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Die Toten von Berlin

Zwei Thriller in einem eBook: »Das erste Opfer« und »Das Todesnetz«

©2022 1196 Seiten

Zusammenfassung

In den Abgründen der menschlichen Seele: Der Thriller-Sammelband »Die Toten von Berlin« von Claus Cornelius Fischer jetzt als eBook bei dotbooks.

Wenn es Nacht wird, beginnt für Ella Bach die Arbeit: Die Ärztin ist zur Stelle, wenn ein Rettungswagen gerufen wird – und weiß darum nur zu gut, was Menschen sich und anderen antun können. Doch nun wird sie an Tatorte gerufen, die selbst ihr die Sprache rauben: In einem teuren Appartement liegt eine von Glassplittern durchbohrte Frau in ihrem eigenen Blut, und in einer U-Bahn-Station hat ein Selbstmordattentäter viele Unschuldige mit in den Tod gerissen. Aber was steckt hinter diesen Verbrechen? Ella will verstehen, wer zu solchen Grausamkeiten fähig ist – und gerät dabei selbst in größte Gefahr, als die Spuren sie weit über die Grenzen Berlins hinausführen: zu dunklen Schattenspielern, für die ein Leben keinen Wert mehr hat …

Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der Sammelband »Die Toten von Berlin« mit den Thrillern »Das erste Opfer« und »Das Todesnetz« von Claus Cornelius Fischer. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Über dieses Buch:

Wenn es Nacht wird, beginnt für Ella Bach die Arbeit: Die Ärztin ist zur Stelle, wenn ein Rettungswagen gerufen wird – und weiß darum nur zu gut, was Menschen sich und anderen antun können. Doch nun wird sie an Tatorte gerufen, die selbst ihr die Sprache rauben: In einem teuren Appartement liegt eine von Glassplittern durchbohrte Frau in ihrem eigenen Blut, und in einer U-Bahn-Station hat ein Selbstmordattentäter viele Unschuldige mit in den Tod gerissen. Aber was steckt hinter diesen Verbrechen? Ella will verstehen, wer zu solchen Grausamkeiten fähig ist – und gerät dabei selbst in größte Gefahr, als die Spuren sie weit über die Grenzen Berlins hinausführen: zu dunklen Schattenspielern, für die ein Leben keinen Wert mehr hat …

Über den Autor:

Claus Cornelius Fischer (1951–2020), arbeitete als Journalist unter anderem für DIE ZEIT und DIE WELT und als Übersetzer – vor allem aber als erfolgreicher Autor von Romanen, Krimis und Thrillern.

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eBook-Sammelband-Originalausgabe April 2022

Die Originalausgabe von »Das erste Opfer« erschien 2011 unter dem Titel »Erlösung« bei Blessing. Copyright © der Originalausgabe 2011 by Karl Blessing Verlag GmbH, München; Copyright © der Neuausgabe 2019 dotbooks GmbH, München

Die Originalausgabe von »Das Todesnetz« erschien 2013 unter dem Titel »Nukleus« bei Blessing. Copyright © der Originalausgabe 2013 by Karl Blessing Verlag, München in der Verlagsgruppe Random House GmbH; Copyright © der Neuausgabe 2020 dotbooks GmbH, München

Copyright © der Sammelband-Originalausgabe 2022 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Wildes Blut – Atelier für Gestaltung Stephanie Weischer unter Verwendung mehrerer Bildmotive von © shutterstock

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (ts)

ISBN 978-3-96655-772-6

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Claus Cornelius Fischer

Die Toten von Berlin

Zwei Thriller in einem eBook

dotbooks.

DAS ERSTE OPFER

Es ist ein Bild des Schreckens, das sich der Berliner Notärztin Ella Bach bei einem nächtlichen Einsatz bietet: eine Frau liegt brutal verletzt inmitten von Glassplittern und Blut. Im letzten Moment gelingt es Ella, sie ins Krankenhaus zu bringen … doch von dort verschwindet die Unbekannte spurlos. Und nicht nur das: Am nächsten Tag wird der Fahrer des Krankenwagens ermordet aufgefunden. Irgendjemand versucht, die Spuren der Blutnacht zu verwischen – und schreckt vor nichts zurück! Als auch die Polizei beginnt, systematisch Jagd auf Ella zu machen, weiß sie, dass es nur eine Chance gibt, um zu überleben: Sie muss den Spuren des Opfers folgen. Ihre atemlose Suche nach der Wahrheit führt sie schließlich nach Frankreich … und mitten hinein in ein Wespennest aus wirtschaftlichem Kalkül und eiskalter Politik.

»Ein packender Thriller, der seine Leser in einen Strudel aus Korruption, Intrigen und Mord zieht. Eine Geschichte, die großflächig für Gänsehaut sorgt.« MDR

Kapitel 1

Die Leitstelle meldete sich um 02:47, gerade als Max fand, dass es Zeit für einen Kaffee wäre. »Blitz für NAW 4305 von Florian Berlin, bitte kommen!« Die Funkleitung knackte und rauschte. »NAW 4305, meldet euch!« Ella hatte das Fenster heruntergekurbelt, um die frische Nachtluft in den Wagen zu lassen. Jetzt drückte sie die Sprechtaste und sagte: »Hier NAW 4305.«

»Wo seid ihr gerade?«

»Luisenstraße, auf Höhe der S-Bahn-Überführung. Was gibt's?«

»Starke Blutung in Kreuzberg«, sagte der Disponent in der Feuerwache durch das knisternde Rauschen. »Vielleicht Schock. Ihr seid am nächsten dran.«

»Adresse?«, fragte Ella.

