Lade Inhalt...

Enwor - Band 8: Der flüsternde Turm

Die Bestseller-Serie

©2015 315 Seiten

Zusammenfassung

Nur dem Kampf verpflichtet: „ENWOR – Band 8: Der flüsternde Turm“ von Wolfgang Hohlbein jetzt als eBook bei dotbooks.

ENWOR: Kriegsgeboren und vom Feuer getauft – eine postapokalyptische Welt voller Gefahren.
Was einst blühende Landschaft war, ist zur öden Steppe zerschlagen worden: Das herrliche Elay, die uralte Heimat der Magierinnen von Enwor, ist zerstört. Der Tod lauert in den Ruinen, doch der Krieger Skar sucht hier unbeirrt nach Verbündeten. Aber er muss sich beeilen: Denn wenn es ihm nicht gelingt, eine Streitmacht aufzustellen, droht eine noch größere Gefahr, die ihnen allen den Tod bringen wird …

Jetzt als eBook kaufen und genießen: „ENWOR – Band 8: Der flüsternde Turm“ von Wolfgang Hohlbein. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

JETZT BILLIGER KAUFEN – überall, wo es gute eBooks gibt!

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Über dieses Buch:

ENWOR: Kriegsgeboren und vom Feuer getauft – eine postapokalyptische Welt voller Gefahren.
Was einst blühende Landschaft war, ist zur öden Steppe zerschlagen worden: Das herrliche Elay, die uralte Heimat der Magierinnen von Enwor, ist zerstört. Der Tod lauert in den Ruinen, doch der Krieger Skar sucht hier unbeirrt nach Verbündeten. Aber er muss sich beeilen: Denn wenn es ihm nicht gelingt eine Streitmacht aufzustellen, droht eine noch größere Gefahr, die ihnen allen den Tod bringen wird …

Über den Autor:

Wolfgang Hohlbein, 1953 in Weimar geboren, ist Deutschlands erfolgreichster Fantasy-Autor. Der Durchbruch gelang ihm 1983 mit dem preisgekrönten Jugendbuch MÄRCHENMOND. Inzwischen hat er 150 Bestseller mit einer Gesamtauflage von über 44 Millionen Büchern verfasst. 2012 erhielt er den internationalen Literaturpreis NUX.

Der Autor im Internet: www.hohlbein.de

Bei dotbooks veröffentlichte Wolfgang Hohlbein die Romane FLUCH – SCHIFF DES GRAUENS, DAS NETZ und IM NETZ DER SPINNEN, die ELEMENTIS-Trilogie mit den Einzelbänden FLUT, FEUER UND STURM und die große ENWOR-Saga; eine chronologische Übersicht der einzelnen Romane finden Sie am Ende dieses eBooks.

Wie wird es mit den Kriegern Skar und Del weitergehen? Finden Sie es heraus im nächsten Roman der ENWOR-Saga: ENWOR – Band 9: Das vergessene Heer. Eine Leseprobe finden Sie am Ende dieses eBooks.

***

Neuausgabe Dezember 2015

Copyright © 1988 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Copyright © der Neuausgabe 2015 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Tanja Winkler, Weichs

E-Book-Herstellung: Open Publishing GmbH

ISBN 978-3-95824-459-7

***

Wenn Ihnen dieses Buch gefallen hat, empfehlen wir Ihnen gerne weiteren Lesestoff aus unserem Programm. Schicken Sie einfach eine eMail mit dem Stichwort ENWOR 8 an: lesetipp@dotbooks.de

Gerne informieren wir Sie über unsere aktuellen Neuerscheinungen und attraktive Preisaktionen – melden Sie sich einfach für unseren Newsletter an: http://www.dotbooks.de/newsletter.html

Besuchen Sie uns im Internet:

www.dotbooks.de

www.facebook.com/dotbooks

www.twitter.com/dotbooks_verlag

http://instagram.com/dotbooks

http://blog.dotbooks.de/

Wolfgang Hohlbein

ENWOR

Band 8: Der flüsternde Turm

Roman

dotbooks.

1. Kapitel

Elay lag in Trümmern. Aus der stolzen Wächterin des Drachenlandes war eine Ruine geworden, äußerlich fast unversehrt, und trotzdem nur mehr ein Schatten ihrer selbst. Es war lange her, daß Skar hiergewesen war, selbst nach seiner eigenen Zeitrechnung gemessen, die mit der der wirklichen Welt nicht immer übereinstimmte, und trotzdem fiel ihm der Unterschied sofort auf: Einst hatten Elays schwarze Mauern Macht und Weisheit ausgestrahlt, eine Trutzburg, riesig, finster, unbesiegbar und drohend, aber nur für den, der in feindlicher Absicht hierherkam. Jetzt war es, als umgebe der Hauch des Todes die Stadt wie ein unsichtbarer, dräuender Schatten.

Skar versuchte, den Gedanken dorthin zu verbannen, wo er hingehörte: in den Bereich seines Bewußtseins, der für Furcht und Unlogik zuständig war, aber es gelang ihm nicht; vielleicht, weil mehr Wahrheit an ihm war, als er zugeben wollte. Elay hatte sich verändert, auch äußerlich. Vorhin, als sie zwischen den Felsen hervorgetreten waren, hätte er für einen Moment geschworen, daß die Stadt kleiner geworden war, so wie ein Mensch im Alter kleiner und unansehnlicher wurde, auch ohne an zu messender Körpergröße zu verlieren. Die Stadt hatte … etwas verloren. Etwas, das unsichtbar und sehr präsent gewesen war, aber auf eine unaufdringliche, stumme Art, die dem Betrachter seine Existenz erst dann wirklich bewußt werden ließ, wenn es nicht mehr da war. Dazu kam der Regen, der in trägen Schleiern vom Himmel stürzte und alles grau und trist erscheinen ließ.

»Bei den schwarzen Göttern von Moron«, flüsterte Kiina neben ihm. »Was ist hier geschehen?«

Natürlich wußte Skar die Antwort nicht – wie um alles in der Welt sollte er sie wissen, wenn sie sie nicht wußte? –, aber er versuchte trotzdem für einen Moment, eine Erklärung zu finden; Worte, die dem Anblick der leeren, geschleiften Stadt etwas von ihrem entsetzlichen Schrecken nehmen würden.

Es gelang ihm nicht. Die Verheerung war total. Die zyklopische Mauer, in deren Schatten Kiina und er noch immer standen, war unversehrt geblieben, aber das, was sich vor ihnen erstreckte, war ein Schlachtfeld, die Reste einer Stadt, die ihren Bewohnern zum Grab geworden war. Die von Gewalten zermalmt worden war, die sich Skar weder vorstellen konnte noch wollte. Was von den Häusern und Palästen Elays noch stand, das waren ausgebrannte Ruinen, den geschwärzten Skeletten großer gepanzerter Tiere gleich, zwischen denen es hier und da noch immer brannte, unbeschadet des unablässig strömenden Regens. Die Straßen waren voller Schutt und verkohlter Trümmer, und über allem lag Staub, den der Regen zu einer schwarzen schmierigen Schicht gemacht hatte. Und überall lagen Tote – verkrümmte Gestalten in den schmucklosen grauen Mänteln der Errish, Dienstboten, Krieger, Männer, Frauen, Kinder … der Tod hatte keinen Unterschied gemacht, wo und bei wem er zuschlug.

»Der Wächter?« flüsterte Kiina.

Skars Antwort bestand abermals nur aus einem Achselzucken, obwohl er diesmal wußte, daß Kiina sich täuschte. Sie alle hatten die entsetzliche Verwüstung gesehen, die die Sternenkreatur hinterließ, aber was Elay zerstört hatte, war eine Gewalt gänzlich anderer Natur gewesen. Er hatte zwei der Leichname flüchtig untersucht, auf die sie gleich beim Betreten der Stadt gestoßen waren. Sie wiesen keine Verletzungen auf, aber der Tod hatte einen Ausdruck unermeßlicher Qual auf ihren Gesichtern hinterlassen. Sie hatten sich gefragt, wieso sie weder auf Errish noch auf Drachen gestoßen waren, auf dem Weg hierher. Jetzt wußten sie es.

»Wir sollten zurückgehen«, sagte Skar leise; fast im Flüsterton. Es war beinahe, als hätte er Angst, die Geister dieser Stadt zu wecken, wenn er zu laut sprach.

»Zurück?« Kiina schüttelte den Kopf, sah ihn aber nicht an. Ihr Blick irrte verzweifelt über das, was einmal ihre Heimat gewesen war, und Skar spürte überdeutlich, mit welchem fassungslosen Entsetzen sie der Anblick erfüllte. Trotzdem war es ihr unmöglich, sich von ihm loszureißen. »Nein. Ich … ich muß wissen, was hier passiert ist.«

Skar widersprach nicht. Natürlich waren Kiinas Worte unsinnig, und etwas sagte ihm darüber hinaus, daß es nicht gut war, tiefer in die zerstörte Stadt vorzudringen, als sie es bereits getan hatten. Obwohl sich nirgends zwischen den geschwärzten Ruinen auch nur eine Spur von Leben regte, spürte er die Gefahr, die noch immer hier lauerte. Was immer Elay vernichtet hatte, war noch da. Aber er verstand Kiina. Diese Stadt war einmal ihre Heimat gewesen. Jeder, den sie gekannt und geliebt hatte, hatte hier gelebt.

Trotzdem zögerte er, als Kiina einen Schritt machte und ihn auffordernd ansah. Das Empfinden von Gefahr war übermächtig, und da war zu viel, was er nicht verstand, aber ganz instinktiv als gefährlich einstufte. Der Krieger in ihm, der zu überleben gelernt hatte, indem er das Unbekannte mied oder zumindest erst einmal als gefährlich einstufte, um sich dann – vielleicht – eines Besseren belehren zu lassen, schrie ihm zu, auf der Stelle umzudrehen und die Stadt zu verlassen. Aber da war noch eine andere Stimme; eine, die ihm zuflüsterte, daß es wichtig war, herauszufinden, was Elay und seinen Bewohnern widerfahren war. Vielleicht lebenswichtig.

»Warte einen Moment«, sagte er. Ohne Kiinas Antwort abzuwarten, wandte er sich um und ging zum Tor zurück, wobei er einen übertrieben großen Bogen um die beiden toten Errish schlug, die davor lagen. Gebückt trat er durch das schmale Schlupftor, durch das sie Elay betreten hatten. Die beiden Pferde, die sie an einem eisernen Ring neben dem Tor angebunden hatten, begannen unruhig zu wiehern und mit den Hufen zu scharren. Die Tiere litten unter dem Dauerregen so sehr wie ihre Herren, aber das war nicht der Grund für ihre Unruhe. Sie hatten Angst. Irgend etwas war hier, was sie nervös machte. Skar spürte es auch. Was immer Elay zerstört hatte, war noch da.

Er trat zu seinem Pferd, fuhr ihm mit der linken Hand beruhigend über die Nüstern und öffnete mit der anderen die Schnallen seiner Satteltasche. Er fühlte sich nicht wohl bei dem, was er tat. Er hatte die … Magie? Gut, er würde sie weiter so nennen, bis er eine passendere Erklärung dafür gefunden hatte – er hatte die Zauberkunst der Errish stets mit Mißtrauen betrachtet, denn sie vermochte Leben ebenso rasch zu zerstören, wie sie es rettete. Aber hinter ihm, auf der anderen Seite der zwanzig Fuß dicken Mauer, befand sich eine Stadt voller Toter, und wenn das, was diese Menschen umgebracht hatte, noch hier war, dann brauchte er vielleicht jedes bißchen Hilfe, das er bekommen konnte, Zauberei hin oder her.

Skar förderte ein kleines, in Tuch eingeschlagenes Päckchen zutage, wickelte es sorgfältig aus und betrachtete das silbern funkelnde Ding in seiner Hand mit einer Mischung aus Furcht und Abscheu. Der logische Teil seines Denkens sagte ihm, daß ihm auch Kiinas Scanner nicht sehr viel nutzen würde: es war eine Waffe der Errish, wie es sie in Elay wahrscheinlich zu Tausenden gab, und sie hatten nicht ein Leben retten können.

Trotzdem – wenn schon nicht ihn, dann würde der Anblick des Scanner vielleicht wenigstens Kiina beruhigen. Er hätte allein gehen sollen. Skar war sich darüber im klaren, daß es ein Fehler gewesen war, Kiina mit in die Stadt zu nehmen. Er hatte geahnt, was er finden würde.

Skar drehte das Gesicht aus dem Wind und hob die Hand über die Augen, um sie vor den nadelspitzen Regentropfen zu schützen, die der Wind vom Meer herantrug. Zwei Meilen entfernt, am Fuße des Felsabbruches, der die Steilküste an dieser Stelle unterbrach wie ein Axthieb, erkannte er eine schemenhafte Gestalt. Skar blieb stehen, hob die Arme über den Kopf und winkte; zweimal, dreimal, viermal, bis sich das goldene Funkeln am Fuße der Felstrümmer bewegte und er sicher war, daß Titch sein Winken bemerkt hatte und wußte, daß – wenigstens im Moment – alles in Ordnung war.

Alles in Ordnung … Skar wiederholte die Worte ein paarmal in Gedanken, ohne ihnen etwas von ihrem spöttischen Beiklang nehmen zu können. Nichts war in Ordnung; weder mit ihm oder Kiina oder Elay oder ganz Enwor. Er dachte an sein letztes Gespräch mit Del zurück. Alles zerbricht, hatte Del gesagt, in einem anderen Zusammenhang und ohne zu ahnen, worauf sie auf ihrem Weg zurück in den Norden stoßen würden. Er hatte nur zu recht gehabt.

Widerstrebend wandte Skar sich um, ging zum Tor zurück und blieb dann noch einmal stehen, um sich herumzudrehen. Er fürchtete sich fast davor, Titch nicht mehr zu sehen. Während der letzten beiden Monate hatte er sich so sehr an die Gegenwart des Quorrl gewöhnt, daß er ihm fast zum Freund geworden war, und jetzt, als sie sich getrennt hatten, spürte Skar plötzlich, wieviel Schutz und Sicherheit die Nähe dieses schweigsamen Giganten ausstrahlte.

Er verscheuchte den Gedanken und versuchte noch einmal, die grauen Schleier mit Blicken zu durchdringen. Der Regen machte es schwer, Einzelheiten zu erkennen, aber das Blitzen von Titchs Rüstung war nicht mehr zu erkennen; wie sie es vereinbart hatten, war er zu seinen Leuten zurückgegangen, die im Schutze der Felsen lagerten, eine Meile südlich von Elay und weit genug vom Bannkreis der Stadt entfernt, niemanden zu einer Unbesonnenheit zu verleiten – wenn auch für die Quorrl sicherlich noch immer viel zu nahe. Die Quorrl fürchteten die Errish fast ebensosehr, wie diese die Quorrl haßten. Kein Quorrl hatte jemals Elay betreten, und kein Quorrl würde je –

Skar dachte den Gedanken nicht zu Ende, als er begriff, wie lächerlich er war. Es gab in den Mauern dieser Stadt nichts mehr, was die Quorrl fürchten mußten. Er dachte immer noch in Begriffen einer Welt, die vor einem Menschenalter untergegangen war.

Schneller als nötig trat er abermals durch das kleine Tor und ging wieder zu Kiina. Er fand sie an der gleichen Stelle, an der er sie zurückgelassen hatte, in der gleichen Haltung, wie eine Puppe, in einem Augenblick grenzenlosen Entsetzens erstarrt. Der Regen peitschte ihr Gesicht und ihr Haar, aber sie schien es nicht einmal zu spüren. Skar war nicht sicher, ob er wirklich nachempfinden konnte, was sie fühlte.

