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Marco Polo - Der Besessene

Historischer Roman | Die Geschichte des berühmten Abenteurers – zu seinem 700. Todestag neu erzählt

von Gary Jennings (Autor:in) Werner Peterich (Übersetzung)
©2023 1691 Seiten

Zusammenfassung

In 20 Jahren um die Welt: Der historische Roman »Marco Polo – Der Besessene« von Gary Jennings jetzt als eBook bei dotbooks.

Er war der größte Abenteurer seiner Zeit – nun erzählt er an seinem Lebensende eine Geschichte, die niemand glauben will … Als Marco Polo mit gerade einmal 17 Jahren in See sticht, ahnt der junge Händler noch nicht, dass er eine Reise angetreten hat, die sein Leben für immer verändern soll: Ein Abenteuer, das ihn von den herrschaftlichen Palästen Venedigs, entlang der berühmten Seidenstraße, bis vor die Tore Pekings und an den prunkvollen Hof des Kublai Khan führen soll. In dieser Welt voll fremder Gefahren und betörender Verlockungen wird Marco zum Liebhaber, Krieger, Steuereintreiber und sogar Spion – und bleibt im Herzen doch immer ein rastloser Wanderer. Denn wer erst einmal die Tore zu fremden Ländern aufgestoßen hat, ist bald besessen davon, die ganze Welt zu sehen!

»Ein Klassiker, den man nicht verpassen darf.« Newsweek

Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der Abenteuerroman »Marco Polo – Der Besessene« von Gary Jennings wird alle Fans der Bestseller von Noah Gordon, Jules Verne und Ken Follett begeistern. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Über dieses Buch:

Er war der größte Abenteurer seiner Zeit – nun erzählt er an seinem Lebensende eine Geschichte, die niemand glauben will … Als Marco Polo mit gerade einmal 17 Jahren in See sticht, ahnt der junge Händler noch nicht, dass er eine Reise angetreten hat, die sein Leben für immer verändern soll: Ein Abenteuer, das ihn von den herrschaftlichen Palästen Venedigs, entlang der berühmten Seidenstraße, bis vor die Tore Pekings und an den prunkvollen Hof des Kublai Khan führen soll. In dieser Welt voll fremder Gefahren und betörender Verlockungen wird Marco zum Liebhaber, Krieger, Steuereintreiber und sogar Spion – und bleibt im Herzen doch immer ein rastloser Wanderer. Denn wer erst einmal die Tore zu fremden Ländern aufgestoßen hat, ist bald besessen davon, die ganze Welt zu sehen!

Über den Autor:

Gary Jennings wurde in Virginia geboren und studierte in New York an der berühmten Kunstschule »Art Students League« in New York. Nach seiner Rückkehr aus dem Koreakrieg, in dem er als Korrespondent tätig war, begann er, seine Romane zu schreiben, die schließlich in mehrere Sprachen übersetzt wurden.

Bei dotbooks veröffentlichte der Autor seine historischen Romane »Marco Polo – Der Besessene« und »Die Manege der Welt«.

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eBook-Neuausgabe Dezember 2023

Die amerikanische Originalausgabe erschien erstmals 1984 unter dem Originaltitel »The Journeyer« bei Atheneum Publishers, New York.

Copyright © der amerikanischen Originalausgabe Gary Jennings 1984

Copyright © der deutschen Erstausgabe Meyster Verlag GmbH, München 1985

Copyright © der Neuausgabe 2023 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/Lu Vesper, Michael Rosskothen, Party Kosmider, Master 1305, Ysbrand Cosijn

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (mm)

ISBN 978-3-98690-729-7

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In diesem eBook begegnen Sie möglicherweise Begrifflichkeiten, Weltanschauungen und Verhaltensweisen, die wir heute als unzeitgemäß oder diskriminierend verstehen. Bei diesem Roman handelt es sich um ein rein fiktives Werk, das vor dem Hintergrund einer bestimmten Zeit spielt oder geschrieben wurde – und als solches Dokument seiner Zeit von uns ohne nachträgliche Eingriffe neu veröffentlicht wird. Diese Fiktion spiegelt nicht unbedingt die Überzeugungen des Verlags wider.