»Benno-Ohnesorg-Straße 7, Ecke Möckernstraße, oberster Stock. Eine Frau.«

Auf dem Navidisplay am Armaturenbrett erschien die Route vom Standort des Rettungswagens zum Ziel.

»Weitere Angaben?«, fragte Ella, und auf einmal brauchte sie keinen Kaffee mehr.

»Keine weiteren Angaben.«

»Ist jemand bei der Frau?«

»Unbekannt.«

»Wer hat uns gerufen?«

»Ein Mann. Anonym. Er hat nur gesagt, gegenüber stirbt eine Frau. Mehr war nicht, dann hat er aufgelegt.«

Max, der Rettungsassistent, schaltete das Blaulicht des NAW ein, warf einen Blick in den Außenspiegel und sagte: »Schnall dich an, Bambi!« Ella legte den Sicherheitsgurt um. Der Daimler Sprinter schoss mit einem Satz vorwärts, beschleunigte schnell auf siebzig, dann auf neunzig. Die Straße war leer, die Fahrbahn schien ihnen entgegenzufliegen. Der warme Asphalt schimmerte silbergrau im Licht der Straßenlampen. Windböen von der Spree trieben Papier und Staubwirbel durch die Scheinwerferkegel, aber als der Wagen über die Marschallbrücke raste, lag das Wasser ganz ruhig im Mondlicht. Der Fluss blieb zurück, gleich darauf glitt der Reichstag vorbei, die Glaskuppel schwach erleuchtet.

Hinter der mit blauem Neon protzenden ARD-Sendezentrale sprang die Ampel auf Rot, und jetzt schaltete Max auch die Sirene an. Bevor er in die Kreuzung einfuhr, trat er kurz auf die Bremse, beugte sich vor, kein Verkehr von rechts oder links, sodass er wieder Vollgas geben konnte. »Zwei Minuten«, sagte er.

Vor ihnen lag Unter den Linden zwischen grünen Bäumen, Lichterketten, Neon und Schaufensterglanz. Auf der anderen Seite die angestrahlte Fassade des Hotel Adlon, daneben Polizisten mit Maschinenpistolen, die vor der Britischen Botschaft Wache standen. Über den weißen Säulen des Brandenburger Tors der Mond mit einem hellen Hof im tiefen Sommernachtblau.

Max drosselte das Tempo nicht, fuhr geradewegs auf die mit roten Leuchtstreifen gekennzeichneten Eisenpoller zu. »Bremsen!«, rief Ella, aber er dachte nicht daran, und in letzter Sekunde versenkten die Polizisten die beweglichen Eisenpoller im Straßenbelag, gaben die Durchfahrt in die Wilhelmstraße frei.

Ella spürte, wie der scharfe Klang der Sirene über ihrem Kopf auf ihr Zwerchfell drückte. »Drei Minuten«, sagte Max. Ein Doppeldeckerbus, leer bis auf den Fahrer, hielt am Rinnstein, damit sie vorbeikonnten, jetzt noch schneller, hundert, hundertzwanzig unter den blassen, windgeschüttelten Lampen, und die ganze Zeit dachte Ella an die verletzte Frau und dass sie vielleicht zu spät kamen; dass sie gerade starb. Das war ihre größte Angst, zu spät zu kommen, nichts mehr für die Frau oder den Mann oder das Kind tun zu können, zu dem sie gerufen wurden. Sie spürte, wie auch ihr Puls nach oben schoss, auf hundertvierzig, hundertsechzig. Das Blut schien durch ihre Adern zu rasen, schnell und heiß an den Handgelenken, den Schläfen.

Die Kreuzung Leipziger Straße tauchte auf, verwaist und groß wie ein Tennisplatz aus Asphalt, behütet von roten Ampeln im Schatten des Finanzministeriums, früher die Treuhand, und niemand von rechts, niemand von links, nur die schimmernden Hochhäuser des Potsdamer Platzes, und hinter der Kreuzung wieder einsame, breite Fahrbahnen, leer bis auf eine schwarze Luxus-Limousine mit getönten Scheiben und arabischem Nummernschild.

Ella hielt sich am Türgriff fest. Ihr rechter Fuß trat die Fußmatte gegen den Boden, bis die Zehen schmerzten, gib Gas, dachte sie, gib Gas, weg da, Araber, weg da, Taxi, Ampel, werd grün! Plötzlich scherte ein Skoda aus einer Reihe geparkter Fahrzeuge, ohne auf Blaulicht oder Sirene zu achten.

Max drückte auf die Lichthupe und versuchte auszuweichen. Der Sprinter geriet aus der Spur, aber Max steuerte gegen, und der Skoda bremste, und jetzt prallte der Sprinter mit dem rechten Vorderreifen an den Bordstein, schrammte daran entlang und wurde auf die Fahrbahn zurückgeschleudert. Max kuppelte, schaltete und brachte ihn wieder auf Kurs. Mit kreischenden Reifen schoss der Wagen in eine Biegung, auch diesmal behielt Max die Kontrolle über das Fahrzeug und jagte es dicht an der nächsten Kolonne parkender Autos entlang. Ella beugte sich vor, über das Armaturenbrett, als könnte sie den Sprinter so noch schneller machen. Sie starrte auf das Navidisplay, das ihr die ganze Route anzeigte, der Wagen ein roter Punkt, der sich ruckend vorwärtsbewegte, noch ein Stück die Wilhelmstraße entlang, über den Landwehrkanal, dann weiter den Mehringdamm hoch, bis rechts die Yorckstraße kam und gleich wieder links die Möckernstraße.