»Bist du sicher, daß du es wirklich willst?« fragte er.

Im ersten Moment reagierte sie nicht, und Skar glaubte schon, daß sie seine Worte gar nicht gehört hatte. Aber dann wandte sie mit einem Ruck den Kopf, starrte ihn eine Sekunde lang aus großen, vor Schmerz verdunkelten Augen an und nickte.

»Dann komm«, sagte Skar. »Ich möchte nicht länger hierbleiben als unbedingt nötig.« Er machte eine auffordernde Handbewegung, aber Kiina rührte sich nicht.

»Sie sind alle tot, Skar«, flüsterte sie. »Sie … sie haben sie alle umgebracht.«

»Das werden wir herausfinden«, antwortete Skar. Er legte den Kopf in den Nacken und blinzelte zur Mauerkrone hinauf. »Es sieht nicht so aus, als wäre die Stadt angegriffen worden.«

»Aber jemand hat sie alle getötet!« protestierte Kiina, mit einer Stimme, deren Klang Skar warnte: das Mädchen stand kurz davor, hysterisch zu werden. Aber wenn er ganz ehrlich war, dann ging es auch ihm nicht sehr viel anders.

Kiinas Augen wurden groß, als sie den Scanner in Skars Hand sah. »Du … du glaubst, sie sind noch hier?«

Seltsam – es war ihm fast peinlich, daß Kiina ihn auf die Waffe ansprach. »Nein«, antwortete er grob. »Aber irgend etwas ist hier geschehen, und –« Er sprach nicht weiter, sondern sah sich einen Moment lang schweigend um, zuckte dann mit den Schultern und hielt Kiina den Scanner hin. »Nimm du ihn. Du kannst sowieso besser damit umgehen«, fügte er hinzu, als Kiina zögerte, nach der Waffe zu greifen. Anstelle des Scanners zog er das Schwert aus dem Gürtel, als sie weitergingen.

Erneut fiel Skar der Staub auf, der wie ein graues Leichentuch über der Stadt lag. Wo er vom Regen getroffen worden war, war er zu einer schwarzen, schmierigen Masse geworden, aber hier und da entdeckte er kleine, trocken gebliebene Reste in toten Winkeln, unter Fenstern und Türen oder im Windschatten der Toten. Nachdenklich blieb er stehen, ließ sich in die Hocke sinken und berührte eines der kleinen Staubhäufchen mit der Schwertspitze. Es fiel auseinander und wurde zu schwarzem Morast, als es die Feuchtigkeit aufsaugte, die sich auf der Klinge gesammelt hatte.

»Was hast du?« fragte Kiina, die ebenfalls stehengeblieben war. »Glaubst du, daß dieser Staub irgend etwas damit zu tun hat?« Sie ließ sich neben ihm in die Knie sinken und wollte die Hand ausstrecken, aber Skar fiel ihr mit einer raschen Bewegung in den Arm.

»Nicht«, sagte er. »Faß es nicht an. Rühr überhaupt nichts an, bevor wir nicht genau wissen, was hier geschehen ist.«

Kiina blickte ihn fragend an, schwieg aber. Skar richtete sich wieder auf, wischte die Klinge seines Tschekal sorgsam an der Kleidung eines Toten ab und schob die Waffe wieder in den Gürtel zurück. Aufmerksam sah er sich um. Jetzt, als er einmal darauf aufmerksam geworden war, fiel ihm auf, wie viel dieses grauen Staubes es in der Stadt gab. Zusammengebacken zu schwarzem Morast bedeckte er buchstäblich jeden Quadratfuß des Bodens, besudelte die Wände, tropfte mit dem Regen vermischt wie schwarzes Blut von den Dächern und bedeckte selbst die Trümmerhaufen, die die Straßen blockierten. Bevor es zu regnen begonnen hatte, überlegte Skar, mußte er die gesamte Stadt bedeckt haben.

»Ob er … giftig ist?« Kiina schien seine Gedanken gelesen zu haben.

Skar überlegte einen Moment, dann schüttelte er den Kopf. »Kaum«, sagte er. »Dann wären wir schon tot.« Er deutete auf seine Stiefel, die bis zu den Knöcheln hinauf mit schwarzen Spritzern übersät waren.

»Vielleicht wirkt er nicht sofort tödlich.«

Skar zuckte abermals mit den Schultern und ging weiter. Vielleicht hatte Kiina recht, vielleicht auch nicht – sie würden es früh genug am eigenen Leibe spüren. Aber Skar glaubte nicht, daß die Erklärung so einfach war. Was immer die Bewohner Elays umgebracht hatte, hatte in Sekundenschnelle zugeschlagen. Die Stellung der Toten auf dem großen Platz war die von Menschen, die verzweifelt versucht hatten, die Stadt zu verlassen. Nicht einem von ihnen war es gelungen.

»Wohin?« fragte Kiina.

Skar deutete nach Osten, zur Stadtmitte hin. »Zum Palast deiner … der Margoi«, verbesserte er sich hastig. »Wenn es Überlebende gibt, dann dort.«

Die Spuren der Kämpfe wurden deutlicher, je tiefer sie in die Stadt eindrangen. Viele Häuser waren ausgebrannt und zum Teil zusammengebrochen, und manche Straßen waren so mit Schutt und Trümmern übersät, daß sie große Umwege in Kauf nehmen mußten, denn die Trümmerberge zu überklettern, wagte Skar nicht. Ein rostiger Nagel, den sie sich eintraten oder ein verzerrter Fuß konnten das Todesurteil bedeuten, falls sie gezwungen waren, schnell zu flüchten.

Aber seine Befürchtungen erwiesen sich als grundlos. Es war so, wie er im allerersten Moment geglaubt hatte. Elay war eine Stadt der Toten. Zwischen den schlammbedeckten Trümmern lebte nichts mehr. Und gerade das war es, was Skar mehr als alles andere beunruhigte. Er hatte das Leben eines Kriegers geführt und mehr als eine geschleifte Stadt gesehen – aber er war niemals an einem Ort gewesen, der so völlig ohne Leben gewesen wäre wie Elay. Sie fanden sehr viel weniger Tote, als er beim Anblick des mit reglosen Körpern übersäten Torplatzes befürchtet hatte, aber das hieß nicht, daß es keine Leichen gegeben hätte.

Nach einer Weile blieb er wieder stehen und winkte Kiina, zu ihm zurückzukommen.

»Was hast du?«

Skar deutete auf den reglosen Körper einer Errish, der halb unter dem Kadaver eines Pferdes eingeklemmt war. Tier und Reiter waren im gleichen Augenblick gestorben, wie ihre Stellung verriet. »Schau sie dir an«, verlangte er.

Kiina gehorchte. Skar beobachtete sie genau, während sie die Tote betrachtete. Ihr Gesicht verriet leise Spuren von Ekel, und ihre Hände zitterten noch immer ein wenig. Aber er sah keine Spuren von Panik. Kiina hatte den Schock schneller überwunden, als er gehofft hatte.

»Fällt dir nichts auf?« fragte er.

Das Mädchen schüttelte den Kopf.

»Sie ist unversehrt«, fuhr Skar fort.

»Unversehrt?« Kiina ächzte. »Sie ist –«

»Sie liegt seit mindestens zehn Tagen hier und beginnt zu verwesen«, unterbrach sie Skar, »aber das meine ich nicht. Sie sind alle unversehrt, Kiina.« Er machte eine weit ausholende Geste. »Ich war schon in Städten, deren Bewohner bis auf den letzten Mann niedergemacht wurden.«

»Und?« Kiina begriff immer noch nicht.

»Ein Festschmaus für die Ratten und Fliegen«, sagte Skar. »Siehst du welche?«

Kiina antwortete nicht, aber ihr Blick verriet Skar, daß sie endlich begriffen hatte. Nicht nur die menschlichen Bewohner Elays waren getötet worden. Etwas – jemand? – hatte jede Spur von Leben aus dieser Stadt getilgt, und mehr noch: Ein Tisch, der so reichlich gedeckt war wie dieser, hätte jeden Aasfresser im Umkreis von hundert Meilen anziehen müssen. Daß er es nicht getan hat, dafür gab es eigentlich nur zwei Erklärungen: irgend etwas hielt alles Leben von Elay fern, das nicht auf zwei Beinen ging und dumm genug war, die Warnungen seines Gefühles zu mißachten – oder die unsichtbare tötende Macht, die Elay ausgelöscht hatte, war noch da.

Keine dieser beiden Erklärungen gefiel Skar besonders.

Er machte eine abgehackte Handbewegung. »Komm weiter. Je eher wir hier wieder heraus sind, desto besser.«

Je weiter sie sich dem Palast näherten, desto unübersehbarer wurden die Spuren schwerer Kämpfe, die in Elay getobt haben mußten, ehe der Tod zu seinem letzten Schlag ausholte. Manche Gebäude waren nur noch Trümmerhaufen, bis auf die Grundmauern niedergebrannt, andere wie von gewaltigen Axthieben halbiert, ihrer Fassaden beraubt oder zur Hälfte pulverisiert, während die andere absurd unversehrt stehengeblieben war, und einmal wurde ihr Weg zu einer lebensgefährlichen Rutschpartie, als der Straßenbelag unter ihren Füßen sich jäh in schwarze, zu Glas zusammengeschmolzene Schlacke verwandelte.

Kiina sagte kein Wort, obwohl sie zehnmal besser als Skar wissen mußte, was hier geschehen war. Es gab auf ganz Enwor nur eine einzige Waffe, die imstande war, solche Verheerungen anzurichten. Die Scanner der Ehrwürdigen Frauen.

Was war hier geschehen?

Schließlich fanden sie auch Menschen, die eindeutig eines gewaltsamen Todes gestorben waren. Skar ersparte sich die grausige Aufgabe, die Leichname genauer zu untersuchen, aber ein flüchtiger Blick reichte bereits. Seltsam – er hätte nie geglaubt, daß er eines Tages froh sein könnte, die entsetzlichen Spuren zu sehen, die Schwerter und Messer hinterlassen konnten, aber er war es. Selbst die furchtbarsten Wunden wirkten nicht so erschreckend wie der Anblick eines Todes, der völlig spurlos zuschlug, und im Bruchteil einer Sekunde.

Als sie sich dem Palast der Margoi bis auf hundert Schritte genähert hatten, fanden sie einen toten Drachen.

Es war kein sehr großes Tier; nicht sehr viel größer als eines der Schlachtpferde, auf denen Titch und seine Quorrl ritten, wenn auch ungefähr fünfmal so massig, aber sein Anblick überraschte Skar trotzdem. Soviel er wußte, nahmen die Errish ihre Tiere niemals mit in die Stadt. Sie beherrschten die Drachen wie kein anderer auf Enwor, aber es blieben trotzdem Tiere, gigantische, letztendlich immer noch unberechenbare Bestien, die die weiten Steppen Enwors gewohnt waren. In der Enge einer Stadt – selbst einer so großen Stadt wie Elay – wurden sie rasend.

Auch dieses Tier war keinen friedlichen Tod gestorben: sein massiver Kadaver lag halb unter den Trümmern eines Hauses begraben, dessen Fassade es im Todeskampf niedergerissen hatte. Ein halbes Dutzend abgebrochener Pfeile ragte aus seinem Hals, und darunter zeigten die handtellergroßen Panzerplatten Spuren von Scannern: das Horn war geborsten, und das empfindliche Fleisch darunter verbrannt.

Skar sah sich aufmerksamer um. Auch hier regte sich kein Leben, und der seit zwei Tagen unablässig fallende Regen hatte alle Spuren verwischt, falls es überhaupt welche gegeben hatte. Aber dem Auge eines Kriegers erzählten auch die Toten manchmal noch eine Geschichte, und diese hier taten es. Aber er behielt seine Vermutung vorläufig noch für sich, obgleich er zumindest ahnte, daß auch Kiina begriffen hatte, was hier wirklich geschehen war.

Vorsichtig näherten sie sich dem Palast. Auch an der riesigen Nadel aus schwarzer Lava waren die Kämpfe nicht spurlos vorübergegangen: auf den Stufen lagen die verkrümmten Gestalten von sieben oder acht Errish, und als sie näher kamen, sah Skar, daß das Tor gewaltsam aufgesprengt worden war. In die glänzenden Flanken des Turmes waren gezackte schwarze Blitze eingebrannt.

Sie blieben stehen, als sie die oberste Stufe erreicht hatten. Skar gab Kiina mit Handzeichen zu verstehen, ein paar Schritte zurückzubleiben – was sie natürlich nicht tat –, zog abermals sein Schwert und sog prüfend die Luft ein. Süßlicher, Übelkeit erregender Leichengeruch schlug ihm entgegen. Der Regen, der wenigstens die Luft draußen über der Stadt saubergewaschen hatte, hatte den Palast nicht erreicht.

»Bist du sicher, daß du dort hineingehen willst?« fragte Kiina.

Skar sah sie durchdringend an. »Du wolltest doch wissen, was hier passiert ist, oder?« Sein grober Ton tat ihm sofort wieder leid. »Entschuldige. Du kannst hierbleiben, wenn du willst. Ich brauche jemanden, der mir den Rücken deckt.«

Selbst Kiina begriff, daß zumindest der letzte Satz einzig dem Zweck diente, ihr einen Vorwand zu liefern, um zurückzubleiben. Sie schürzte trotzig die Lippen, trat mit einem entschlossenen Schritt neben ihn und ging so schnell los, daß Skar fast Mühe hatte, mit ihr mitzuhalten.

2. Kapitel

Sie fanden auch im Palast Tote, allerdings nicht halb so viele, wie Skar erwartet hatte. Die große, ehemals prunkvolle Eingangshalle des Palastes war ausgebrannt, und auch einige der dahinterliegenden Räume zeigten die Spuren schwerer Kämpfe: Stein, der zerschmolzen und zu bizarren blasigen Formen wiedererstarrt war, ausgebrannte Räume, zerborstene Türen. Aber der allergrößte Teil des Palastes war unversehrt.

Und leer.

Fast eine Stunde lang durchsuchten sie das gewaltige Bauwerk, wobei Skar Kiina wortlos die Führung überließ. Er gehörte zwar zu den wenigen Menschen, die diesen Palast schon zweimal betreten hatten, aber das war Jahre her, während Kiina hier aufgewachsen war, noch dazu als Tochter der Ehrwürdigen Mutter, für die es keine verschlossenen Türen und keine Geheimnisse gab. Und sie kannte sich wirklich gut aus: ohne ihre Hilfe hätte Skar sich wahrscheinlich hoffnungslos in dem Labyrinth aus Gängen und Hallen und ineinandergeschachtelten Ebenen verirrt, durch das Kiina ihn leitete; ganz davon abgesehen, daß er die meisten Räume nicht einmal gefunden hätte. Was sie nicht fanden, das waren Errish. Weder lebende noch tote. Der Palast war leer. Der Leichengestank, der sie empfangen hatte, stammte von Toten unten in der Halle. Aber überall lag Staub; der gleiche, pulverige graue Staub, der die Stadt bedeckte und durch Fenster und Balkon und jede noch so winzige Ritze hereingeweht worden war.

Schließlich hatten sie den gesamten Palast durchsucht, und es blieb nur noch der Thronsaal selbst, eine gewaltige, halbrunde Halle unmittelbar unter der Spitze des Turmes. Skars Herz begann ein wenig schneller zu schlagen, als er die zweiflügelige Tür aufstieß und vor Kiina in den Saal trat. Ganz instinktiv legte er die Hand auf das Schwert in seinem Gürtel.

