten aber war, daß sie überall ihren Kot ablegten und auf alle Gegenstände urinierten, wohl um sie wie Hunde mit ihren Duftmarken zu belegen.

Obwohl alle Lebensmittel in verschlossenen Fässern und Kasten aufbewahrt wurden, waren die getrockneten Bohnen und Erbsen, die Rosinen und Datteln, aber vor allem das Korn so mit klebrigem Rattenkot besudelt, daß sich niemand mehr die Mühe machte, den Schmutz herauszuklauben. Schlug man nach der Höllenbrut, so stießen sie spitze, vogelartige Schreie aus. Die Juden übergossen sie mit kochendem Wasser. Die Kreuzfahrer machten sich einen Spaß daraus, sie mit ihren Speeren zu erlegen. Unter den Moslems kursierte das Gerücht, die Christen würden die Ratten kochen und verspeisen.

***

Wann immer Orlando allein war, versuchte er mit Adrian Verbindung aufzunehmen. Dann hockte er unbeweglich im Heck des Schiffes und horchte in sich hinein, bis er weit hinter seinem Herzen die Stimme des Zwillingsbruders vernahm. So wie andere Kinder Verstecken spielen, so hatte er mit Adrian Gedankenlesen gespielt, eine Kunst, die in ihrer Umgebung nur sie beide beherrschten. Wenn sie im Gras lagen und den vorüberfliegenden Wolken nachschauten, fragte der eine den anderen: Woran denke ich? Der Fragende stellte sich einen Gegenstand vor, und der andere mußte ihn erraten. Wenn sie sich morgens ihre Träume erzählten, zeigte sich oft, daß sie selbst in ihren Phantasien Gleiches erlebt hatten. In ihnen lebten die gleichen Gedanken und Empfindungen, die gleichen Bilder und Stimmen. Sie ähnelten einander wie Spiegelbilder. Aber so wie Spiegelbilder bei aller Ähnlichkeit nicht deckungsgleich, sondern seitenverkehrt sind, so hatten auch sie ihre besonderen Eigenarten, Abneigungen und Vorlieben, Stärken und Schwächen. Adrian war der beherztere. So lange Orlando zurückdenken konnte, hatte er den Älteren bewundert. Adrian war zwar nur um wenige Herzschläge älter, aber er war der Erstgeborene. Nie hatte Orlando diesen Vorsprung eingeholt, der sich für immer in ihren Taufnamen manifestierte: Adrian und Orlando, Alpha und Omega, Anfang und Ende.

Adrian war immer vorangegangen, und Orlando war ihm gefolgt. Es war Adrians Wunsch gewesen, ein Templer zu werden. Orlando erinnerte sich sehr genau. Es war am Walpurgistag, zu dem Alfons VIII. alljährlich ein großes Turnier veranstaltete. Über hundert Ritter waren mit ihren Knechten gekommen. Noch nie hatte Orlando so viel glänzende Wehr und Rüstung gesehen, so viele stolze Wappen und Fahnen. Auf den Emporen hatten die schönsten Frauen der mächtigsten Geschlechter gesessen.

Erst eine Woche zuvor waren Adrian und Orlando zu Rittern geschlagen worden. Es war das erste Turnier, an dem sie teilnehmen durften. Acht Lanzen hatten sie an ihren Gegnern zerbrochen, da geschah das Entsetzliche. Orlandos Gegner war Graf Ortega da Santander, mit ihnen am gleichen Tag zum Ritter geschlagen. Er wirkte jünger als alle anderen Edlen. Das schwarze Haar lag mädchenhaft weich auf seinen Schultern. Die Wangen glühten vor Ehrgeiz und Tatendurst. Als Helm trug er einen Schaller mit beweglichem Visier und Kinnschutz. Viel zu schnell rasten sie aufeinander los. Orlando spürte einen harten Schlag am rechten Oberarm, der ihn fast aus dem Sattel warf. Einen Herzschlag lang glaubte er, er sei getroffen. Dann sah er den anderen in hohem Bogen durch die Luft fliegen. Orlandos Lanze war ihm ins Visier gefahren und abgebrochen. Es bedurfte der ganzen Kraft eines Knechtes, sie herauszuziehen. Erst dann ließ sich der Helm herabnehmen. Der Anblick war höllisch.

Es war Orlandos erstes und letztes Turnier.

Am selben Abend hatte Adrian gesagt: »Wir haben alles gelernt, was ein Ritter können muß. Das ist viel für den Anfang, aber nicht genug, um damit alt zu werden. Ein Ritter ohne Land ist wie ein Bär ohne Wald. Er taugt nur für die Dressur auf dem Jahrmarkt. Ich habe keine Lust, mich irgendeinem Gaugrafen zu verdingen. Ich gehe zu den Templern. Gibt es einen freieren Menschen als einen Tempelherren?«

Als sie sich um die Aufnahme in den Orden bewarben, waren sie achtzehn Jahre alt. Ein Empfehlungsschreiben Alfons des Achten und die Kenntnis der arabischen Sprache hatten ihnen alle Türen geöffnet.

Üblicherweise wurde ein Templer im Kindesalter aufgenommen. Bei den Mönchsrittern und den Mönchshandwerkern wich der Orden schon mal von der Regel ab. Adrian entschied sich für die ersteren, Orlando für die letzteren. Abgesehen von den unterschiedlichen Aufgaben und der andersartigen Kleidung – Adrian trug den weißen Mantel mit rotem Tatzenkreuz über der linken Schulter, Orlando den blauen Rock – unterstanden sie der gleichen Ordensregel, die selbst scheinbar so belanglose Dinge wie die Unterwäsche vorschrieb. So durften sie nur ein wollenes Hemd auf der Haut tragen, ein Gebot, das Adrian besonders schwerfiel. Verwöhnt von den arabischen Stoffen Andalusiens verabscheuten sie beide die kratzige Wolle der bretonischen Schafe.

Adrian hatte seine ganze Überredungskunst aufgebracht, um den Bruder davon abzuhalten, ein Blaurock zu werden. Orlando hatte mit einem Satz des Ovid geantwortet: »Militem auf monachum facit desperatio. Soldat oder Mönch wird man aus Verzweiflung. Wenn ich schon das eine werde, so möchte ich nicht beides sein.«

»Aber zu den Schmieden! Warum in drei Teufels Namen zu den Schmieden?« beschwor ihn Adrian. »Du kannst lesen und schreiben, sprichst drei Sprachen. Warum gehst du nicht zur geistigen Elite, wo du hingehörst?«

Details

Seiten
Erscheinungsform
Neuausgabe
Jahr
2015
ISBN (eBook)
9783958243927
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2015 (Dezember)
Schlagworte
Historischer Roman 13. Jahrhundert Mittelalter Persien Islam Roman Assassinen Bernard Cornwell Wolf Serno eBook Neuerscheinung
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Titel: Das Halsband der Taube
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