»Vier Minuten«, sagte Max. Er war nie aufgeregt, nicht äußerlich. Gelassen saß er hinter dem Lenkrad in seinem hellblauen, kurzärmeligen Hemd, kaute Kaugummi und blickte starr nach vorn, ganz selten zur Seite, höchstens mal kurz in den Außenspiegel, außer wenn er in eine Kreuzung einfuhr. Seine Bewegungen waren sparsam, er lenkte, kuppelte, schaltete, gab Gas oder bremste so beiläufig, als säßen sie in einem Autoscooter. Seine Beine in der feuerwehrblauen Hose mit den reflektierenden Streifen schienen Impulsen zu gehorchen, die vom Wagen ausgingen, nicht von ihm. Ella war immer froh, wenn er die Schicht mit ihr teilte. Er war ein guter Rettungsassistent, und er war ein guter Freund, und zwischendurch war er eine Zeit lang ein guter Liebhaber gewesen. Außerdem stand ihm Blau besser als ihr, besonders im Sommer.

»Warum ruft jemand anonym die Rettung an?«, fragte Ella. »Warum meldet ein Mann eine sterbende Frau, ohne die Hausnummer zu nennen, wo wir die Frau finden können? Warum sagt er, oberste Wohnung, und nicht, in welchem Haus? Was bedeutet ›Sie stirbt‹? Das kann alles bedeuten. Und wenn er nicht bei ihr ist, woher weiß er dann, dass die Frau stirbt?«

»Vielleicht hat er sie durchs Fenster gesehen«, sagte Max. Sein Gesicht leuchtete auf und erlosch im Widerschein der Peitschenlampen, leuchtete und erlosch, ein Flackern in Zeitlupe.

Ella schwieg, versuchte sich die Situation vorzustellen, die sie vorfinden könnten. Dann fragte sie: »Hast du den Koffer aufgefüllt?«

Eigentlich eine überflüssige Frage. Das war das Erste, was sie taten, wenn sie einen Patienten abgeliefert hatten: Sie ersetzten die verbrauchten Medikamente, die benutzten Spritzen und geleerten Ampullen. Sie tauschten halb leere Sauerstoffflaschen gegen frische aus und überprüften die Batterien des Monitor-Defibrillator-Systems.

»Vielleicht habe ich den Wodka vergessen«, sagte Max. »Wir haben aber Wein und Bier, Eis ist in der Kühlbox. Ich musste den Defi und den Sauerstoff rauswerfen, damit noch etwas kaltes Huhn reinging.«

»Jetzt weiß ich wieder, warum ich dich mal geliebt habe.«

»Warum hast du aufgehört, mich zu lieben?«

Sie antwortete nicht, sah ihn nur an und dachte, warum hört man auf jemanden zu lieben?

Rechts huschte eine beleuchtete Kebabbude vorbei, im Fenster drehte sich ein Dönerspieß. »Hast du Hunger?«, fragte Max. »Ich habe Hunger.« Nach einer Minute ein Imbiss – Halbes Hähnchen, Fritten und Cola 2,60 Euro, unschlagbar – und ein 24-Stunden-Kiosk. »Ich komme um vor Hunger!« Max raste auf die Kreuzung zu, ohne vom Gas zu gehen, trotz roter Ampel. »Achtung, rechts!«, rief Ella, denn auf der Anhalter Straße näherte sich ein Taxi. Der Wagen fuhr schnell, bremste aber in letzter Sekunde, denn Max bremste nicht. Eine schwarz verschleierte Frau mit einem Fahrrad voller Tüten blieb gerade noch rechtzeitig am Bordstein stehen, und Max sagte: »Was hat die denn jetzt noch hier zu suchen?!«; und Ella rief: »Pass auf!«, denn der Wagen geriet wieder mit zwei Rädern auf den Bürgersteig, rammte beinahe eine Litfaßsäule, aber nur beinahe, und jetzt war die Straße frei, fast bis zur S-Bahn-Überführung. »Fünf Minuten«, verkündete Max und sah Ella zum ersten Mal an, seit sie losgefahren waren. »Wo wir gerade von Liebe reden: Ich bin Silvan begegnet, auf dem Gang vor der Kardiologie. Er sah aus, als würde er am offenen Herzen operiert, live vor meinen Augen und bei vollem Bewusstsein.«

»Ich habe ihn vor die Tür gesetzt«, sagte Ella.

»Und er ist tatsächlich gegangen?«

»Nein. Deswegen habe ich seine Sachen gepackt und an seiner Stelle rausgeschmissen.«

»Wenn du willst, kannst du bei mir bleiben, bis ihr alles geklärt habt«, sagte Max.

»Es ist schon alles geklärt.« Der Sprinter raste auf die Mehringbrücke zu und gerade, als er die sechsspurige Brücke über den Landwehrkanal erreichte, schaltete die Ampel die Hallesche Straße für den Gegenverkehr frei. Die Sirene reichte Max nicht mehr, er drückte auch noch auf die Hupe, hupte und schaltete, niemand rechts, niemand links, und dann waren sie auf der Brücke, und vor dem nachtblauen Himmel über ihnen ratterten die gelb leuchtenden Fenster eines S-Bahn-Zugs von Stahlträger zu Stahlträger.