Seine Vorsicht war auch diesmal überflüssig. Der Thronsaal der Margoi war so leer und tot wie die gesamte Festung; wie die gesamte Stadt. Skar hob die Hand vor die Augen und blinzelte in das grelle Licht, das durch die großen gebogenen Fenster hereinfiel, und der plötzliche Luftsog ließ graue Staubwolken aufwirbeln. Er hustete, wich unwillkürlich einen Schritt zurück und wartete, bis sich die grauen Schwaden wenigstens einigermaßen gelegt hatten. Dann betrat er zum zweiten Mal den Thronsaal, mit vorsichtigen, sehr langsamen Schritten, um den Staub nicht ein zweites Mal aufzuwirbeln. Sein Blick glitt rasch und mißtrauisch durch die gewaltige Halle, und abermals kam ihm zu Bewußtsein, wie bedrückend und unheimlich dieses riesige, leere Gebäude war. Es gab auch hier oben kein Leben; nicht einmal mehr die Spuren davon. Grauer Staub lag in einer fast knöcheltiefen Schicht auf dem Boden, aber sie war unversehrt und vom Wind zu einem regelmäßigen Wellenmuster geformt worden, wie eine winzige Wüste, zweihundert Manneslängen über der Stadt.

»Nichts?«

Kiina wartete sein Kopfschütteln ab, ehe sie hinter ihm in die Thronhalle trat. Auch sie bewegte sich sehr langsam, aber Skar war sicher, daß sie es nicht tat, nur um den Staub nicht aufzuwirbeln. Ihr Gesicht war bleich und die Lippen eng zusammengepreßt und fast blutleer. Draußen, in der Dämmerung der Korridore und Treppen, war ihm das nicht aufgefallen, aber er sah jetzt, daß die Ruhe ihrer Bewegungen von der Art eines Menschen war, der sich mit aller Macht zusammenriß, um nicht schlichtweg die Beherrschung zu verlieren. Ihre Augen waren fast schwarz vor Entsetzen, und Skar gestand sich ein, daß er Kiina überschätzt hatte. Er machte sich schwere Vorwürfe deswegen. Sie war noch ein halbes Kind – er hätte wissen müssen, wie der Anblick der zerstörten Stadt und ihrer toten Brüder und Schwestern auf sie wirken mußte.

»Wo sind sie alle hin?« flüsterte Kiina. Auch ihr Blick irrte durch den Raum, aber anders als der von Skar tat er es unstet und immer schneller, als suche sie verzweifelt nach irgendeinem Halt, an dem sie sich festklammern konnte, um nicht den Boden unter den Füßen zu verlieren. »Aber sie … sie müssen doch irgendwo sein!«

Skar antwortete auch darauf nicht. Was hatte sie erwartet? Die Margoi und sämtliche überlebenden Bewohner Elays zusammengepfercht hier im Thronsaal zu finden, in dem sie sich vor einem nicht existierenden Gegner verbarrikadiert hatten? Aber er konnte schwerlich Logik von Kiina erwarten. Nicht in diesem Augenblick.

»Vielleicht … vielleicht konnten sie fliehen«, stammelte Kiina. Skar wich ihrem Blick aus, aber sie fuhr, jetzt lauter und fast hysterisch fort: »Sie müssen geflohen sein, Skar. Das … das ist die einzige Erklärung.«

Skar schüttelte den Kopf. Er streckte die Hand aus, aber Kiina wich vor ihm zurück. »Sie sind tot, Kind«, sagte er. »Wie alle anderen.«

»Das ist nicht wahr!« schrie Kiina. »Dann hätten wir ihre Leichen gefunden! Sie sind geflohen.«

»Und die Wachen, unten in der Halle?« widersprach Skar.

Kiina verstand nicht. »Sie sind gefallen, als sie den Palast verteidigten«, sagte sie. »Und?«

»Und welchen Sinn sollte es haben, einen leeren Palast zu verteidigen?«

Kiinas Lippen begannen zu zittern. Sie machte einen Schritt an ihm vorbei, blieb wieder stehen und hob hilflos die Arme. Skar sah, daß sie noch immer den Scanner in der rechten Hand trug. Im Griff des bizarren kleinen Instruments blinkte ein winziges grünes Licht. Die Waffe war schußbereit. Mit einem traurigen Lächeln trat Skar zu ihr, nahm ihr den Scanner aus der Hand und sah sie fragend an. Kiina berührte eine Taste auf der silbern schimmernden Oberfläche des Geräts, und das Licht erlosch. Skar schob den Scanner unter seinen Gürtel,

»Laß uns gehen«, sagte er.

Kiina reagierte nicht. Ihr Blick ging an Skar vorbei ins Leere, und erst jetzt, erst in diesem Moment, begriff er wirklich, was der Anblick der leeren Thronkammer für sie bedeuten mußte. Natürlich hatte auch Kiina gewußt, daß sie hier oben so wenig finden würden wie in irgendeinem anderen Teil des Palastes, aber der Thronsaal war ihre letzte Hoffnung gewesen, die letzte, verzweifelte Lüge, die noch zwischen ihr und dem Moment stand, in dem sie sich eingestehen mußte, daß Elay vernichtet war. Und mit ihr die Errish. Kiina begann leise zu weinen und schmiegte sich an seine Brust, und während Skar einfach dastand und darauf wartete, daß der ärgste Schmerz vorüber war und sie sich wieder weit genug in der Gewalt hatte, um mit ihm diesen schrecklichen Ort zu verlassen, begriff er ganz allmählich, daß sie nicht nur eine zerstörte Stadt gefunden hatten. Diese Thronkammer war nicht irgendeine Thronkammer, so wenig wie dieser Palast irgendein Palast war oder Elay irgendeine Stadt. Es war das Herz der Errish, die Heimat der Ehrwürdigen Frauen, die unantastbar waren, seit Enwor bestand. Nicht einmal die Quorrl, die alles Menschliche haßten und Enwor und seine Bewohner mit zahllosen Kriegen überzogen hatten, hatten es jemals gewagt, die Hand gegen eine Errish zu erheben. Ihre Heimatstadt zu zerstören, bedeutete an den Grundfesten der Welt zu rütteln.

Aber waren sie nicht längst zerbrochen? flüsterte eine Stimme in seinen Gedanken. Die Geister, die Vela heraufbeschworen hatte, hatten doch längst angefangen, Enwor zu verändern, schleichend und fast unbemerkt von den meisten seiner Bewohner, aber auf eine Art, die nie wieder gutzumachen war. Selbst, wenn es ihnen gelang, Drasks Brüder und ihre Verbündeten (oder Herren?) zu besiegen – wovon Skar ganz und gar nicht überzeugt war –, würde Enwor nie wieder die Welt sein, als die er sie kannte. Sie war es jetzt schon nicht mehr.

»Gehen wir«, sagte er noch einmal. »Ich habe zu Titch gesagt, daß wir in einer Stunde zurück sind. Sie ist längst vorbei.«

Kiina löste sich aus seiner Umarmung und zog geräuschvoll die Nase hoch. Ihre Augen waren rot und das Gesicht verquollen. »Entschuldige«, murmelte sie. »Der … der Staub. Er brennt in den Augen.« Skar spürte, wie peinlich es ihr war, daß er sie wie ein Kind weinen sah. Dabei beneidete er sie fast darum, noch weinen zu können. Er schwieg.

»Du hast recht«, fuhr Kiina nach einer Sekunde fort. »Gehen wir. So schnell wie möglich. Ich –« Sie brach mitten im Wort ab und sog hörbar die Luft ein. Ihre Augen wurden groß.

»Was hast du?«

»Vielleicht … vielleicht gibt es doch noch ein paar Überlebende«, flüsterte Kiina. »Die Katakomben, Skar! Die Drachenhöhlen unter der Stadt! Sie halten jedem Angriff stand! Nicht einmal eine Armee von Errish könnte sie erobern!«

Skar starrte sie an. War er denn blind gewesen? Er kannte die Höhlen so gut wie Kiina. Was lag näher, als sich im Falle eines Angriffes an einen Ort zurückzuziehen, der erstens leicht zu verteidigen und dessen Existenz nur einigen wenigen Eingeweihten bekannt war? Er verstand nicht, warum er nicht von selbst auf diesen Gedanken gekommen war!

Kiina fuhr herum, aber Skar hielt sie am Arm zurück. »Wo willst du hin?«

»In die Höhlen!« antwortete Kiina. Sie versuchte sich loszureißen, aber Skar hielt sie fest. »Es gibt einen Eingang unten in den Kellern des Palastes! Ich zeige ihn dir!«

»Ich kenne einen kürzeren Weg«, antwortete Skar.

Kiina sah ihn verwirrt an. »Du –?«

Skar ließ ihre Hand los, wandte sich um und ging auf den Thronsessel der Margoi zu. Das wuchtige, aus einem einzigen übermannshohen Basaltblock herausgemeißelte Möbelstück mit den beiden drohend hochgereckten Drachenschädeln als Armlehne war mit einer grauen Staubschicht bedeckt, wie alles hier drinnen, aber Skar sah auch, daß sie nicht halb so dick war wie auf dem Boden. Und keineswegs unversehrt. Jemand hatte versucht, die Schleifspuren beiderseits des Thrones zu entfernen, sich aber dabei nicht besonders geschickt angestellt. Skar wunderte sich ein wenig, daß ihm das nicht sofort aufgefallen war. Offensichtlich hatte ihn der Marsch durch die tote Stadt doch nicht ganz so unberührt gelassen, wie er sich selbst eingeredet hatte.

Kiina beobachtete ihn mit wachsender Verblüffung, während er sich vor dem Thron auf die Knie sinken ließ und mit spitzen Fingern über den rechten der beiden Drachenköpfe tastete. Gowenna hatte ihm den verborgenen Mechanismus gezeigt, aber es war lange her, und es war fast im Spiel gewesen; er hatte nicht sehr gut aufgepaßt, denn sie wie er hatten gewußt, daß er nicht zurückkommen würde.

Aber woran sich seine Gedanken nicht mehr erinnerten, hatten seine Hände nicht vergessen. Seine Finger drückten auf einen der schwarzen Drachenzähne und fanden wie von selbst in den richtigen Rhythmus: Aus dem Inneren des Thrones erklang ein helles, aber durchdringendes Schnappen, und plötzlich bewegte sich der tonnenschwere Block um ein winziges Stück. Skar drückte mit der Schulter gegen den Sockel des Thrones, und er bewegte sich abermals; aber nicht sehr weit und nicht so leicht, wie er es sollte. Zwischen dem Fuß des Thronsessels und den steinernen Bodenfliesen entstand ein haarfeiner, dunkler Riß. Staub rieselte hindurch und verschwand lautlos in der Tiefe.

Kiina sog überrascht die Luft ein und wollte eine Frage stellen, aber Skar schnitt ihr mit einer Geste das Wort ab.

»Hilf mir«, sagte er. »Der Mechanismus scheint verklemmt zu sein.«

Kiina gehorchte. Selbst zu zweit überstieg es fast ihre Kräfte, den Riß im Boden so weit zu verbreitern, daß Skar hindurchsehen konnte. Im ersten Moment erkannte er nichts, aber nachdem sich seine Augen ein wenig an die Dunkelheit gewöhnt hatten, glaubte er einen schwachen, rötlichen Lichtschimmer weit unter sich auszumachen. Der Schein einer Fackel, gedämpft oder sehr weit entfernt.

»Was ist das?« fragte Kiina fassungslos.

Skar stemmte sich abermals gegen den Thron und schob mit aller Kraft. »Ein geheimer Gang, der direkt in die Katakomben führt«, erklärte er mit zusammengebissenen Zähnen. »Die Erbauer dieses Palastes waren offensichtlich nicht ganz so sehr von der Unantastbarkeit seiner Bewohner überzeugt wie sie selbst. Von hier aus führt eine Treppe direkt in die Drachenhöhlen.«

»Davon wußte nicht einmal ich«, sagte Kiina staunend.

»Deine Mutter hat sie mir gezeigt, als ich hier war.« Skar hörte für einen Moment auf zu schieben und zu drücken, atmete tief ein und warf sich dann noch einmal mit aller Kraft gegen den Thron. Ein helles, in Ohren und Zähnen schmerzendes Kreischen erklang – und plötzlich glitt der Thron so leicht und schnell nach hinten, daß Kiina Skar am Gürtel festhalten mußte, damit er nicht kopfüber in die Tiefe fiel.

Skar richtete sich ungeschickt auf, nickte Kiina dankbar zu und hustete. Ihre Bewegungen hatten den Staub wieder aufgewirbelt, und Skar registrierte beunruhigt, wie bitter und scharf er schmeckte; völlig anders als alles, das er je kennengelernt hatte. Er wedelte mit der Hand vor dem Gesicht in der Luft, um nicht mehr von dem Zeug einatmen zu müssen als unbedingt nötig und forderte Kiina mit Gesten auf, loszugehen. Sie zögerte nur einen kurzen Moment, dann setzte sie den Fuß auf die oberste Stufe und verschwand rasch in der Tiefe.

Skar fluchte lautlos in sich hinein, als er ihr folgte. Der zweite Fehler: er hatte vergessen, wie eng die gewendelte Treppe war. Die Stufen führten beinahe senkrecht in die Tiefe, und sie waren so schmal, daß Skar nicht einmal gerade gehen konnte und es ihm schlichtweg unmöglich war, sich an Kiina vorbeizudrängen. Der Gedanke, sie vorausgehen zu lassen, gefiel ihm nicht besonders. Er hatte keine Ahnung, welche Gefahren dort unten auf sie lauern mochten. Aber es war zu spät, den Fehler zu korrigieren.

Kiinas Schatten verschluckte den ohnehin schwachen Lichtschimmer unter ihnen, so daß Skar sich durch fast vollkommene Dunkelheit bewegte; was aber kein Problem war – der Treppenschacht war so schmal, daß er ohnehin mit beiden Schultern an der Wand entlangstreifte und kaum die Gefahr bestand, zu stolpern. Er versuchte die Stufen zu zählen, um nicht vollends die Orientierung zu verlieren, gab es aber bald wieder auf; zum einen geriet er unentwegt aus dem Takt, denn die Stufen waren unterschiedlich hoch und breit, so daß ein rhythmisches Gehen unmöglich wurde, und zum anderen kannte er diesen geheimen Fluchtweg sowieso und wußte, daß es keinerlei Abzweigungen oder Türen gab, bis hinab ins Kellergeschoß des Palastes, wo er in die Verliese mündete; und wahrscheinlich auch in den Gang, den ihm Kiina hatte zeigen wollen.

Der Weg schien endlos zu sein. Das Licht unter ihnen wurde nur ganz allmählich stärker, und während Kiinas Gestalt sich allmählich als schwarzer Umriß vor ihm aus rötlicher Glut herauszuschälen begann, begriff Skar, daß er sich getäuscht hatte: Es war nicht der Schein einer Fackel; dazu war das Licht zu gleichmäßig und zu düster, ein dunkles Rot wie von nur noch halb glühender Lava. Er erwog diesen Gedanken sekundenlang und verwarf ihn wieder. Die Luft, die ihnen aus der Tiefe entgegenströmte, war kalt.