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Gary Jennings

Marco Polo - Der Besessene

Historischer Roman

Aus dem Amerikanischen von Werner Peterich

dotbooks.

Kapitel 1

Wiewohl die Polos seit nunmehr dreihundert Jahren stolze Venezianer sind, stammen sie nicht von dieser italienischen Halbinsel, sondern von der anderen Seite des Adriatischen Meeres. Ja, ursprünglich kommt die Familie aus Dalmatien und muß der Name etwa Pavlo gelautet haben. Der erste meiner Ahnen, der nach Venedig hinübersegelte und dort hängenblieb, tat dies kurz nach dem Jahre 1000. Er und seine Nachkommen müssen es in Venedig ziemlich rasch zu etwas gebracht haben, denn bereits im Jahre 1094 gehörte ein Domènico Polo genauso zum Großen Rat der Republik wie im folgenden Jahrhundert ein Piero Polo.

Der älteste meiner Vorfahren, an den ich sogar noch eine verschwommene Erinnerung bewahrt habe, war mein Großvater Andrea. Zu seiner Zeit war bereits jedem Manne des Geschlechtes der Polo offiziell das Ene Aca verliehen worden, so die Anfangsbuchstaben von Nobilis Homo oder Edelmann, und hatte damit ein Anrecht auf die Anrede Messere; außerdem besaßen wir ein Familienwappen: ein silbernes Feld mit drei schwarzen rotschnäbligen Vögeln darin; es wird im Wappen also durch Bilder mit Worten gespielt, denn bei unserem Wappenvogel handelt es sich um die ebenso dreiste wie fleißige Dohle, auf venezianisch pola.

Nono Andrea hatte drei Söhne: meinen Onkel Marco, nach dem ich benannt wurde, meinen Vater Nicolò und meinen Onkel Mafìo. Was sie als Knaben machten, weiß ich nicht, doch nachdem sie herangewachsen waren, wurde der älteste Sohn, Marco, der Vertreter der Polo-Handelsgesellschaft im Konstantinopel des (von uns Venezianern begründeten) Lateinischen Kaiserreiches, während sein Bruder in Venedig zurückblieb, um hier dem Hauptsitz des Unternehmens vorzustehen und für den Unterhalt des Familienpalazzo zu sorgen. Erst nach Nono Andreas Tod juckte es Nicolò und Mafìo, selbst auf Reisen zu gehen; als sie dann jedoch wirklich aufbrachen, führte diese Reise sie weiter in die Fremde als je einen Polo zuvor.

Als sie im Jahre 1259 von Venedig aus in See stachen, war ich fünf Jahre alt. Mein Vater hatte meiner Mutter gesagt, sie wollten nur bis Konstantinopel segeln, um ihren lange in der Ferne weilenden Bruder zu besuchen. Doch wie eben dieser Bruder meiner Mutter schließlich berichtete, nachdem sie für einige Zeit bei ihm gewesen waren, setzten sie es sich in den Kopf, weiter gen Osten vorzudringen. Sie hörte nichts weiter von ihnen, und nachdem zwölf Monate vergangen waren, kam sie zu dem Schluß, sie müßten den Tod gefunden haben. Dabei handelte es sich nun nicht nur um das Gerede einer verlassenen und gramgebeugten Frau, sondern um eine höchst naheliegende Mutmaßung. Denn gerade im Jahre 1259 trugen die barbarischen Mongolen, nachdem sie den Rest der östlichen Welt erobert hatten, ihren unaufhaltbaren Vormarsch bis vor die Tore Konstantinopels. Während jeder andere weiße Europäer vor der ›Goldenen Horde‹ zitterte oder floh, hatten Mafìo und Nicolò die Torheit besessen, geradenwegs auf ihre vorderste Linie zuzugehen – oder, wenn man bedenkt, in welchem Ruf die Mongolen damals standen, sollte man vielleicht besser sagen: in ihre geifernden und alles zermalmenden Kiefer.