»Sechs Minuten«, sagte Max. »Diesmal schaffen wir es nicht unter acht.«

Hinter dem Kanal fing es auf einmal an zu regnen, ein dichter Sommerregen, schwere Tropfen, silberne Lamettafäden, die hart auf den warmen Asphalt schlugen und zu kleinen Fontänen zerplatzten. Die Scheibenwischer klappten hin und her, schabten zwei Halbkreise auf die Windschutzscheibe, um die herum die Nacht in schimmernden Bächen zerlief.

Auf einem kleinen Asphaltplatz rechts vor einem Club neben dem Tanz Palast stand ein Pulk Raver am Rinnstein, feierte eine Freiluftparty, in den Händen Red Bull-Dosen, Handys und brennende Zigaretten. Etwas weiter lärmte ein halbes Dutzend junger Türken oder Araber in weißen Trainingsanzügen, taten so, als gehörte der Bürgersteig ihnen. Unter dem Vordach eines Biomarktes lungerte eine Horde Punker, Bierflaschen zwischen den Füßen, bunte Frisuren, Lederjacken, alle betrunken, nur die Hunde nicht.

Eine Ampel blitzte vorbei, noch mehr Lichter, die Ecke Yorckstraße, ein Imbiss, Tag-und-Nacht-Betrieb, hungrige Streuner am Straßenrand. »Festhalten!« Max riss das Steuer nach rechts, mitten auf der Fahrbahn, die Reifen jaulten, schmierten Gummi auf den Asphalt. Der Wagen neigte sich, schien zu kippen und kippte doch nicht. Max gab wieder Gas, schlug das Lenkrad leicht nach links ein, jagte den Wagen über einen Riss in der Straße, und der Sprinter hob ab, schoss durch die Luft, ein paar Millisekunden Zauberteppich auf Speed, dann die Landung und noch einmal links rein und runter vom Gas, mehrmals kurz bremsen, endlich rechts die Benno-Ohnesorg-Straße. »Sieben Minuten.«

Es war eine schmale Straße, gesäumt von ein paar Bäumen, einem Gewerbehof und ein paar kleinen Läden in einer Häuserzeile aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg. Die Bäume waren dicht belaubt, und die Blätter schimmerten nach dem Regen, der genauso plötzlich wieder aufgehört hatte. Die nasse Fahrbahn dampfte im Licht der Scheinwerfer. Die Wischer quietschten auf der schnell trocknenden Scheibe, und Max stellte sie ab.

Das Flackern der Blaulichtleiste auf dem Dach huschte über die Gebäudefassaden und die Straße. Max schaltete auch das Martinshorn aus. Langsam steuerte er den Sprinter die Straße hinauf, an den rechts und links geparkten Fahrzeugen entlang. Der rote Punkt auf dem Display des Navis blieb stehen. »Da vorn muss es sein, das vierte Haus«, sagte Ella, und jetzt konnte sie ihren rasenden Herzschlag in ihrer Stimme vibrieren hören. »Das mit dem Gerüst.«

»Ich kann kein Licht sehen«, sagte Max.

Auf der anderen Straßenseite lag ein Park, die schwarzen Kronen der Bäume rauschten im Wind. Die Bürgersteige waren verwaist. Die Laternen spendeten nur wenig Helligkeit, und die Fenster der Häuser waren dunkel. Max hielt vor dem Haus mit dem Gerüst und schaltete zusätzlich zum Blaulicht noch die Warnblinkanlage ein.

»Hoffentlich macht einer auf«, sagte er. »Wo bleibt die Feuerwehr?«

»Ist wahrscheinlich jeden Moment da«, sagte Ella. »Wir gehen schon mal rauf.«

Sie stöpselte den Ohrhörer ein, stieß die Tür auf und sprang aus dem Wagen. Sie griff nach dem tragbaren Defibrillator, Max nahm den großen Notfallkoffer. »Bestimmt gibt es wieder keinen Fahrstuhl«, sagte er. »Es gibt nie einen Fahrstuhl, wenn wir in den obersten Stock müssen.«

Aus einem der Hinterhöfe drang Partylärm, Musik und Gelächter. Die nassen Plastikplanen, die das Haus verhüllten, schlugen knatternd gegen das Gerüstgestänge. Ella lief zur Eingangstür und drückte gegen den Türknopf. Die Tür gab nicht nach. Ella sah an der verhüllten Fassade hoch; nirgendwo im Haus brannte Licht. Unter dem Gerüst war die Dunkelheit so dicht, dass sie die Klingelknöpfe nicht sehen konnte. Sie holte eine Stablampe aus ihrer Jackentasche und richtete den Leuchtstrahl auf das Schloss, dann auf die Klingeltafel neben der Tür. Fünf Stockwerke mit je zwei Klingeln, nur eine für die oberste Etage, einige Namensschilder fehlten. Eine Gegensprechanlage gab es nicht. Die Hausnummer war unleserlich, verschwunden unter weißer Malerfarbe.

Ella drückte erst den obersten Klingelknopf und dann alle anderen so lange, bis der Türöffner schnarrte. Sie lehnte sich gegen die massive Holztür. Ein kühler, feuchter Hauch schlug ihr entgegen, vermischt mit der Ausdünstung von Farbe. Sie stieg über die Schwelle und rief: »Rettungsdienst!«

Im Treppenhaus suchte sie den Lichtschalter mit dem Strahl ihrer Lampe. Es war ein alter schwarzer Drehknopf, und als sie ihn betätigte, ging weit oben eine Behelfslampe in einem Drahtkorb an, die einen kaum sichtbaren Lichtschimmer in den Stiegenschacht warf. Noch einmal rief sie: »Hallo?! Hat hier jemand den Notarzt gerufen?!« Ihre Stimme hallte im Treppenhaus. Auch diesmal gab es keine Antwort, nur das Geräusch einer Tür, die geöffnet und gleich wieder geschlossen wurde.