Schließlich weitete sich der Treppenschacht zu einer halbrunden, gut fünfzig Fuß messenden Halle, die in eben jenem Rot glühte, das sie von oben gesehen hatten. Skar trat rasch an Kiina vorbei und atmete innerlich auf, froh, aus der erstickenden Enge des Treppenschachtes heraus zu sein. Kiina taumelte vor Erschöpfung, und auch Skars Knie zitterten spürbar. Das Gehen auf den ungleichmäßigen Stufen war sehr kräftezehrend gewesen.

»Was ist das hier?« fragte Kiina. Ihre Stimme war zu einem Flüstern herabgesunken.

Skar zuckte wortlos mit den Schultern. Ein einziges Mal war er hier gewesen, vor Jahren, aber damals hatte es dieses rote Glühen nicht gegeben. Gowenna und er hatten die Halle im Schein einer ganz normalen Fackel durchquert, und noch dazu sehr schnell, denn es gab hier nichts, was betrachtenswert gewesen wäre.

»Ich weiß es nicht«, antwortete er. »Dieses Licht …« Es war ein sonderbares Licht, ein düsterer roter Schein, der Assoziationen an Flammen und Hitze weckte, aber kalt war und ihn mit instinktivem Unbehagen erfüllte. Vielleicht, weil er seine Quelle nicht ausmachen konnte. Die Luft selbst schien in dieser roten Glut zu erstrahlen. Wenn man nur lange genug hinsah, dann glaubte man ein schwaches Pulsieren in der Helligkeit wahrzunehmen.

»Das meine ich nicht«, antwortete Kiina. »Das Licht ist normal. Ich meine den Raum.«

»Das nennst du normal?« ächzte Skar.

Kiina machte eine wegwerfende Handbewegung. »Wir benutzen es nie, aber du kannst jeden Raum im Palast auf diese Weise beleuchten«, sagte sie. »Und in fast jeder beliebigen Farbe. Ein Zauber der Alten.« Sie gab sich Mühe, ihre Stimme möglichst beiläufig klingen zu lassen, aber Skar spürte, mit welchem Stolz es sie erfüllte, ihm dieses Geheimnis zu verraten. Ihm selbst bereitete es eher Furcht.

»Ein Teil des Fluchtweges«, antwortete er. »Irgendwo hinter–« Er sah sich suchend um und deutete schließlich auf eine Stelle, die der Treppe genau gegenüberlag. »– dieser Wand liegen die alten Verliese. Von dort aus kennst du den Weg wahrscheinlich besser als ich.«

Kiina schwieg einen Moment. Ihr Blick wirkte irritiert. Sie verstand den groben Ton nicht, in dem Skar plötzlich sprach. Ohne ein weiteres Wort ging sie zu der Stelle, die Skar ihr gezeigt hatte, und drückte mit der Schulter dagegen. Nichts geschah. Kiina runzelte verärgert die Stirn, und Skar trat mit einem raschen Schritt neben sie und legte die gespreizten Finger auf den glattpolierten Fels. Ein helles Klicken erscholl, vergleichbar dem Geräusch, das oben aus dem Inneren des Thrones gekommen war, aber leiser, sauberer, und plötzlich spaltete sich die scheinbar massive Wand vor ihnen in zwei Hälften, zwischen denen sie zwar gebückt, aber doch bequem hindurchgehen konnten.

Kiina nickte anerkennend. »Du überraschst mich immer wieder, Skar«, sagte sie. »Du weißt Dinge, die nicht einmal mir bekannt waren.«

Skar verzichtete auf eine Antwort. Ungeduldig wartete er, bis Kiina ihm gefolgt war, dann schloß er die Tür wieder auf die Art, die Gowenna ihm gezeigt hatte, und sah sie auffordernd an. »Jetzt darfst du die Führung übernehmen.«

»Euer Vertrauen ehrt mich zutiefst«, antwortete Kiina spöttisch. Sie drehte_ sich herum, ging ein paar Schritte, blieb stehen, runzelte verwirrt die Stirn, machte einen Schritt in die entgegengesetzte Richtung und blieb wieder stehen.

»So furchtbar gerechtfertigt scheint es aber nicht gewesen zu sein«, sagte Skar.

Kiina warf ihm einen vernichtenden Blick zu und ging rasch weiter; ein wenig zu schnell, um Skar davon zu überzeugen, daß sie wirklich wußte, wohin sie ging. Aber er folgte ihr widerspruchslos.

Es war ein wahres Labyrinth, durch das sie sich bewegten. Die alten, seit einem Jahrtausend nicht mehr benutzten Verliese blieben hinter ihnen zurück, sie durchquerten Gänge und Hallen voller aufgestapelter Kisten und Fässer und abgedeckter Ballen, dann wieder leere, unermeßlich große Hallen, in denen der Staub von Jahrhunderten zu einer steinharten Schicht auf dem Boden zusammengebacken war. Skar war in dieser Zeit mehr als einmal sicher; daß Kiina längst die Orientierung verloren hatte und den Weg nur noch erriet. Obwohl er schon einmal hiergewesen war, konnte er sich nicht mehr genau an den Weg zu den Drachenhöhlen erinnern, aber was er wußte war, daß er kürzer gewesen war. Wesentlich kürzer. Ein schneller Fluchtweg machte sehr wenig Sinn, wenn man sich die Füße wundlief, um ihn zu bewältigen.

Aber schließlich führte Kiina ihn wieder durch einen Gang, den er kannte, obgleich das rote Licht alles fremd und kleiner und gedrungener erscheinen ließ, als er es in Erinnerung hatte. Wortlos trat er an Kiina vorbei und bedeutete ihr mit Gesten, daß er von nun an wieder die Führung übernahm. Sie widersprach nicht, sondern wirkte ganz im Gegenteil erleichtert.

Sie traten durch eine weitere, getarnte Tür und fanden sich unvermittelt im Dunkeln wieder. Kiina hielt ihn am Arm zurück und machte einen halben Schritt in die Schwärze hinein. Skar hörte sie vor sich hinhantieren, dann glomm ein winziger Funke auf und wurde in Sekundenschnelle zum prasselnden Feuer einer ganz normalen Fackel. In dem flackernden Licht sah Skar, daß eine ganze Reihe davon in eisernen Haltern neben der Wand warteten.

Er ersparte sich die Frage, wie Kiina die Fackel so schnell entzündet hatte – schon um nicht einen weiteren Vortrag über die geheimen Künste der Errish hören zu müssen –, und streckte fordernd die Hand aus. Kiina reichte ihm die Fackel, entzündete eine zweite für sich selbst und schob sich zwei weitere Reservefackeln unter den Gürtel. Skar runzelte mißbilligend die Stirn. Was hatte sie vor? Unter der Erde bis nach Ikne zurückzulaufen?

Schaudernd sah er sich um. Er war nicht das erste Mal hier, aber der Anblick erschreckte ihn ebensosehr wie damals: die geheime Tür hatte sie auf einen schmalen, glasglatten Felssims hinausgeführt, der dicht unter der Decke einer wahrhaft titanischen Höhle entlangführte. Der Schein ihrer Fackeln verlor sich schon nach wenigen Fuß in absoluter Dunkelheit, aber Skar wußte, daß der Boden mehr als eine Meile unter ihnen lag. Die Höhle war so groß, daß ganz Elay bequem hineingepaßt hätte. Und es war nicht die einzige.

»Worauf wartest du?« fragte Kiina, als er sich nicht von der Stelle rührte.

Skar machte eine Kopfbewegung auf den finsteren Abgrund vor sich. »Dort unten ist nichts«, sagte er. »Kein Licht. Keine Geräusche.«

»Vielleicht sind sie in einer der anderen Höhlen«, sagte Kiina unwillig. »Komm schon.« Und wie es ihre Art war, ging sie einfach los, ohne auf seine Antwort zu warten. Skar folgte ihr, aber er tat es mit gemischten Gefühlen. Auf der einen Seite war er es Kiina – und auch sich selbst – schuldig, sich wenigstens davon zu überzeugen, daß auch die Drachenhöhlen leer waren. Aber sie hatten die mit Titch vereinbarte Zeit längst überschritten, und der Rückweg würde doppelt anstrengend und somit auch ein gutes Stück länger sein. Und wenn er ganz ehrlich war, dann hatte er fast Angst vor dem, was sie vielleicht finden konnten. Er ertrug den Gedanken nicht, noch mehr Tote zu sehen.

Das einzige, was er für die nächste halbe Stunde sah, waren Kiinas Rücken, die glatte Felswand neben sich und die Stufen aus schwarzer Lava, die in magenumstülpendem Winkel vor ihnen in die Tiefe führten. Seine Waden begannen zu schmerzen, dann sein Rücken, und als er endlich den Boden der Höhle erreicht hatte, hatte er das Gefühl, keinen Schritt weiter gehen zu können. Erschöpft lehnte er sich gegen die Wand und atmete mehrmals hintereinander tief ein und aus, um sein Blut wieder mit frischem Sauerstoff zu füllen.

»Was hast du, Satai?« fragte Kiina spöttisch. »Schon müde?«

Skar funkelte sie ärgerlich an. »Nicht halb so erschöpft wie du, kleines Mädchen«, sagte er. »Ich bin nur nicht so dumm, so zu tun, als würde es mir nichts ausmachen.«

Kiina setzte zu einer wütenden Antwort an, fuhr dann aber wortlos herum und stürmte einfach in die Dunkelheit hinein. Skar folgte ihr mit einem gemurmelten Fluch. Sie war Gowennas Tochter, daran gab es gar keinen Zweifel. Schade, daß sie nicht auch die Besonnenheit ihrer Mutter geerbt hatte.

Er holte sie ein, riß sie mit einer etwas zu groben Bewegung an der Schulter zurück und machte eine wedelnde Geste mit der freien Hand. »Und wohin jetzt? Diese verdammten Höhlen sind so groß, daß du Elay fünfmal darin unterbringen kannst. Willst du blindlings herumsuchen?«

Kiina riß sich los. Aber plötzlich geschah etwas Seltsames: Der Trotz auf ihren Zügen erlosch und machte Verlegenheit Platz. Vielleicht hatte sie gemerkt, daß Skars Zorn nicht gespielt war. Vielleicht ging es ihr auch so wie Skar, und diese Höhlen machten ihr angst.

»Es gibt einen Saal, nicht weit von hier«, sagte sie. »Er ist für den Drachen der Margoi reserviert, und ihre engsten Vertrauten. Wenn es Überlebende gibt, dann dort.«

Skar resignierte. Er wußte, daß er Kiina nicht eher hier herausbekommen würde, bis sie sich mit eigenen Augen von dem überzeugt hatte, was sie im Grunde beide schon lange wußten: daß diese Höhlen so leer und tot waren wie die Stadt, die über ihnen erbaut war.

Was Kiina mit nicht sehr weit von hier bezeichnet hatte, erwies sich als eine Strecke von zwei Meilen, für die sie auf dem unebenen Boden eine gute Stunde brauchten. Sie durchwateten einen unterirdischen, eiskalten Fluß, der nur knietief war, aber reißend, und einmal stürzte Kiina und verletzte sich an der Schläfe, als sie eine steil aufragende Halde aus Schutt und spitzen Lavabrocken überkletterten. Skars Mitleid hielt sich in Grenzen – er hatte Kiina jede nur denkbare Möglichkeit gegeben, umzukehren, aber sie war noch in einem Alter, aus dem man eben nur aus Schaden klug wurde, nicht aus Worten. Doch er registrierte mit einer Mischung aus Sorge und grimmiger Befriedigung, daß sich ihre Kräfte wirklich dem Ende entgegenneigten. Als sie endlich den Durchgang zu der Höhle erreichten, von der Kiina gesprochen hatte, wankte sie vor Erschöpfung. Skar fragte sich, ob sie den Rückweg schaffen würde. Zur Not würde er sie tragen müssen, obwohl er –

Und dann sah er etwas, was ihn alle Gedanken an den Rückweg und Kiinas Zustand schlagartig vergessen ließ.

Es war sehr dunkel hier unten. Die Schwärze schien das Licht ihrer halb heruntergebrannten Fackeln aufzusaugen wie ein körperloser Schwamm, aber der zuckende rote Schein reichte trotzdem aus, Skar erkennen zu lassen, daß der Eingang zur Drachenhöhle nicht leer war.

Er war groß – halb so hoch wie die Stadttore Elays und zu perfekt gerundet, um trotz der hervorspringenden Kanten und Grate natürlichen Ursprungs zu sein. Und etwas versperrte ihn. Ein Netz. Ein schwarzes Gewebe aus fingerdicken Strängen, zu einer Spirale gedreht wie das Netz einer gigantischen Spinne und mit einem riesigen, klumpigen Zentrum, aus dessen Mitte ein Dutzend kleiner, böser Augen auf Kiina und ihn herabstarrten …

Kiina schrie auf und taumelte zurück, und auch Skars Herz machte einen erschrockenen Sprung und hämmerte schneller und mit schmerzhafter Kraft weiter. Seine Hand zuckte instinktiv zum Gürtel und riß das Tschekal hervor, gleichzeitig trat er einen halben Schritt zurück und spreizte die Beine, um festen Stand für den Fall eines Angriffes zu haben, alles in einer einzigen, fließenden, unglaublich schnellen Bewegung, die fast gegen seinen Willen ablief und noch ehe ihm klar wurde, wie lächerlich das Satai-Schwert gegen die Sternenbestie im Zentrum des Netzes wirkte.

Vor allem, da sie tot war.

Verblüfft ließ er das Schwert sinken und hob statt dessen die Fackel höher. Der zuckende Lichtschein floß wie blutiges Wasser an den ineinandergeknoteten Strängen des Netzes hinauf, erreichte den aufgedunsenen Balg des Monsters und brach sich in seinen erloschenen Augen wie in funkelnden Diamanten. Gräßliche Fänge, halb geöffnet, als wolle das Ungeheuer selbst im Tode noch zubeißen, grinsten ihn an. Auf der schwarzen Haut, die wie steinhartes zerbrochenes Leder war, hatten sich Tropfen einer wasserklaren Flüssigkeit gesammelt, die in regelmäßigen Abständen zu Boden fielen und sich dicht vor Skars Füßen zu einer schimmernden Pfütze gesammelt hatten. Einer der zahllosen, mit entsetzlichen Klauen bewehrten Schlangenarme des Monsters pendelte leicht hin und her, von einem Luftzug bewegt, und die Fackel in Skars Hand ließ seinen Schatten übergroß an der Wand entlanghuschen und sich nach den ihren greifen. Aber das Ungeheuer war tot. Und zwar schon seit langer Zeit.

Skar machte einen vorsichtigen Schritt auf das Netz zu und senkte hastig die Fackel, als die Flammen einen der Fäden streiften und zischende Funken aufstoben.

»Skar!« sagte Kiina erschrocken. »Sei vorsichtig!«

Skar machte eine beruhigende Handbewegung, aber er hatte sich nicht gut genug in der Gewalt, um seinen Blick von der toten Scheußlichkeit zwanzig Fuß über sich zu lösen. Selbst tot und bereits halb in Verwesung übergegangen wirkte das Ding noch drohend.

»Keine Angst«, sagte er. »Es kann dir nichts mehr tun. Es ist tot.« Um seine Worte zu bekräftigen, hob er das Schwert und durchtrennte einen der fingerdicken Stränge vor sich. Er zersprang mit einem peitschenden Knall, und die Erschütterung pflanzte sich durch das gesamte Netz fort und ließ die Bestie in seinem Zentrum erbeben. Kiina verzog angeekelt das Gesicht, als sich ein Hautlappen von seinem Körper löste und mit einem widerwärtigen feuchten Geräusch zu Boden fiel.