Wir hatten allen Grund, die Mongolen als Ungeheuer zu betrachten, oder etwa nicht? Diese Mongolen waren etwas mehr als menschlich und etwas weniger als menschlich, oder? Mehr als menschlich, was ihre Kampfkraft und ihre körperliche Ausdauer betrifft. Und weniger als menschlich in bezug auf ihr ungebärdiges und blutrünstiges Wesen. Selbst ihre tägliche Nahrung sollte aus übelriechendem rohem Fleisch und ekelerregender Stutenmilch bestehen. Außerdem wußte man, daß in einer berittenen mongolischen Armee, wenn ihr die Nahrung ausging, ungesäumt gelost und jeder zehnte gemeine Reitersmann abgeschlachtet wurde, auf daß er dem Rest zur Nahrung diene. Auch war bekannt, daß die mongolischen Krieger nur die Brust mittels Lederkoller schützten, niemals jedoch den Rücken; damit sie, falls sie also doch einmal Feigheit überkam, nicht Reißaus nehmen und dem Gegner den Rücken kehren konnten. Bekannt war auch noch, daß die Mongolen ihre Lederkoller mit Fett einrieben, welchselbiges Fett sie dadurch gewannen, daß sie ihre menschlichen Opfer so lange kochten, bis das Fett abzuschöpfen war. All dies wußte man in Venedig und wurde erzählt und mit schreckensleisen Stimmen abermals erzählt; und manches von dem, was erzählt wurde, stimmte sogar.

Ich war zwar, wie schon gesagt, gerade erst fünf Jahre alt, als mein Vater fortging, jedoch schon imstande, die allgemeine Furcht vor den Wilden aus dem Osten nachzuempfinden, kannte ich doch bereits die sprichwörtliche Drohung: »Wenn du nicht brav bist, holen dich die Mongolen!« oder: »Dann holt dich die orda!« Diese Worte hatte ich meine ganze Kindheit hindurch genauso zu hören bekommen wie jeder andere kleine Junge, wenn er ermahnt werden mußte. »Wenn du dein Essen nicht aufißt, holt dich die orda! Wenn du nicht augenblicklich ins Bett gehst ...! Wenn du nicht aufhörst, solchen Lärm zu machen ...!« Mütter und Kindermädchen dieser Zeit drohten mit der orda, wie sie ihren ungezogenen Kindern früher mit dem: »Dann holt dich der Orkus!« gedroht hatten.

Der Orkus ist jener schwarze Mann, mit dem Mütter wie Ammen zu allen Zeiten auf gutem Fuß gestanden haben, und so fiel es ihnen in Venedig nicht schwer, Orkus durch orda – Horde – zu ersetzen, zumal die Mongolenhorde als Ungeheuer viel wirklicher und furchteinflößender war als der Herr der Unterwelt; drohten sie mit dieser, brauchten die Frauen nicht so zu tun, als zitterten sie vor Angst. Allein der Umstand, daß sie das Wort kannten, beweist, daß sie allen Grund hatten, die orda genau so sehr zu fürchten wie die Kinder. Denn schließlich handelte es sich um das eigene Wort der Mongolen – Jurtu oder Jurte –, was ursprünglich soviel bedeutete wie das pavillonhafte Zelt des Anführers in einem mongolischen Zeltlager, in leicht abgewandelter Form in alle europäischen Sprachen Eingang fand und das ausdrückte, woran die Europäer bei dem Begriff Mongolen dachten, nämlich an eine ungeordnet vorrückende Reiterschar, eine durcheinanderwurlende Menschenmenge, einen Schwarm, dem man nichts entgegensetzen konnte, eine Horde.

Ich jedoch sollte diese Drohung von meiner Mutter nicht mehr lange zu hören bekommen. Sobald sie sich zu der Überzeugung durchgerungen hatte, daß mein Vater tot sei und nicht wiederkommen werde, fing sie an zu kränkeln, dahinzusiechen und immer schwächer zu werden. Als ich sieben war, starb sie. Mir ist nur eine Erinnerung an sie geblieben, und diese stammt von einem Tag wenige Monate vor ihrem Tod. Daß sie es das letztemal wagte, den Fuß vor die Casa Polo zu setzen, ehe sie dann nur mehr das Bett hütete, um sich nie wieder daraus zu erheben, geschah an dem Tag, da sie mich begleitete, um mich zum ersten Mal in die Schule zu bringen. Ja, wahrhaftig, obgleich dieses Ereignis noch in das vorige Jahrhundert fällt und nahezu sechzig Jahre her ist, steht es mir sehr deutlich in der Erinnerung.