»Also los«, sagte Max und lief schnell voran, die schmale Treppe hinauf. Seine weißen Turnschuhe und die reflektierenden Streifen an den Hosenbeinen schimmerten silbrig. Auf den Holzstufen lag Bauschutt, ein Presslufthammer. Stromkabel schlängelten sich über Teerpappe. Ella versuchte mit Max Schritt zu halten, in der einen Hand den schweren Defi, in der anderen die Lampe. Sie hörte ein Krachen über sich, dann einen unterdrückten Fluch, gefolgt von einem Stöhnen. »Verdammter Mist! Bambi?«

»Was ist?«

»Ich glaube, ich hab' mir den Knöchel verstaucht!«

Sie erreichte den Absatz auf dem zweiten Stock, richtete die Lampe auf Max, auf sein schmerzverzerrtes Gesicht. »Das Scheißding lag unter der Pappe!« Er betastete sein linkes Fußgelenk, das bereits anzuschwellen begann. Daneben ragte ein Schraubenzieher ein Stück unter einem Streifen Teerpappe hervor. »Mach schon, warte nicht auf mich!«

»Bist du sicher?«

»Klar, ich komme gleich nach.«

»Nein, ruf lieber Hilfe. Sorg dafür, dass sie noch einen Notarztwagen oder ein Einsatzfahrzeug schicken.«

Ella nahm die Stablampe in den Mund, hielt sie mit den Zähnen. Sie griff nach dem Notfallkoffer und stieg weiter die Treppe hinauf, folgte dem Lichtstrahl über die Stufen, ließ sich vom Adrenalin nach oben tragen. Sie erreichte die oberste Etage, auf der es nur eine Tür gab, mit gehämmertem Aluminium beschlagen, kein Namensschild, keine Klinke über dem Schloss, aber ein Klingelknopf. Einen Moment lang war ihr schwindlig, und sie spürte einen stechenden Druck hinter den Augen.

Sie stellte Koffer und Defibrillator ab und nahm die Taschenlampe aus dem Mund. Sie klingelte. Sie konnte die Klingel nicht hören. »Hallo?! Können Sie aufmachen?! Rettungsdienst!« Sie schlug mit der Faust gegen die Tür und klingelte noch einmal, und wieder geschah nichts. »Brauchen Sie da drinnen einen Notarzt?«

Weit unten auf der Treppe hörte sie Max stöhnen. Gleich darauf erklang ein Scharren, als versuchte er, sich die Stufen hochzuziehen. Guter Max, gab niemals auf, ein Assistent, auf den man sich verlassen konnte. Warum musste er sich ausgerechnet jetzt den Knöchel verstauchen? Verdammt, wie soll ich in die Wohnung kommen ohne Feuerwehr? Was ist, wenn die Patientin stirbt, weil wir nicht rechtzeitig

Plötzlich ertönte ein Schrei. Es war ein lang gezogener Schrei von jenseits der Tür. Noch nie hatte Ella jemanden so schreien hören, keine Frau, keinen Mann, überhaupt kein lebendes Wesen. Mein Gott, was ist das?! Gerade als sie glaubte, der Schrei werde niemals enden, verstummte er abrupt, und da war nur noch Stille.

»Max?«, sagte Ella leise, den Mund dicht am Schultermikro des Sprechfunks, »hörst du mich? Hast du die Feuerwehr erreicht?«

Es knisterte in ihrem Ohrstöpsel, aber Max antwortete nicht. Vielleicht ist sein Mikro bei dem Sturz kaputtgegangen, vielleicht kann er mich hören, nur nicht antworten.

»Max, hier stimmt was nicht. Kannst du mich hören?«

Noch immer keine Antwort, nur das tote Knistern.

Kapitel 2

Ella kniete nieder, nahm die Lampe wieder zwischen die Zähne und öffnete den Notfallkoffer. Hoffentlich war die Tür nicht abgesperrt. Sie leuchtete in die Tasche, suchte das Aqua Gel. Sie öffnete eine Ampulle und spritzte das Gleitmittel in das Schloss und zwischen Türfüllung und Rahmen, dorthin, wo sie die Eisenzunge vermutete. Sie nahm eins der einzeln verpackten Einmalskalpelle aus der sterilen Verpackung und schob die Klinge in den Spalt, in den sie das Gel gespritzt hatte, bis sie Widerstand spürte.

Langsam gab die Eisenzunge nach, erst nur zäh, aber als das Gel darüberglitt, ging es leichter. Ella stemmte sich mit der Schulter gegen die Tür, setzte ihr ganzes Körpergewicht ein. Das Schloss hakte einen Moment, dann löste sich eine Sperre, und die Eisentür schwang nach innen, ohne dass Licht herausfiel. Ein warmer Luftzug strich ihr über das Gesicht, und plötzlich zog sich ihre Kopfhaut zusammen. Ella ließ das Skalpell fallen.

Was ist das für ein Geruch?