»Es ist … dasselbe Ding wie in der Burg, nicht wahr?« Kiinas Stimme klang gepreßt. Sie kämpfte gegen die Übelkeit an, die der Anblick in ihr auslöste.

Skar nickte, obwohl er nicht einmal sicher war, daß sie die Bewegung sah. Dieselbe Kreatur, dasselbe Netz, nur kleiner und bereits halb zerfallen. Was in Draks Trutzburg begonnen hatte, hatte hier in Elay seine Vollendung gefunden. Er fragte sich, ob die Bergfestung mit all ihren Bewohnern am Schluß auch so ausgesehen hätte wie die Stadt über ihnen, wäre es ihm nicht gelungen, die Sternenbestie zu vernichten.

»Aber sie ist … tot«, stammelte Kiina. Ihre Stimme wurde schrill. »Sie haben sie getötet, so wie du das Ungeheuer in der Burg!« Sie fuhr herum und starrte ihn an. Ihre Augen waren weit und dunkel. »Sie haben sie besiegt, Skar! Sie müssen noch leben!«

Skar antwortete nicht darauf. Kiinas Schlußfolgerung war von einer verlockenden Logik, aber er wußte einfach, daß sie falsch war. Es war die Höhle der Drachenkönigin, vor der die Bestie hockte, das Zentrum von Elays Macht, ein Ort, der sicherlich nicht durch Zufall gewählt war; er war voller schrecklicher Symbolik. Er sprach nichts von diesem Gedanken aus, aber Kiina schien sie in seinen Augen zu lesen. Sie begann zu zittern.

Und dann tat sie etwas, was Skar vollkommen überraschte: Völlig warnungslos griff sie zu, zerrte den Scanner aus seinem Gürtel und riß die Waffe mit beiden Händen in die Höhe, so schnell, daß selbst Skars Reaktion zu spät kam. Der Scanner spie einen grellweißen, kreischenden Lichtblitz aus, und plötzlich verwandelte sich der Kadaver der Sternenbestie über ihren Köpfen in einen lodernden Feuerball.

Skar sprang mit einem Fluch zurück, zerrte Kiina mit sich und entriß ihr die Waffe. Kiina starrte ihn trotzig an und versuchte, ihm den Scanner wieder zu entringen, und plötzlich hatte Skar Lust, sie zu ohrfeigen.

Er tat es nicht, aber Kiina schien abermals zu spüren, was in ihm vorging, denn sie hörte auf, an seinem Arm zu zerren und beschränkte sich darauf, ihn trotzig anzufunkeln, während sie ein paar Schritte weiter vor dem brennenden Kadaver zurückwichen. Skars Zorn verrauchte so schnell, wie er gekommen war. Im Grunde konnte er Kiina sehr gut verstehen. An ihrer Stelle hätte er vielleicht nicht anders gehandelt.

Sie sahen schweigend zu, wie der Kadaver der Sternenbestie verbrannte. Es ging sehr schnell. Der aufgedunsene Balg brannte wie trockener Zunder. Sie konnten zusehen, wie er in den Flammen zusammenschrumpfte und zu einem kleinen, glühenden Etwas wurde, das träge zu Boden stürzte, als die Flammen auf das Netz übergriffen und es ebenfalls verzehrten. Vorhin, als er mit dem Schwert einen der Stränge zerschnitten hatte, hatte er gespürt, wie hart und trocken die Fäden geworden waren. Kiina täuschte sich.

Mit klopfendem Herzen gingen sie weiter, als keine Gefahr mehr bestand, von einem herunterstürzenden Teil des Gewebes getroffen zu werden. Die Flammen des brennenden Netzes erfüllten die Höhle mit zuckendem Feuerschein und Schatten, in die Skars überreizte Nerven Bewegung hineinzauberten. Nicht, daß das nötig gewesen wäre. Was sie sahen, das war ein Bild aus einem Alptraum; schlimmer noch – es war Wirklichkeit, die die Phantasie überholt hatte.

In der Höhle befanden sich die Kadaver von mehr als einem Dutzend Drachen. Die meisten waren zu Boden gestürzt, aber einige standen auch aufrecht da, in absurden Stellungen eingewoben in die Fäden des schwarzen Netzes, das die Höhle in ein Labyrinth sich überschneidender Fäden und dunkler Klumpen verwandelte. Der Felsensaal war nicht sehr groß, verglichen mit der zyklopischen Höhle, durch die sie gekommen waren, aber sie war noch immer riesig. Trotzdem erfüllte das abgestorbene schwarze Gewebe ihr hinteres Drittel so dicht, daß ein Durchkommen dort fast unmöglich sein mußte. Darin eingewoben, wie Beute in schwarzen Kokons – vielleicht waren sie es –, dunkle Umrisse, die im flackernden Feuerschein nicht zu identifizieren waren. Selbst aus Ritzen und Spalten des Bodens kräuselten sich abgestorbene schwärzliche Fäden, wo das Netz den Felsen aufgebrochen und durchdrungen hatte.

Lange, endlos lange standen sie einfach da und starrten auf das Bild des Entsetzens herab, das sich ihnen bot, schweigend, jeder in seiner eigenen Angst gefangen. Es fiel Skar nicht sehr schwer, in Gedanken nachzuvollziehen, was hier geschehen war: Hier, genau hier, mußte es begonnen haben. Es war dieser Ort, das Zentrum von Elays Macht, an dem die Bestie, die die Bewohner der Stadt später den Wächter nannten, zuerst zugeschlagen hatte, mit aller Macht und lange, ehe sie begann, ihr finsteres Gespinst nach oben zu schicken. Die Stadt war schon gefallen, ehe seine Bewohner auch nur ahnten, daß sie überhaupt angegriffen wurden.

Kiina hob die Hand und deutete auf eine titanische Echse, die halb zusammengebrochen, halb auf den Hinterläufen stehend, in einem Gewirr schwarzer, schenkelartiger Netzfäden hing. »Das ist Elah«, flüsterte sie.

Skar sah sie fragend an, und Kiina fügte hinzu: »Der Drache der Margoi.«

Skar besah sich das Tier ein zweites Mal. Es war der mit Abstand größte Drache, der hier sein Grab gefunden hatte, und er unterschied sich auch sonst von den übrigen Tieren. Seine Haut war grau und glänzte wie poliertes Eisen, und in das Horn des riesigen Stachelkranzes über seinem Schädel war ein schmaler Sattel eingeschnitten worden. Seine Augen waren so groß wie Skars geballte Fäuste und strahlten selbst im Tode noch Wildheit aus. Dann erinnerte er sich, wo er ein solches Tier schon einmal gesehen hatte: es war ein Staubdrache, die wildeste und größte Bestie, die auf Enwor bekannt war. Selbst den Errish gelang es nur sehr selten, ein solches Tier zu zähmen.

Fast gegen seinen Willen drehte er sich herum und sah zu den verglühenden Resten der Sternenbestie hinüber. Der Gedanke, daß selbst ein Ungeheuer wie der Staubdrache dem Monster erlegen war, erschien ihm absurd und ungerecht. Die Drachen waren – auch wenn sie fast immer den Tod brachten – ein Teil ihrer Welt, erschaffen von der gleichen Macht, die ganz Enwor erschaffen hatte, aber die Kreaturen von den Sternen waren … anders. Fremd. Fremd u … vielleicht nicht einmal böse, aber so völlig verschieden von ihnen, daß eine Verständigung einfach nicht denkbar war.

Dann erkannte er den Fehler in dieser Überlegung und zwang sich, den Gedanken abzubrechen.

Ein dumpfes Poltern und Bersten ließ ihn aufsehen. Der Brand hatte auch auf einen Teil dieses Netzes übergegriffen und breitete sich aus, nicht so schnell, daß sie in irgendeiner Gefahr gewesen wären, aber doch rasch genug, um auch die Stabilität dieses zweiten, größeren Netzes zu erschüttern. Einer der Drachenkadaver war zur Seite gestürzt; brennende Fäden regneten auf ihn herab.

»Laß uns gehen«, sagte Skar schaudernd. »Bevor hier alles zusammenbricht.«

»Da hinten … ist etwas«, sagte Kiina.

Skar sah kurz in die Richtung, in die sie starrte, und schüttelte den Kopf. »Da ist nichts, Kind«, sagte er sanft. »Nur Schatten.«

»Da ist jemand!« beharrte Kiina. »Etwas hat sich bewegt.«

Sie machte einen Schritt. Skar hielt sie zurück, aber Kiina riß sich mit erstaunlicher Kraft wieder los. Skar wollte wieder nach ihr greifen, um sie zum zweiten Mal zurückzureißen – und dann erkannte er, daß sie recht hatte. Nur wenige Dutzend Schritte vor ihnen, halb im Schatten des toten Staubdrachen verborgen, bewegte sich wirklich etwas. Er konnte nicht erkennen, ob es Mensch oder Tier oder etwas anderes war.

»Glaubst du mir jetzt?« fragte Kiina.

Skar gebot ihr mit einer warnenden Geste zu schweigen, machte eine zweite, befehlende Handbewegung, daß sie zurückbleiben sollte, und ging vorsichtig auf den toten Drachen zu. Kiina tat genau das, was er erwartet hatte – sie ignorierte seinen Befehl und folgte ihm in weniger als zwei Schritten Abstand. Skar näherte sich dem Tier in einem weiten Bogen, obwohl er dabei in unangenehme Nähe der Flammen geriet. Aber er hatte kein Vertrauen in die Festigkeit des abgestorbenen Gewebes, das den tonnenschweren Kadaver stützte. Er war nicht besonders erpicht darauf, unter dem zusammenbrechenden Drachen begraben zu werden.

Die Bewegung wiederholte sich, und wie um die Szene besser zu beleuchten, loderten die Flammen hinter ihnen plötzlich heller auf und durchbrachen den Schatten mit roter Glut, so daß Skar jetzt erkennen konnte, was sie verursacht hatte.

Es war ein Mensch. Eine schmale, in ein schmuckloses schwarzes Kapuzengewand gehüllte Gestalt, die verkrümmt und mit angezogenen Armen und Beinen wie ein Embryo auf der Seite lag und sich schwach bewegte. Eine Errish.

Kiina schrie auf, stürmte an ihm vorbei und fiel neben der Ehrwürdigen Frau auf die Knie herab. Ein leises Stöhnen drang unter der Kapuze hervor, als Kiina versuchte, sie auf den Rücken zu drehen. Die grausame Karikatur einer Hand kroch aus den Falten des schwarzen Gewandes und tastete zitternd nach Kiinas Gesicht, und fast im gleichen Moment schrie Kiina so gellend und voller Entsetzen auf, daß Skar die letzten Schritte bis zu ihr mit einem Satz überwand und sie instinktiv zurückriß. Gleichzeitig hob er das Schwert.

Kiina schlug seinen Arm beiseite, wobei sie sich einen langen, blutigen Kratzer an der Klinge des Tschekal zuzog, ohne es auch nur zu bemerken. »Steck die Waffe weg!« herrschte sie ihn an. »Bist du wahnsinnig, Satai? Das ist die Margoi

Skar schob Kiina kurzerhand zur Seite, legte das Schwert aber wenigstens neben sich auf den Boden, als er sich vor der Gestalt im schwarzen Mantel in die Hocke sinken ließ.

»Rühr sie nicht an!« drohte Kiina. »Ich warne dich – rühr sie nicht an

Ein schwaches Stöhnen drang aus den Schatten unter der Kapuze, dann eine Stimme, die Stimme einer jungen Frau, die trotzdem auf schreckliche Weise so müde und brüchig klang wie die einer Greisin.

»Laß ihn, Mädchen. Er wird … mir nichts antun.«

Skar versuchte, die Schatten unter dem Mantel mit Blicken zu durchdringen, aber es gelang ihm nicht richtig. Er erkannte die schemenhaften Umrisse eines Gesichts, aber etwas daran war falsch. Beunruhigend. Die verkrüppelte Hand bewegte sich vor ihm über den Boden und verschwand raschelnd wieder in den Falten des Gewandes; wie eine Spinne, die nur kurz ihr Nest verlassen hatte, um nach Beute Ausschau zu halten, dachte Skar schaudernd.

Plötzlich wurde ihm bewußt, daß die Worte der Margoi als Frage gemeint waren. Fast hastig schüttelte er den Kopf. »Nein«, sagte er. »Das werde ich nicht. Hat sie recht? Du bist die Margoi

Die Errish hustete qualvoll, dann nickte sie. »Ich war es. Oder ja, ich bin es.« Sie lachte ganz leise und bitter und voller Schmerz. »Aber ich bin tot, Satai. Die tote Königin eines toten Volkes. Du bist doch ein Satai? Das ist … Satai-Kleidung, die du trägst.« Das Schattengesicht unter der Kapuze bewegte sich, und Skar glaubte zu erkennen, wie sich die Augen angestrengt verengten. »Das ist der Mantel eines … Hohen Satai?«

»Ich bin Skar«, antwortete Skar.

»Skar.« Die Margoi wiederholte das Wort, als versuche sie etwas Vertrautes in seinem Klang zu erkennen. Dann, nach einer Weile, nickte sie. »Oh, ja, ich erinnere mich. Das Mädchen … ging, um … um dich zu holen. Wie war doch gleich sein Name?«

»Kiina«, antwortete Kiina. Sie ließ sich neben Skar auf die Knie sinken und warf ihm einen irritierten Blick zu. Skar schüttelte fast unmerklich den Kopf. Der Geist der Sterbenden begann sich zu verwirren, schon der Klang ihrer Stimme machte das klar. Sie hatten eine Überlebende gefunden, aber sie waren zu spät gekommen, um sie zu retten.

»Kiina. Ja, ich erinnere mich. Du bist … Gowennas Tochter.« Sie versuchte, sich aufzurichten, aber ihre Kraft reichte nicht. Mit einem schmerzhaften Keuchen sank sie zurück und stöhnte leise. Ihre Hand glitt kraftlos unter dem Mantel hervor und berührte Skars Bein. Er mußte mit aller Macht den Impuls unterdrücken, sie beiseite zu schlagen. Die Berührung war unangenehm: kalt und naß und viel mehr wie die toten als lebenden Fleisches, und auch Kiinas Augen weiteten sich erschrocken, als sie sie zum zweiten Mal und jetzt wohl deutlicher sah. Sie war nicht wirklich verkrüppelt, aber so ausgezehrt und verkrümmt, daß sie so wirkte. Die Haut war bleich und trocken und gerissen und über und über mit Geschwüren und nässenden Wunden übersät. Sie hatte keinen einzigen Fingernagel mehr.

»Was ist … geschehen, Herrin?« flüsterte Kiina entsetzt. »Ihr seid verwundet. Wer hat euch das angetan?«

»Ich selbst«, antwortete die Margoi. »Der Staub. Ich war …« Sie brach ab, rang mühsam nach Atem und machte eine bittende Handbewegung. »Helft mir, mich … aufzusetzen«, flüsterte sie. »Erschreckt nicht. Ich biete keinen … schönen Anblick.«

Kiina wollte sich vorbeugen, aber Skar schob ihre Hand mit sanfter Gewalt beiseite, griff unter die Arme der Margoi und richtete sie auf. Als er sie behutsam gegen die Flanke des toten Drachen lehnte, spürte er, wie dünn und zerbrechlich der Körper unter dem schwarzen Stoff war. Er zögerte einen winzigen Moment, ehe er die Hand hob und die Kapuze des Mantels zurückschlug.