Sie nahm die Lampe wieder aus dem Mund, schloss den Notfallkoffer und hob ihn auf. »Rettungsdienst!« Sie hinderte die Tür mit der Schulter am Zufallen, richtete den Strahl der Taschenlampe auf den Boden vor sich und trat über die Schwelle in die Dunkelheit dahinter. »Hallo?!«

Der Lichtkegel geisterte über schwarz gebeizte Holzbohlen, durch einen weitläufigen Flur, an hellgrau gestrichenen Wänden hinauf, erfasste ein gerahmtes Gemälde, Pastellfarben, und glitt wieder hinunter. Ein Schleier winziger roter Punkte, wie mit einer Sprühpistole aufgetragen, zog sich über eine der Wände.

Was ist das bloß für ein scheußlicher Geruch?

»Max? Wenn du mich hören kannst, ich brauche Hilfe hier oben!«

Sie suchte nach einem Lichtschalter und drückte ihn. Es blieb dunkel. Vorsichtig ging sie weiter, tiefer in die Wohnung hinein. Der Strahl der Lampe huschte über die besprühten Wände, über wertvoll aussehende Möbel und Teppiche, alle mit roten Punkten übersät. Ella achtete nicht darauf, wohin sie trat, und auf einmal spürte sie, wie die Sohle ihres rechten Turnschuhs den Halt verlor. Sie rutschte aus, fing sich aber, bevor sie stürzen konnte.

Sie richtete den Strahl wieder auf den Boden. Glassplitter blinkten, als hätte jemand die Lampen zerschlagen. Glänzende Wasserlachen bedeckten die Ebenholzbohlen. Etwas weiter in den Salon hinein wurden sie rot, und da begriff Ella; endlich begriff sie, dass es gar keine rote Farbe war überall vor ihr in der Wohnung.

Genau in diesem Moment hörte sie ein unheimliches Wimmern. Langsam ging sie weiter. Sie richtete den Strahl der Taschenlampe erst auf die Glassplitter in den Blutlachen auf dem Boden und dann auf ein rot glitzerndes Bündel in der Mitte des großen Raums gleich vor ihr, aus dem das Wimmern zu dringen schien.

Kehr um! Warte auf Hilfe!

Ihre Schuhe quietschten auf dem nassen Boden. Mit jedem Schritt sah sie mehr von dem Raum und dem wimmernden Bündel, und erst als sie schon ganz nah war, erkannte sie, dass es sich bei dem Bündel um einen Menschen handelte. Er oder sie lag auf dem Rücken, und dort, wo die Brust sein musste, die nackte Brust, hob und senkte sich etwas in unregelmäßigen Abständen. Die Arme und Beine zitterten, und das entstellte, blutüberströmte Gesicht wandte sich nun fast bedächtig Ella und dem Licht zu.

O Gott, dachte Ella. O Gott. Etwas Fürchterliches war mit diesem Gesicht geschehen. Ich bin Ärztin, sagte sie. Dann sagte sie es noch einmal, »Ich bin Ärztin«, denn beim ersten Mal war kein Ton herausgekommen. »Ich bin hier, um Ihnen zu helfen.« Sie stellte Defi und Koffer ab und beugte sich über die wimmernde Frau – es ist doch eine Frau, sie haben gesagt, dass es eine Frau ist–, und dabei versuchte sie, sich nichts anmerken zu lassen. Sie sah die Hand mit den fehlenden Fingernägeln in der Blutlache, in der die Frau lag, und sie sah die Wunden, die nackte, in Streifen geschnittene Haut, und sie versuchte immer noch, sich nichts anmerken zu lassen.

»Wie ist das passiert?«, fragte sie. In ihrem Verstand formte sich ein Bild, das sie sofort wieder verdrängte. »Können Sie sprechen?«

Die Frau sah zu ihr auf und öffnete die entstellten Lippen, aber sie brachte nur ein Röcheln zustande, denn auch der ganze Mund war voller Blut. Trotzdem versuchte sie weiter, ihr etwas zu sagen, jetzt mit den Augen. Ella kniete sich hin, neben den Oberkörper der Frau. Sie öffnete den Koffer, holte ein Paar sterile Handschuhe heraus und streifte sie über. Behutsam drehte sie den Kopf der Verletzten auf die Seite, damit sie nicht erstickte.

Sie muss Unmengen von Blut verloren haben. Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll. Wo soll ich bloß anfangen?

Sie legte die Taschenlampe auf den Boden, wo sie sacht hin und her rollte. Sie tastete über der Halsschlagader der Frau nach einem Puls, der so schwach war, dass sie ihn kaum fühlen konnte, aber schnell, rasend schnell. Sie beugte sich über den Mund der Frau, und da bemerkte sie hinter ihrem Kopf die großen, glitzernden Glasscherben in dem schwankenden Lichtkegel und dazwischen seltsame, wimmelnde Bewegungen. Etwas zuckte, zappelte und hüpfte in der roten Nässe auf den Holzbohlen.

Fische.

Der ganze Boden war voll davon, kleine und große Zierfische in schimmernden Farben, Rot, Türkis, Hellblau, Gelb, Farben wie tropische Sonnenuntergänge mit irisierenden Schuppen, die leuchteten, erloschen und wieder aufleuchteten. Zitternde Körper mit starren, glimmenden Augen und breiten, nach Sauerstoff schnappenden Mäulern.

Ella hörte ein Knistern im Ohrstöpsel. Doch ehe sie antworten konnte, vernahm sie noch etwas anderes, ein Geräusch, das nicht von der verletzten Frau und auch nicht von den Fischen herrührte. Es klang, wie wenn jemand, der lange still gestanden hatte, sein Gewicht von einem Fuß auf den anderen verlagerte.

Die Atmung der verletzten Frau beschleunigte sich, das Zittern ihrer Beine wurde stärker. Sie versuchte den Kopf zu heben, nackte Panik in den Augen. »... est là«, flüsterte sie röchelnd, »... est là ...«

»Ich verstehe Sie nicht«, sagte Ella und beugte sich noch weiter vor, bis ihr Ohr fast die zerfetzten Lippen der Frau berührten.

»... ist noch da ... ist noch da ...«

»Was?«, fragte Ella.

»... ist noch da ...«

Ella spürte, wie die Atmosphäre in dem Zimmer sich veränderte. Ein eiskalter Fleck bildete sich zwischen ihren Schulterblättern. Auf einmal hörte sie Laute, die ihr vorher nicht aufgefallen waren. Zu dem leisen Klatschen der erstickenden Fische in dem ausgelaufenen Wasser und dem winselnden, röchelnden Atmen der blutenden Frau gesellte sich das flüsternde Ablaufen der letzten Regentropfen aus der Rinne draußen vor den Fenstern, der ferne Partylärm in einem der Hinterhöfe, das Rascheln der Plastikplanen an dem Gerüst, mit dem das Haus verkleidet war.

Aber das war nicht alles, es gab noch mehr, kein Geräusch, etwas, in einem der anderen Räume.

Wir sind nicht allein. Etwas ist in der Wohnung. Jemand.

Ella spürte das Kräftefeld eines menschlichen Wesens, das sich näherte. Gleichzeitig schälten sich mehr und mehr Einzelheiten aus der Dunkelheit: ein wuchtiger Schreibtisch, eine lederbezogene, dreiteilige Sitzgruppe, ein großer Flachbildfernseher an der Wand vor der Couch. Ein Kamin, ein deckenhohes Bücherregal, eine Stehlampe neben dem Gang, der tiefer in das offenbar weitläufige Penthouse führte. Die zersprungenen und verbogenen Trümmer eines Aquariums auf dem Boden vor dem Fenster. Halb zugezogene Vorhänge. Eine Stereoanlage auf einer Kommode unter dem Fernsehschirm. Bilder an den Wänden und noch mehr Bücher in Stapeln auf dem Boden. Das Fenster stand offen.

Plötzlich geschah etwas mit der Zeit, ein Teil von ihr verlangsamte sich, der Teil, in dem Ella sich befand. Während um sie herum alles weiter mit der üblichen Geschwindigkeit passierte, verlangsamte sich ihr eigenes Leben, ihr Herzschlag, ihr Atem, ihre Bewegungen, sogar ihre Gedanken.

Sie dachte, ich muss die Frau intubieren, wahrscheinlich ist die Sauerstoffsättigung schon unter 80, sie braucht Sauerstoff sonst erstickt sie.

Sie dachte, ich muss sie ans EKG anschließen, einen Zugang legen und ins Koma versetzen, ihr Kochsalz geben, sonst stirbt sie am Blutverlust.

Sie dachte, ich muss sie stabilisieren, ihren Kreislauf stützen, sonst erleidet sie einen Herzstillstand.

Sie dachte, ich muss ihr Morphium spritzen gegen die Schmerzen.

Aber vor allem dachte sie, er ist noch hier. Der Jemand, der das getan hat, ist noch hier, und er ist noch nicht fertig.

Sie hörte seine Schritte. Die Haut in ihrem Nacken kribbelte. Schweiß rann ihr über den Rücken, zwischen die Beine. Sie hörte, wie er näher kam; leise, langsam, kaum wahrnehmbar. Ein Rascheln von Stoff, das Knistern von Plastik. Gedämpftes Atmen, wieder ein Knacken, ein anderes diesmal, als versuchte jemand, eine Verspannung zu lösen, indem er den Kopf hin und her drehte.

Sie dachte, wir haben ihn gestört, bevor er fertig war. Er kann nicht zulassen, dass wir sie mitnehmen, dass wir sie retten, dass sie redet. Sie hat ihn erkannt.

Sie dachte, du bist keine Ärztin mehr. Du bist das nächste Opfer.

»Max!«, rief sie. Die beiden Zeitebenen verschmolzen wieder, und sie rief noch einmal: »Max, ich brauche dich hier!«, damit der Mann, der fast geräuschlos durch den dunklen Flur näher kam, wusste, dass sie nicht allein war. Sie griff nach der Lampe und leuchtete in den Flur, in dem sie das Rascheln gehört hatte. Der Lichtkegel glitt über die zappelnden Fische, verlor sich in der Finsternis. Unvermittelt schnappte die verletzte Frau mehrmals nach Luft, dann hörte sie auf zu atmen; sie zitterte auch nicht mehr.

Ella brauchte Hilfe, allein konnte sie die Frau nicht versorgen. Aber ich muss es versuchen, selbst wenn im Lehrbuch was anderes steht. Ich muss es wenigstens versuchen. Bloß wo sollte sie eine Vene finden, um die Injektionsnadel zu setzen? Die Frau hatte keine fühlbare Venenspannung mehr, weil es kaum noch Blut in ihrem Körper gab. Man musste erst ein Stauband anlegen, aber wo?

Es hat keinen Sinn, lauf weg! Lauf weg und warte auf Hilfe.

Nein, ich kann sie nicht alleinlassen.

Warum nicht, verdammt? Warum kannst du sie nicht einfach hier liegen lassen? Sie stirbt wahrscheinlich sowieso.