Er wünschte sich fast, es nicht getan zu haben. Kiina gelang es nicht mehr ganz, einen entsetzten Aufschrei zu unterdrücken, und auch Skar preßte erschrocken die Lippen aufeinander und kämpfte sekundenlang gegen den Impuls, die Augen zu verschließen. Was mit der Hand der Margoi geschehen war, hatte auch vor ihrem Gesicht nicht haltgemacht. Was unter der Kapuze verborgen gewesen war, das war ein Totenschädel, kahl, bedeckt mit rissiger Pergamenthaut und von eiternden Wunden entstellt. Eines der Augen der Margoi war blind, überzogen von einem milchigen Netz, und der Mund hinter den entzündeten Lippen hatte keine Zähne mehr.

»Großer Gott!« wimmerte Kiina. »Was ist mit Euch geschehen?

Der Totenschädel der Margoi verzerrte sich zu einer Grimasse, die wohl der Versuch eines Lächelns sein sollte. »Nur die gerechte Strafe der Götter, Kind«, flüsterte sie. »Wir haben bekommen, was wir … verdient haben.«

»Unsinn«, widersprach Skar. »Ihr –«

»Du«, unterbrach ihn die Margoi plötzlich mit kraftvoller, fast energischer Stimme, »solltest besser als dieses dumme Kind wissen, wovon ich spreche. Es war eine von uns, die die Götter aus ihrem Schlaf riß, damals in Combat. Wäre es ein Satai gewesen, würdest du mir nicht widersprechen.«

Aber es war ein Satai, dachte Skar bitter. Ich war es, der den Stein der Macht aus der Stadt brachte und damit das Siegel erbrach, das sie so lange gebannt hat. Aber das sprach er nicht aus. Die Margoi wußte es so gut wie er. Ebenso, wie sie wußte, daß keiner von ihnen wirklich geahnt hatte, was er tat. Sie waren alle nur Werkzeuge gewesen. Werkzeuge einer Macht, die sie vielleicht auch heute noch nicht verstanden. Vela war auf ihre Weise so unschuldig oder schuldig wie er selbst.

»Was ist passiert?« fragte er. »Wer hat Elay angegriffen? Hat der Wächter das getan?«

»Der Wächter?« Die Margoi schüttelte den Kopf. »Nein. Er … starb.«

»Er starb?« wiederholte Skar fragend. »Einfach so?«

»Vor elf Tagen«, bestätigte die Margoi. »Vielleicht auch vor zwölf. Ich weiß nicht. Ich bin … schon so lange hier unten. Er zerfiel, und wir waren … frei.«

»Aber sie sind alle tot!« sagte Kiina. »Elay liegt in Trümmern, Herrin! Jemand hat sie alle getötet!« Skar warf ihr einen warnenden Blick zu, aber Kiinas Selbstbeherrschung war aufgebraucht. Der Anblick der sterbenden Margoi war mehr, als sie noch ertragen konnte. »Wer hat das getan?!«

»Niemand«, antwortete die Margoi leise. Ihr einzelnes, sehendes Auge richtete sich auf Kiina, und für einen Moment glaubte Skar trotz des unendlichen Schmerzes und des beginnenden Wahnsinns darin Mitleid in ihrem Blick zu erkennen. »Wir selbst waren es, Kiina.«

»Ihr … selbst

Skar war nicht einmal überrascht. Und Kiina hätte es auch nicht sein dürfen. Sie wußten beide längst, was geschehen war. Die toten Errish oben in der Stadt, die Häuser, von Scannerschüssen niedergebrannt, der Drache, der den Palast angegriffen haben mußte – das alles hatte eine eindeutige Sprache gesprochen; deutlich genug, daß selbst Kiina die Wahrheit erkannt haben mußte. Aber keiner von ihnen hatte es gewagt, sie auszusprechen; vielleicht, weil er Angst hatte, sich mitschuldig zu machen, einen Teil der Verantwortung für diesen Wahnsinn zu übernehmen, dadurch, daß er es aussprach.

»Es begann am nächsten Tag«, berichtete die Margoi mit schwacher, aber sehr klarer Stimme. »Vielleicht auch unmittelbar danach. Niemand … bemerkte es zuerst. Wir alle waren wie … wie betäubt. Es war wie ein böser Traum, aus dem wir nur allmählich erwachen konnten. Und manche wachten nicht auf. Viele starben, als der Wächter verging, und andere wurden wahnsinnig. Einige … flohen. Aber nicht sehr viele.« Ihre Stimme wurde leiser und erstarb völlig. Sie verlor nicht das Bewußtsein, aber sie brauchte sichtlich eine kurze Pause, um neue Kraft zum Weiterreden zu sammeln.

Skar sah sich besorgt in der Höhle um. Die Flammen hatten weiter um sich gegriffen, breiteten sich aber durch einen glücklichen Umstand fast in der entgegengesetzten Richtung aus. Trotzdem blieb ihnen nicht mehr viel Zeit. Noch Minuten, und die Höhle würde sich in eine Hölle verwandeln, in der sie die Wahl zwischen Ersticken und Verbrennen hatten.

»Sie begannen … zu kämpfen«, fuhr die Margoi fort.

»Kämpfen?« Kiina hob in einer hilflosen Geste die Hände. »Wer? Warum?«

»Es gab kein Warum. Es waren … die Träume. Manche starben einfach, andere … viele … sprangen plötzlich auf und griffen ihre Brüder und Schwestern an. Es dauerte eine Nacht und einen Tag und eine weitere Nacht, und danach … waren die meisten tot. Nicht alle, aber die meisten. Manche von uns, die Stärksten, konnten widerstehen. Auch ich. Oh, es war schwer, unendlich schwer. Da war … so viel Zorn in meinen Gedanken, so viel Haß …« Sie brach ab, hustete qualvoll, hob die Hand nach Skars Gesicht und ließ sie auf halbem Wege wieder sinken; Skar wußte nicht, ob aus Schwäche, oder weil sie ahnte, wie unangenehm ihm ihre Berührung sein mußte. »So viel Haß …«

Kiinas Blick war hilflos und unverstehend, aber Skar begriff nur zu gut, was die Margoi meinte. Er selbst hatte es mehr als einmal gespürt, dieses böse dunkle Flüstern aus den Abgründen seiner Seele, das ihn dazu bringen wollte, zu vernichten, zu töten und zerstören, gleich wen und was. Vielleicht war es die letzte, ultimative Waffe der Sternengeborenen, der böse Teil der menschlichen Seele, die Bestie, die in jedem Menschen lauerte, die sie entfesselten.

»Und dann kam der Staub«, flüsterte die Margoi, nachdem sie wieder einigermaßen zu Atem gekommen war. »Er wehte vom Meer heran, und er tötete … alle. Wie der … der Atem meines Drachen, nur hundertmal … tödlicher. Ist er … noch da?«

»Der Staub?« Skar nickte. »Ja. Überall. Der Regen wäscht ihn fort, aber er ist noch da.«

Auf dem zerfallenen Gesicht machte sich Schrecken breit.

»Habt ihr ihn berührt? Ihn eingeatmet?«

Skar nickte widerstrebend. »Ich fürchte. Aber nicht sehr viel.«

»Er ist nicht mehr gefährlich«, fügte Kiina hinzu. »Sieh uns an. Wir leben. Und wir bringen Euch hier heraus.«

»Du irrst dich, Kind«, widersprach die Margoi. »Sieh mich an. Es war der Staub, der mir dies angetan hat. Ich … konnte fliehen. Ich stand oben im Turmzimmer, als der Sturm begann, und etwas … warnte mich. Ich war feige und floh hierher, zu Elah und den anderen, um zu sterben.« Sie schwieg wieder, länger als eine Minute, und diesmal nicht aus Schwäche, sondern einfach, weil die Erinnerungen sie zu überwältigen drohten.

»Ich war feige«, wiederholte sie schließlich. »Ich ließ mein Volk im Stich, statt mit ihm zu sterben, wie es meine Pflicht gewesen wäre. Zwei Tage und Nächte blieb ich hier unten, und als ich zurückkam, da … da gab es kein Elay mehr. Aber ich berührte den Staub.«

»Wir werden Euch helfen!« sagte Kiina verzweifelt. »Wir bringen Euch hier heraus und … und werden Euch helfen. Ich verstehe eine Menge von der Heilkunst, mehr als Ihr glaubt. Meine Mutter –«

»Sei endlich still«, sagte Skar. Kiina brach mitten im Wort ab und starrte ihn aus tränenerfüllten Augen an, und Skar wandte sich wieder an die Margoi. »Es tut mir so leid«, sagte er.

»Leid?« Die Errish lachte leise. »Das muß es nicht, Satai. Es ist die gerechte Strafe für meine Feigheit. Ich hatte Angst zu sterben. Ich wollte leben, und für einen Moment war es mir gleich, ob mein Volk lebt oder nicht.«

»Du hättest es nicht verhindern können.«

»Aber ich hätte mit ihnen sterben können«, sagte die Margoi. »Ich sah, wie sie stürzten, im Bruchteil einer Sekunde, und ich hatte nur Angst.« Wieder lachte sie. »Ich hatte Angst vor einem schnellen Tod und tauschte ihn gegen das hier ein. Die Götter sind gerecht, Skar. Sie haben mich für das bestraft, was ich tat. Und sie haben Elay für das bestraft, was Vela getan hat.«

»Das ist nicht wahr«, widersprach Skar, sanft, aber sehr bestimmt. »Was immer es war, das Elay zerstört hat – es sind Wesen wie wir, die es entfesselten.«

»Wesen wie wir?« Die Margoi sah ihn auf sonderbare Weise an, und für einen Moment war Skar fast sicher, daß sie sein Geheimnis kannte. Aber wenn es so war, dann zog sie es vor, darüber zu schweigen.

»Vielleicht keine Wesen wie wir«, sprach er weiter. »Aber sie sind sterblich. Sie leben, und was lebt, kann getötet werden. Unsere Vorfahren haben sie schon einmal besiegt.«

»Die Alten hatten die Macht von Göttern«, widersprach die Margoi. »Wir Errish haben uns immer eingebildet, die Erben ihrer Macht zu sein, aber du hast gesehen, wie leicht sie uns überwältigen konnten.«

»Und doch war es eine Errish, die uns die Rettung brachte«, sagte Skar. Er verschwieg absichtlich, daß das Wasser des Lebens versagt hatte. Was hätte es genutzt, einer Sterbenden unnötig weh zu tun?

»Mini hat euch erreicht?«

»Eine dunkelhaarige Errish auf einer riesigen Daktyle«, sagte Skar. »Sie trug die Haut eines Ultha als Rüstung.« Kiina sah ihn fragend an, aber er spürte, daß ihnen nur noch sehr wenig Zeit blieb, und fuhr mit leiser, eindringlicher Stimme und sehr schnell fort: »Sie starb, ehe sie die Burg erreichte, aber ich fand ihren Leichnam. Und das, was sie brachte.«

»Dann war nicht alles umsonst«, flüsterte die Margoi. »Ich wußte von ihrem Plan und versuchte ihn zu vereiteln, als ich unter dem Einfluß des … Wächters stand, aber es gelang mir nicht. Ich bin sehr froh.«

Ein Teil des Netzes stürzte brennend im hinteren Drittel der Höhle zusammen, und Skar spürte das Beben, das durch den Körper des toten Staubdrachens ging, an dem die Margoi lehnte. Der Flammenschein wurde heller und die Luft merklich wärmer.

»Ihr müßt … gehen«, flüsterte die Margoi. »Rasch, ehe es zu spät ist. Kümmert euch nicht um mich.«

Skar war der Verzweiflung nahe. Es gab so viele Fragen, die er ihr hatte stellen wollen, auf die er eine Antwort haben mußte, wenn nicht alles umsonst gewesen sein sollte. Gleichzeitig wußte er, daß sie recht hatte. Ihnen blieben allerhöchstens noch Sekunden.

»Herrin …«, wimmerte Kiina.

»Kümmert euch nicht um mich«, wiederholte die Margoi. »Ich bin hierhergekommen, um zu sterben. Bei Ehla, bei … den anderen. Geht. Geht nach … Norden. Geht ins Land der Quorrl. Vielleicht … findest du dort die Antworten, die du suchst.« Sie lachte, hustete wieder und lachte noch einmal. »Oder die Fragen, die zu den Antworten passen, die du schon kennst.«

»Und Ihr?« fragte Skar.

Die Margoi blickte ihn an, und er begriff. Mühsam stand er auf, zwang auch Kiina mit sanfter Gewalt auf die Füße und blickte das brennende Netz über ihren Köpfen an. Die Flammen wogten wie ein Himmel aus Feuer unter der Höhlendecke. Es wurde heißer.

»Geht nicht durch die Stadt zurück«, sagte die Margoi. »Der Staub ist noch immer gefährlich, und ihr müßt … leben. Kiina muß leben. Sie ist … die Tochter der Margoi. Vielleicht die letzte Errish, die es noch gibt.« Sie sah zu Skar auf. »Du wirst sie beschützen?«

»Das werde ich«, versprach Skar.

»Dann geht«, sagte die Margoi. Mit einer Kraft, die Skar ihr nicht mehr zugetraut hätte, richtete sie sich weiter auf und streckte ihm die Hand entgegen. Erst jetzt fiel ihm der kleine, silberne Ring auf, den sie am Mittelfinger trug. »Nimm ihn«, flüsterte sie. »Es ist der … Ring der Ehrwürdigen Mutter. Vielleicht gibt es niemanden mehr, der ihn erkennt, aber wenn, dann … wird er dir nutzen.«

»Euer Ring?« Skar zögerte. Er wußte, was der schlichte Ring bedeutete.

»Ich schenke ihn dir nicht«, antwortete die Margoi. »Gib ihn Kiina, wenn sie alt genug ist.«

Skar zögerte. Hitze und Flammen kamen näher und machten sich bereits mehr als unangenehm bemerkbar, aber alles in ihm sträubte sich dagegen, die Hand der Sterbenden zu berühren und das Symbol ihrer Macht an sich zu nehmen. Schließlich tat er es doch, aber er hatte das Gefühl, glühendes Eisen zu berühren.

»Und du, Kiina – komm her.«

Kiina gehorchte. Während Skar zwei, drei Schritte zurückwich, kniete sie zitternd neben der sterbenden Errish nieder. Skar sah, wie sich die Lippen der Margoi bewegten, aber die Worte waren so leise, daß er sie nicht verstand. Und er wollte es auch nicht. Ohne zu wissen, worüber die beiden so ungleichen Frauen sprachen, begriff er, daß es etwas war, das ihn nichts anging. Sie sprachen nicht lange miteinander, nur wenige Sätze, aber in die Qual auf Kiinas Zügen mischte sich Schrecken, während sie den Worten der Margoi lauschte. Für einen kurzen Moment starrte sie ihn an, und der Blick, mit dem sie ihn musterte, spiegelte pures Entsetzen. Skar ahnte, was in ihr vorging. Er wußte, was die Margoi von Kiina erwartete; eine letzte Pflicht, die er ihr gerne abgenommen hätte. Aber er durfte es nicht. Er wußte, daß Kiina ihn hassen würde, wenn er es tat.

Schließlich wandte sie sich wieder der sterbenden Errish zu, nickte kaum merklich und beugte sich vor, um ihre Stirn zu küssen.

Skar wandte sich um, als er sah, wie Kiina den Dolch aus dem Gürtel zog.

3. Kapitel

Skar konnte hinterher nicht sagen, wie lange sie brauchten, um zur Erdoberfläche zurückzukehren. Aber die Sonne ging bereits unter, als sie aus einem schmalen Spalt im Fels traten und Elay vor ihnen lag; nur ein Steinwurf entfernt, aber leider auf der falschen Seite. Sie mußten die Stadt völlig umrunden, um zu den Pferden zurückzukommen, und als sie es geschafft hatten, war es völlig dunkel geworden. Und als hätten sie noch nicht genug Schwierigkeiten, dachte er ärgerlich, war die Nacht fast sternenlos. Es regnete noch immer, und die dichtgeschlossene Wolkendecke verschluckte auch noch das bißchen Licht, das der Mond spendete. Die Felsen, hinter denen Titchs Quorrl lagerten, waren nicht mehr zu erkennen. Selbst Elays Mauern waren zu formloser Schwärze geworden, deren Nähe man eher spürte als sah.

Er half Kiina, in den Sattel zu steigen, und sie war erschöpft genug, seine ausgestreckte Hand zu ergreifen. Skar konnte ihr Gesicht in der herrschenden Dunkelheit nicht erkennen, aber er ersparte sich die Frage, wie sie sich fühlte; ihr schneller, flacher Atem und die müde, weit über den Hals des Pferdes nach vorne gebeugte Haltung, in der ihr Schatten im Sattel saß, erzählte ihm genug über Kiinas Zustand. Der Rückweg war anstrengend gewesen, selbst für ihn, und es war genau das geschehen, was er nicht nur erwartet, sondern Kiina sogar prophezeit hatte: Sie hatte ihre Kräfte überschätzt und nicht einmal versucht, sie einzuteilen. Die letzten zwei-, dreihundert Meter auf dem Wege nach oben war sie mehr gekrochen als gegangen.

Er band die beiden Pferde los, schwang sich auf den Rücken seines eigenen Reittieres und wischte sich mit einer beiläufigen Bewegung den Regen aus dem Gesicht, während sein Blick die Nacht im Westen absuchte. Die Wolkendecke war so dicht, daß er selbst das Meer nur hörte und roch, nicht sah. Sie würden aufpassen müssen, der Steilküste nicht zu nahe zu kommen. Elay lag zwar nur fünfzig Schritte vom Meer entfernt, dafür aber fünfhundert Fuß über ihm.

Seufzend griff er nach Kiinas Zügel, knotete sie auf und hielt die Lederriemen lose in der linken Hand, während er mit der anderen sein eigenes Tier lenkte. Kiina ließ es widerspruchslos geschehen, als wäre sie niemals das trotzige Kind gewesen, als das er sie in den letzten drei Wochen kennen und gleichermaßen lieben wie hassen gelernt hatte. Vielleicht würde sie es nie mehr sein, nach dem, was sie in der Höhle der Drachen erlebt hatte.

Er verscheuchte den Gedanken und konzentrierte all seine Sinne darauf, den Weg vor ihnen zu beobachten. Er konnte wenige Schritte weit sehen, nicht besonders gut, und wirklich nicht weit, aber weit genug, um nicht Gefahr zu laufen, sich unversehens auf der falschen Seite der Steilküste wiederzufinden und herauszufinden, wie lange ein Pferd samt Reiter brauchte, um fünfhundert Fuß weit in die Tiefe zu stürzen. Trotzdem fühlte er sich nicht sicher. Der Gedanke, in fast völliger Finsternis zu den wartenden Quorrl zurückreiten zu müssen, behagte ihm nicht, aber es dauerte eine Weile, bis ihm klar wurde, daß seine Furcht andere Gründe hatte. Er hatte die Worte der Margoi nicht vergessen: der Sturm, der den tödlichen Staub nach Elay getragen hatte, war vom Meer her gekommen.

Für eine geraume Weile ritten sie schweigend nebeneinander her. Die einzigen Geräusche waren das rhythmische Klatschen der Wellen eine Turmhöhe unter ihnen und das gleichmäßige Prasseln des Regens, der den Boden unter den Hufen ihrer Pferde in Morast verwandelte. Im nachhinein kam es Skar fast absurd vor, daß dieser Regen, unter dem sie alle seit Tagen ritten und auf den jeder von ihnen schon aus Leibeskräften geflucht hatte, ihnen aller Wahrscheinlichkeit nach das Leben gerettet hatte. Hätte er nicht den allergrößten Teil des tödlichen Staubes aus der Stadt gespült … Das entstellte Gesicht der sterbenden Margoi tauchte vor ihm auf, und er schauderte. Allein dafür würde er sie vernichten, das schwor er sich. Nicht dafür, daß sie sie getötet hatten, sondern für die Art und Weise, wie es geschehen war. Der Tod war ein Teil der Natur, den Skar schon immer akzeptiert hatte, selbst als er noch kein Krieger und später Satai war. Und auch der gewaltsame Tod war ihm nicht fremd; er hatte ihn oft genug selbst gebracht. Aber dieser Staub, der Tausende von Menschenleben in einer Sekunde auslöschte und die, die ihm entkamen, bei lebendigem Leibe verfaulen ließ, das war –

Nur konsequent, Bruder, flüsterte eine lautlose Stimme in ihm. Sie kämpfen mit den Waffen, die sie beherrschen, so wie du mit deinen. Was ist falsch daran?

Aber es war etwas Falsches an diesem Gedanken, etwas entsetzlich Falsches und Böses. Skar wußte noch nicht genau, was – oder vielleicht doch, er wußte es, aber es war ihm – noch – nicht möglich, es in Worte zu fassen – aber er dachte auch nicht daran, jetzt auch noch mit dieser lautlosen Stimme in seinem Inneren zu diskutieren, die ihn seit seiner Geburt quälte und ihn manchmal zwang, Dinge zu tun, die er nicht tun wollte. Seinen Dunklen Bruder hatte er sie genannt, vor Jahren, in einem anderen Leben und einem Anflug von Spott und bitterer Selbstironie und lange, bevor er auch nur ahnte, was das böse Flüstern in seinen Gedanken wirklich zu bedeuten hatte. Damals hatte er nicht gewußt, wie entsetzlich richtig dieser Name war.

Seit zwei Wochen wußte er es.

Und manchmal fragte er sich, wie er mit diesem Wissen überhaupt noch leben konnte.

»Skar?« Kiinas Stimme drang nur undeutlich durch das Prasseln des Regens, obwohl sie so dicht neben ihm ritt, daß sein Bein manchmal ihren Sattel berührte. Skar sah sie an, behielt aber dabei trotzdem den Weg im Auge, obwohl er wußte, daß seine Angst unbegründet war: die Pferde würden sehr viel besser als er darauf achten, der Steilküste nicht zu nahe zu kommen.

»Ja?«

»Die Quorrl!« sagte Kiina zögernd. »Wohin gehen sie?«

Skar runzelte die Stirn. Was sollte diese Frage? Kiina wußte die Antwort so gut wie er. Trotzdem sagte er laut: »Nach Norden.«

»Und du gehst mit ihnen? Du wirst tun, was … die Margoi dir gesagt hat?«

»Ich hätte es sowieso getan«, antwortete Skar. »Aber jetzt erst recht.« Er ahnte, warum Kiina Fragen stellte, deren Antworten sie seit zwei Wochen kannte. Besorgt fragte er sich, was er sagen sollte, wenn sie die Frage stellte, die er befürchtete.

Was sie in genau diesem Moment tat. »Nimmst du mich mit?«

Er seufzte. »Jetzt nicht, Kiina – bitte. Laß uns später darüber reden. Ich … will nicht denken.« Das entsprach sogar der Wahrheit. Sie hatten auf dem Weg durch das unterirdische Labyrinth kein Wort miteinander gewechselt, und nicht nur aus Schwäche. Er wollte nicht wissen, was die Vernichtung Elays und der Errish für ihre weiteren Pläne bedeutete, nicht jetzt. Er war einfach erschöpft; auf eine Art, die Kiina nicht verstehen würde. Er wollte für ein paar Augenblicke so tun, als hätte sich nichts geändert.

»Aber ich muß es wissen«, beharrte Kiina. »Bevor wir die Quorrl erreichen.«

»Du weißt, daß es nicht geht«, antwortete Skar ausweichend. »Titch würde es nicht zulassen. Ganz davon abgesehen, daß es zu gefährlich ist –«

»Für ein kleines Mädchen wie mich?« unterbrach ihn Kiina aufgebracht.

Skar dachte nicht daran, auf ihren aggressiven Ton einzugehen oder sich mit ihr zu streiten.

»Auch für einen alten Satai wie mich«, antwortete er ungerührt. »Meine Chancen, zurückzukommen, sind nicht sehr gut. Kein Mensch hat jemals das Land der Quorrl betreten. Jedenfalls keiner, der zurückgekommen wäre, um davon zu berichten.« Was nicht ganz der Wahrheit entsprach. Aber er war viel zu müde, um sich auf langatmige Erklärungen einzulassen.

»Es gibt keinen sicheren Ort mehr auf Enwor«, antwortete Kiina. »Das hast du selbst gesagt.«

Skar resignierte. Er hätte hundert passende Ausreden gehabt, aber er wußte auch, daß Kiina keine von ihnen gelten lassen würde. Sie erwachte langsam aus ihrem Schock, aber sie war noch lange nicht in dem Zustand, vernünftig mit ihm zu diskutieren. So wählte er die einfachste Lösung und sagte noch einmal: »Titch läßt es nicht zu.«

»Titch läßt es nicht zu!« äffte Kiina ihn nach. »Und was wird er zulassen, dein famoser fischgesichtiger Freund? Daß ich hier zurückbleibe und wie die anderen sterbe?«

»Unsinn. Der Weg in den Norden ist weit. Wir werden einen Ort finden, an dem du bleiben kannst. Ich bin sicher –«

»Ich begleite dich«, beharrte Kiina.

»Ja«, sagte Skar gelassen. »Bis zur nächsten Stadt. Oder zur nächsten Errish, auf die wir stoßen. Ende der Diskussion«, fügte er mürrisch hinzu.

Kiina widersprach tatsächlich nicht, aber nur, um nach einer Weile mit veränderter Stimme und einer anderen Taktik fortzufahren: »Du hast es der Margoi versprochen.«

»Habe ich das?«

Kiina nickte heftig. »Du hast ihr dein Wort gegeben, auf mich aufzupassen«, erklärte sie mit jener falschen, aber schwer zu widerlegenden Logik, mit der sich Kinder schon immer gegen Erwachsene zu behaupten gewußt haben. »Wie kannst du das, wenn du nicht in meiner Nähe bist?«

Skar antwortete gar nicht darauf. Sie führten diesen Streit in der einen oder anderen Form seit zwei Wochen, seit sie Del und das Heer verlassen hatten. Alle Argumente waren längst gesagt und hundertmal wiederholt worden, ohne dadurch besser oder schlechter zu werden.

»Und der Ring?« fuhr Kiina fort. »Du hast versprochen, ihn mir zu geben, wenn es soweit ist!«

Skar zog den winzigen Silberring vom kleinen Finger – dem einzigen Glied, auf das er paßte – und hielt ihn ihr hin. »Willst du ihn haben?«

Kiinas Reaktion überraschte ihn. Er hatte nicht damit gerechnet, daß sie nach dem Ring greifen würde, und das tat sie auch nicht – aber er hatte auch nicht damit gerechnet, daß sie erschrocken zurückfuhr und nur noch mit Mühe einen Schrei unterdrückte.

»Nein!« sagte sie hastig. »Ich will ihn nicht. Noch nicht. Vielleicht nie.«

Skar war verwirrt. Zögernd steckte er den Ring wieder ein, nahm ihn fast in der gleichen Bewegung noch einmal hervor und ließ ihn ein paarmal auf der Handfläche hin und her rollen. Es war eine wunderbare Arbeit, ein Schmuckstück, das trotz seiner Schlichtheit der Führerin der Errish würdig war – jede einzelne Schuppe des Schlangendrachens, als der er gestaltet war, war mit großer Kunstfertigkeit ausgearbeitet, und die beiden winzigen Rubine, die die Augen bildeten, funkelten in einem geheimnisvollen inneren Licht, als würden sie wirklich leben. Plötzlich erfüllte ihn die Vorstellung, ihn wieder anzulegen, mit Unbehagen. Skar schloß die Faust um den Ring und schob ihn nach kurzem Zögern in eine Tasche seines Gürtels.

»Was bedeutet dieser Ring?« fragte er. »Ich meine – hat er Zauberkräfte, oder birgt er ein Geheimnis? Kann man einen Dämonen damit beschwören?« Er lachte bei diesen Worten, aber selbst Kiina mußte merken, daß sich hinter ihrem scherzhaften Klang mehr Furcht verbarg, als Skar recht war.

Sie schüttelte den Kopf. »Nichts von alledem. Er ist nur ein Stück Silber. Aber er ist das Symbol ihrer Macht. Wer ihn trägt, der kann den Thron Elays besteigen. Wer ihn rechtmäßig trägt«, fügte sie mit bewußt boshafter Betonung hinzu.

»Wenn du glaubst, ein größeres Anrecht auf ihn zu haben …« Skar bewegte die Hand zum Gürtel, und wieder registrierte er, daß Kiinas Kopfschütteln eindeutig erschrocken war.

»Nein!« sagte sie. »Ich will ihn nicht. Er –«

Ein grellweißer Lichtblitz zerriß die Nacht, gefolgt von einem hellen, peitschenden Kreischen, in das sich nach Sekunden ein dumpfes Brüllen mischte, weit entfernt, aber so machtvoll wie der Laut zusammenstürzender Berge. Kiina schrie auf und stürzte vor Schrecken um ein Haar aus dem Sattel, und auch Skar fuhr herum und blickte entsetzt in die Richtung, aus der das Tosen erklungen war. Fast in der gleichen Sekunde flammten ein zweiter und ein dritter Blitz auf und sengten feurige Spuren in die Nacht, diesmal aber in völliger Stille.

Kiina begriff einen Sekundenbruchteil vor ihm, was das lautlose Lichtgewitter zu bedeuten hatte. »Scanner!« keuchte sie. »Das … das sind Errish, Skar! Sie schießen!«

Ja, dachte Skar. Und ich glaube, ich weiß sogar, worauf.

»Du bleibst hier!« sagte er. Er warf Kiina die Zügel zu, rammte seinem Pferd die Absätze in die Flanken und sprengte los, so schnell, daß sie gar keine Chance hatte, ihm zu folgen, selbst wenn sie es versuchte. Sein Pferd versuchte auszubrechen und schlug im vollen Galopp mit den Hinterläufen aus, halb wahnsinnig vor Angst, aber Skar trieb es unbarmherzig weiter. Wieder zerriß ein Blitz die Nacht, und wieder, und wieder. Rücksichtslos trieb er sein Pferd zu noch größerer Schnelligkeit an, beugte sich tief über seinen Hals und versuchte zu erkennen, wohin der rasende Galopp führte. Der Regen stach wie mit Nadeln in seine Haut und seine Augen, jetzt, als er ihm direkt entgegensprengte, und alles, was weiter als drei oder vier Schritte vor ihm lag, war hinter einer silbernen Wand aus fast waagerecht fallenden Schleiern verborgen, in die er direkt hineingaloppierte. Dazu kamen die grellen Blitze der Scanner, die farbige Nachbilder auf seiner Netzhaut hinterließen und ihn so fast völlig blind machten.