Nein.

Denk an das Kaninchen. Denk an den Habicht.

Wenn du jetzt wegläufst, wird der Habicht zurückkommen und seine Arbeit beenden.

Ella richtete den Strahl der Lampe auf das zerstörte Gesicht, sah nur Blut und aufgerissenes Fleisch und weite, lichtstarre Pupillen. Rasch tastete sie nach der Arteria carotis communis, suchte einen Puls und fand keinen mehr, nicht den geringsten. Alles stand still, Herz, Kreislauf, die Frau starb. Verdammt, ich verliere sie, ich brauche den Defi. Aber das Risiko war zu groß: Die Brust der Frau war nass, sie lag in einer Lache aus Blut und Wasser.

Ella nahm die Lampe zwischen die Zähne, richtete sich halb auf und stemmte sich mit beiden Händen auf die Brust der Frau, auf das zerschnittene Fleisch. Als sie auf den gebrochenen Rippen Halt gefunden hatte, drückte sie und ließ nach, drückte und ließ nach und drückte, drückte, drückte. Komm schon, atme, atme! Sie ließ die Augen nicht vom Gesicht der Frau, aber nichts geschah, die Augen blieben leblos, die Atmung setzte nicht wieder ein.

Sie hob beide Hände, verschränkte die Finger und schlug mit aller Kraft auf die Brust, keine Sorge mehr wegen der Rippen, sie ist ja schon tot. Der Körper der Frau hüpfte ein wenig, und als Ella noch einmal zuschlug, so heftig, wie sie konnte, hüpfte er wieder, und das war alles. Die Atmung blieb weg, der Puls kehrte nicht zurück.

Ella kauerte sich auf die Fersen, zog hastig den Koffer heran und holte eine Injektionsnadel und eine Phiole mit Noradrenalin heraus. Dazu brauchte sie die Taschenlampe nicht, das konnte sie blind, die Spritze auspacken, die Phiolenkappe abbrechen, die Spritze aufziehen, die Luft rausdrücken und die Nadel zwischen den Rippen ins Herz stoßen, um den Inhalt hineinzupumpen. Sie konnte spüren, wie der Herzmuskel zündete und ansprang; fast wurde ihr die Spritze aus der Hand geprellt.

Ein Ruck lief durch den Körper der Frau. Sie schnappte wieder nach Luft, verschluckte sich, und auf einen Schlag kehrte das Leben in ihre Augen zurück. Jählings schrie sie vor Schmerz. Ein endloser Schrei entrang sich ihrer Kehle. Sie schrie und hörte nicht wieder auf.

Ella fuhr entsetzt zurück, ihr Blick irrte Hilfe suchend durch den Raum. Da sah sie ihn. Dort, wo der Flur zu den hinteren Räumen begann, veränderte sich die Dunkelheit, schien sich zu verdichten, nahm Kanten und Konturen an, die Gestalt eines Mannes. Der Mann stand völlig bewegungslos da und starrte sie an. Wie ein Raubtier, dem der Wind ihre Witterung zugetragen hatte. Wie der Habicht.

Sein Gesicht blieb im Schatten, nur die Augen glänzten wie schwarzer Quarz, und noch etwas glänzte, etwas, das er in der Hand hielt. Ein Messer. Ella spürte, wie ihre Brust sich zusammenzog, alles in ihr erstarrte. Ihre Nerven, zu dünnen Saiten gespannt, rissen mit einem Schlag.

»Max«, schrie sie, »Max, Max, Max –«

»Wo bist du?« Das war er, das war Max, ächzend stemmte er die Tür zum Treppenhaus auf, Gott sei Dank, Gott sei Dank, und Ella rief: »Hier, hier, bin ich!« Sie suchte die Taschenlampe, packte sie und schwenkte sie hin und her, bevor sie den Strahl auf den Flur richtete, auf die Stelle, wo sie für Sekunden die Gestalt des Mannes gesehen hatte. Aber jetzt war die Stelle leer, und der Vorhang an dem Fenster zum Hinterhof schlug sacht hin und her. Das Gerüst vor dem Fenster erbebte unter hallenden Schritten, die schnell leiser wurden.

»Du meine Güte, was ist denn hier los«, sagte Max leise, während er sich humpelnd an der Korridorwand entlangtastete.

Ellas Stimme überschlug sich. »Die Patientin muss sofort ins Koma versetzt werden. Komm, hilf mir den Zugang zu legen, wir müssen eine Vene finden, die noch nicht schlappgemacht hat. Such die Medis raus, Kochsalz, Morphium. Ich schließe das EKG an. Sie braucht Sauerstoff, wir müssen intubieren. Sie war schon klinisch tot, ich habe sie zurückgeholt, aber wenn wir nicht –«

Max stützte sich mit einer Hand an der Wand ab. »Ach, du Scheiße ...« Er balancierte auf dem unversehrten Bein, drehte den Kopf und begann zu würgen. Er schluckte und schluckte.

Von der Tür her fiel ein weiterer Lichtstrahl in die Wohnung. Eine Männerstimme rief: »Hallo? Waren Sie das im Treppenhaus? Ich habe Ihnen aufgemacht, zwoter Stock! Brauchen Sie Hilfe?«

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
2022
ISBN (eBook)
9783966557726
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2022 (April)
Schlagworte
Spannung Terror Thriller Krimi Berlin Frankreich London Robert Ludlum Stieg Larsson eBooks Neuerscheinung
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Titel: Die Toten von Berlin