Dann hörte er die ersten Schreie: das dumpfe, wütende Brüllen der Quorrl, die spitzen Kampfschreie von Menschen (Menschen? Er hoffte, daß es Menschen waren, aber er war ganz und gar nicht sicher), und ein machtvolles, wütendes Knurren, das ihm einen eisigen Schauer über den Rücken jagte. Und schließlich geschah das, was bei einem Wahnsinnsritt wie diesem fast unausweichlich war: sein Pferd stolperte. Skar konnte hören, wie sein Bein brach, als es im Morast ausglitt und stürzte. Instinktiv rollte er sich ab, federte, den Schwung seines eigenen Sturzes ausnutzend, wieder in die Höhe und fiel vornüber mit dem Gesicht in den Schlamm, als auch er auf dem morastigen Untergrund das Gleichgewicht verlor.

Der Sturz rettete ihm das Leben.

Eine weiße Linie aus Feuer schnitt zwei Handbreit über ihm durch die Luft, und fünfzig Fuß hinter ihm schoß ein brüllender Geysir aus Glut und verdampftem Schlamm in die Höhe. Skar wälzte sich zwei-, dreimal zur Seite, sprang auf die Füße und schrie vor Schmerz auf, als kochender Morast und glühendheißer Dampf auf seinen Rücken herabregneten. Ein zweiter Lichtblitz stach nach ihm Skar sprang blitzschnell zur Seite, stürzte erneut und robbte mit verzweifelter Kraft in den Schutz eines Felsens.

Das Scannerfeuer hörte auf. Fünf, zehn Atemzüge lang lag Skar einfach da und wartete auf den letzten, vernichtenden Lichtblitz, der den lächerlichen Felsen einfach pulverisieren mußte, dann hob er behutsam den Kopf und spähte über den Rand seiner Deckung hervor.

Er sah nichts als den strömenden Regen und den Widerschein des Strahlengewitters auf der anderen Seite der Felsgruppe, hinter der Titchs Quorrl lagerten. Ein Stück vor sich glaubte er einen Schatten wahrzunehmen, war sich aber nicht sicher genug, sein Leben auf diese Vermutung zu setzen. Angestrengt starrte er in die silbrigen Schleier hinaus und versuchte den Schatten wiederzufinden. Es gelang ihm, aber er war auch diesmal nicht sicher, ob es sich wirklich um einen Angreifer handelte, oder etwa nur den Umriß eines Felsens, dem der strömende Regen nur die Illusion von Bewegung verlieh. Aber immerhin wurde nicht mehr auf ihn geschossen.

Skar war auch klar, warum. Der Angreifer hatte ihn ebenso aus den Augen verloren wie er umgekehrt ihn. Einen Scanner zu benutzen, bedeutete nicht zwangsläufig, vor der Blendwirkung seiner sengenden Lichtblitze gefeit zu sein.

Skar ließ weitere fünf, zehn schwere Herzschläge verstreichen, ehe er sich vorsichtig bewegte. Der Morast war so tief, daß er bis über die Ellbogen einsank und kaum von der Stelle kam, aber er schützte ihn auch gleichzeitig: selbst wenn der Angreifer genau in seine Richtung sah, würde er ihn höchstens durch Zufall entdecken, denn auch Skars Kleidung war mittlerweile über und über mit dem schwarzbraunen Schlamm bedeckt.

Dann sah er die Bewegung zum dritten Mal, und diesmal erkannte er, womit er es zu tun hatte. Es war eine Errish, die nur wenige Schritte entfernt auf einem Felsbuckel hockte und angestrengt in den Regen hinaussah. Für einen Moment richtete sich ihr Blick – und der Scanner in ihrer Hand, der der Bewegung ihrer Augen getreulich folgte! – direkt auf ihn, aber Skars Vermutung bestätigte sich: der Regen machte sie so blind wie ihn. Die tödliche Strahlenwaffe schwenkte weiter und richtete sich dorthin, wo sein Pferd in der Dunkelheit lag.

Skar erwog blitzschnell seine Chancen, sich unbemerkt an die Gestalt heranschleichen zu können. Besonders gut waren sie nicht. Die Sicht war schlecht genug, sich bis auf vier, fünf Schritte an einen normalen Gegner heranpirschen zu können, aber er wußte, wie scharf die Sinne einer Errish waren; und zudem war sie nervös und würde garantiert auf alles schießen, was ihr verdächtig vorkam.

Es war die Errish selbst, die die Entscheidung herbeiführte, denn sie erhob sich plötzlich von ihrem Felsen und watete mit kleinen, vorsichtigen Schritten durch den Morast auf ihn zu.

Skar preßte sich tiefer in den Schlamm, der mittlerweile fast so dünnflüssig wie Wasser war. Mit angehaltenem Atem wartete er, daß sie näher kam. Als sie es tat, konnte er unter der weit nach vorn gezogenen Kapuze ihres Mantels für einen Moment ihr Gesicht erkennen und erschrak. Sie war noch ein halbes Kind, kaum älter als Kiina. Skar verwarf den ohnehin nicht sehr ernsthaft erwogenen Gedanken, seinen Dolch zu ziehen und sie durch einen gezielten Wurf auszuschalten. Statt dessen preßte er sich noch tiefer in den Schlamm, konzentrierte sich, um all seine Kräfte zu sammeln – und stieß sich ab.

Seine Hände und Knie fanden auf dem rutschigen Untergrund keinen richtigen Halt. Sein Sprung war viel zu kurz. Ungeschickt flog er auf die Errish zu, sah, wie sie herumfuhr und ihn aus erschrocken geweiteten Augen anstarrte, gleichzeitig aber auch den Scanner hob, unbeschadet der Tatsache, daß die Wirkung der Strahlenwaffe auch sie verletzen, wenn nicht töten mußte, wenn sie aus einer so geringen Entfernung auf ihn schoß. Skar warf sich verzweifelt zur Seite, streckte die Arme aus – und bekam ihr Fußgelenk zu fassen.

Er mußte sie nicht einmal niederringen. Die pure Wucht seines Sturzes riß die Errish von den Füßen. Sie schrie auf, kippte in einer fast grotesken Bewegung nach hinten und feuerte noch im Sturz ihre Waffe ab. Der Scanner sengte einen blauweißen Halbkreis aus Licht in den Himmel und erlosch, als die Waffe ihren Fingern entglitt und im Morast versank. In der nächsten Sekunde war Skar über der Errish und preßte ihre Schultern gegen den Boden.

Jedenfalls wollte er es.

Aber die Frau mit dem Gesicht eines Kindes reagierte ganz anders, als er erwartet hatte. Statt sich zu wehren oder gegen seine Hände zu stemmen, warf sie sich im Gegenteil zurück, zog plötzlich die Knie an und streckte dann blitzartig die Beine aus. Skar fühlte sich mit einem Male gewichtslos. Im hohen Bogen flog er über den Kopf der Errish hinweg, schlug einen halben Salto in der Luft und klatschte in den Schlamm. Der Aufprall war weich, fast federnd, aber er blieb trotzdem eine Sekunde lang benommen liegen. Die Technik, mit der ihn die Errish abgeschüttelt hatte, war ihm bekannt, und nicht einmal besonders schwer zu erlernen. Aber er hatte einfach nicht damit gerechnet. Die Errish waren Frauen, die Wissen und die Heilung von Krankheiten und Wunden brachten; niemand, der auf Satai-Art zu kämpfen gelernt hatte.

Diese hier hatte es, wie Skar in der nächsten Sekunde auf äußerst schmerzhafte Art erfahren mußte. Er stand auf, aber wieder war die Errish schneller. Sie war bereits auf den Füßen, und sie beging nicht etwa den Fehler, entscheidende Sekunden damit zu verschwenden, nach ihrer Waffe zu suchen, sondern griff ihn sofort an. Ihre Hände krallten sich in sein Haar, rissen seinen Kopf zurück und fast unmittelbar wieder nach vorne, so daß er erneut das Gleichgewicht verlor, und eine halbe Sekunde später traf ihr hochgerissenes Knie seine Kiefer.

Skar keuchte vor Schmerz, stürzte rücklings und mit hilflos pendelnden Armen in den Schlamm und versuchte die Benommenheit abzuschütteln. Ein Fußtritt traf seinen Hals und verfehlte die Kehle nur um Millimeter. Skar riß instinktiv die Arme hoch, spürte, daß er etwas traf und hörte einen spitzen, schmerzerfüllten Schrei, dem der sonderbar weiche Aufprall eines Körpers im Schlamm folgte.

Stöhnend wälzte er sich herum, stemmte sich auf Hände und Knie hoch und versuchte Morast und Regen fortzublinzeln, die ihm in die Augen liefen. Sein Schädel dröhnte, und er hatte Mühe, zu atmen. Aus den Augenwinkeln sah er, wie sich die Errish neben ihm taumelnd erhob. Er trat nach ihr, verfehlte sie, zwang sie aber zumindest, einen Schritt zurückzuweichen, so daß auch ihm Zeit blieb, vollends aufzustehen.

Die Errish schlug nun eine andere Taktik ein. Sie mußte begriffen haben, daß er entschieden zu kräftig war, als daß sie sich auf ein Handgemenge mit ihm einlassen konnte, und begann ihn zu umkreisen, auf eine Art, die Skar nur zu gut kannte, langsam, mit gespreizten, in den Knien leicht eingeknickten Beinen und vorgebeugtem Oberkörper, die linke Hand zur Faust geballt vor dem Magen, die andere lose pendelnd an der Hüfte. Skar wußte jetzt, daß es ein Satai gewesen sein mußte, der ihr diese Art zu kämpfen beigebracht hatte.

»Hör auf!« sagte er schweratmend. »Ich will dich nicht um–«

Die Errish sprang mit einem spitzen Schrei auf ihn zu, täuschte einen Fausthieb vor und vollführte dann eine blitzartige Drehung, aus der heraus sie mit aller Kraft zutrat. Skar fing den Tritt mit dem Handballen ab und fegte sie seinerseits mit einem Tritt gegen ihr Standbein von den Füßen. Und diesmal war er gewarnt. Blitzschnell war er über ihr, preßte sie gegen den Boden und drückte ihr Gesicht für zwei, drei Sekunden in den Schlamm, ehe er sie losließ. Die Errish riß den Kopf in die Höhe und rang keuchend nach Atem. Gleichzeitig versuchte sie mit den Händen sein Gesicht zu erreichen, um ihm die Augen auszukratzen. Ihre Kapuze verrutschte, und Skar grub die Hand in ihr langes, schwarzes Haar und drückte ihr Gesicht ein zweites Mal in den Morast. Und er ließ sie erst los, als ihre verzweifelte Gegenwehr schwächer wurde.

»Bist du jetzt vernünftig?« fragte er.

Die Errish hustete qualvoll und machte eine Bewegung, von der er wenigstens annahm, daß sie ein Nicken sein sollte. Skar ließ sie vollends los und richtete sich auf. Er sah ihre Bewegung einen Sekundenbruchteil zu spät. Ihre Faust schoß vor, traf seinen linken Rippenbogen und brach ihn.

Skar brüllte vor Schmerz, brach abermals in die Knie und riß die Errish noch im Fallen mit und begrub sie halb unter sich. Sie wehrte sich mit aller Kraft und schrie vor Zorn und Angst, aber Skar ließ ihr keine Chance mehr. Seine Hand glitt an ihrem Nacken empor, suchte eine bestimmte Stelle und drückte kurz und hart zu. Ein krampfhaftes Zucken lief durch den Körper der Errish, dann erschlaffte sie.

Sekundenlang blieb Skar mit geschlossenen Augen einfach über ihr liegen. Seine – zum zweiten Mal innerhalb kurzer Zeit! – gebrochene Rippe schmerzte höllisch, und jedes Luftholen tat so weh, als versuche er gemahlenes Glas einzuatmen. Mit aller Macht kämpfte er den Schmerz nieder, stemmte sich in eine halb sitzende Position hoch und preßte die Hand auf die pochende Rippe. Die Verletzung war nicht lebensgefährlich; nicht einmal besonders schlimm, aber sie tat doppelt weh, als Skar die Augen öffnete und auf den schmalen Mädchenkörper vor sich herabstarrte. Verdammt, wer war er, daß er sich von einem Kind halb tot schlagen ließ?

Mühsam arbeitete er sich in die Höhe, schob die Hände unter die Achselhöhlen der Bewußtlosen und schleifte sie stöhnend zu dem Felsen zurück, auf dem sie gesessen hatte, als er sie entdeckte. Sie würde für mindestens eine Stunde bewußtlos sein, vielleicht länger, und er wollte nicht, daß sie im Morast ertrank. Sorgfältig überzeugte er sich davon, daß sie nicht von dem Felsen herunterrutschen konnte, falls sie sich im Schlaf bewegen sollte, dann richtete er sich auf und blickte wieder nach Süden.

Das Lichtgewitter und Schreien auf der anderen Seite der Felsen hielt an. Das wütende Brüllen von Quorrl drang durch den Regen zu ihm, das Klirren aufeinanderprallender Schwerter, aber auch immer wieder die peitschenden Entladungen der Scanner und das Knurren von mindestens einem Drachen.

Skar rannte los.

Als er zusammen mit Kiina nach Elay aufgebrochen war, war ihm der Weg nicht sehr weit vorgekommen. Jetzt erschien er ihm endlos. Skar rannte, so schnell es in der fast undurchdringlichen Dunkelheit überhaupt möglich war. Der Felsgrat, hinter dem Titchs Lagerplatz war, tauchte in fast regelmäßigen Abständen als scharf abgegrenzter schwarzer Schattenriß aus der Nacht auf, aus der Dunkelheit herausgestanzt vom grellen Widerschein der Scannerschüsse, deren Peitschen jetzt immer lauter und schneller erklang, und einmal glaubte er einen Schatten neben sich durch den Regen taumeln zu sehen, war aber zu schnell vorbei, um sicher zu sein.

Er erreichte die Felsen und begann wie besessen zu klettern. Zehn, fünfzehn Fuß, höher war die Wand nicht; aber sie stieg fast senkrecht auf, und der Regen hatte den Stein glitschig werden lassen, so daß er immer wieder den Halt zu verlieren drohte und nur mit äußerster Vorsicht klettern konnte. Als er den Grat der schmalen Felsbarriere erreichte, war er völlig erschöpft. Seine Finger bluteten, und seine gebrochene Rippe schickte weißglühende Pfeile aus Schmerz in seinen Brustkorb und machte es ihm fast unmöglich, zu atmen.

Details

Seiten
Erscheinungsform
Neuausgabe
Jahr
2015
ISBN (eBook)
9783958244597
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2015 (November)
Schlagworte
eBook Fantasy Abenteur Action Dystopie Kultroman Helden
Zurück

Titel: Enwor - Band 8: Der flüsternde Turm
book preview page numper 1
book preview page numper 2
book preview page numper 3
book preview page numper 4
book preview page numper 5
book preview page numper 6
book preview page numper 7
book preview page numper 8
book preview page numper 9
book preview page numper 10
book preview page numper 11
book preview page numper 12
book preview page numper 13
book preview page numper 14
book preview page numper 15
book preview page numper 16
book preview page numper 17
book preview page numper 18
book preview page numper 19
book preview page numper 20
book preview page numper 21
book preview page numper 22
book preview page numper 23
book preview page numper 24
book preview page numper 25
book preview page numper 26
book preview page numper 27
book preview page numper 28
book preview page numper 29
book preview page numper 30
book preview page numper 31
book preview page numper 32
book preview page numper 33
book preview page numper 34
book preview page numper 35
book preview page numper 36
book preview page numper 37
book preview page numper 38
book preview page numper 39
book preview page numper 40
book preview page numper 41
315 Seiten