Unsere Casa Polo war damals ein kleiner Palazzo am Stadtrand von Venedig, und zwar im Viertel San Felice. Im hellen Licht der Morgenstunde mezza-terza traten meine Mutter und ich hinaus auf die katzenkopfgepflasterte, neben dem Kanal verlaufende Straße. Unser alter Ruderer, der schwarze nubische Sklave Michièl, wartete bereits mit unserem batèlo, das er an dem rotgeringelten Pfosten vertäut hatte; das Boot war zur Feier meiner Einschulung frisch gewachst worden und blitzte in allen Farben. Meine Mutter und ich stiegen ein und nahmen unter dem Baldachin Platz. Auch ich selbst war für die Gelegenheit fein herausgeputzt worden und trug, wie ich mich sehr wohl erinnere, einen neuen Rock aus brauner Lucca-Seide sowie eine Kniehose mit ledernem Gesäßteil. Weshalb sich der alte Michièl die ganze Zeit über, da er uns den schmalen Rio San Felice hinunterruderte, nicht halten konnte vor Bewunderung und immer wieder ausrief: »Che zentilomo!« und »Dassèno, xestu, Messer Marco?« – was soviel bedeutete wie: »So ein feiner Herr!« und »Wahrlich, seid Ihr das, Messer Marco?« Diese ungewohnte Bewunderung erfüllte mich zugleich mit Stolz wie mit Unbehagen. Auch ließ er sich nicht davon abbringen, bis er schließlich das batèlo in den Canale Grande hineinlenkte, wo der starke Bootsverkehr seine ganze Aufmerksamkeit erforderte.

Es war ein Tag, wie er schöner in Venedig nicht sein kann. Die Sonne schien, doch lag das Licht in einer Weise über der Stadt, daß alle Umrisse aufgelöst wurden und verschwammen. Dabei lag kein Nebel überm Meer und über der Stadt kein Dunst; die Kraft des Sonnenlichtes wurde also in keiner Weise beeinträchtigt. Vielmehr schien die Sonne nicht gerade Strahlen zu versenden, sondern auf durchsichtigere Art zu schimmern, so wie Kerzen schimmern, wenn sie auf einem Leuchter mit vielen geschliffenen Kristallen entzündet werden. Jeder, der einmal in Venedig gewesen ist, kennt dieses besondere Licht: Als ob Perlen zerstoßen und zu Pulver geworden wären – perlenfarbene Perlen vor allem, aber auch rosafarbene und bläulich überhauchte –, und dieses Pulver dermaßen fein zermahlen, daß die Staubteilchen zwar in der Luft schwebten, gleichwohl jedoch das Licht nicht beeinträchtigten, sondern es womöglich noch leuchtender und gleichzeitig noch weicher machten. Auch kam das Licht nicht vom Himmel allein her. Es wurde von den Kanälen zurückgeworfen und tanzte auf den Wellen, so daß die perlenfarbenen Sonnenkringel und -tupfer überall auf Mauern und Wänden aus altem Holz, Ziegeln und Bruchsteinen hüpften und Haschen spielten und diese rauhen Oberflächen gleichfalls weicher machten.

Diesem Tag eignete ein besänftigendes rosiges Erglühen wie einer Pfirsichblüte.

Unser Boot glitt unter der einzigen Brücke des Canale Grande dahin, dem Ponte Rialto – der alten, niedrigen Pontonbrücke, deren Mittelteil seitlich schwenkbar war; sie war noch nicht als die hochgewölbte Brücke wieder erbaut worden, die sie heute ist. Sodann kamen wir an der Erbaria vorüber, dem Markt, den junge Männer nach durchzechter Nacht in aller Herrgottsfrühe aufsuchen, um dort durch den Duft von Blumen, Kräutern und Früchten wieder einen klaren Kopf zu bekommen. Gleich darauf verließen wir den großen Kanal wieder und bogen in einen schmaleren ein, wo meine Mutter und ich beim Campo San Todaro ausstiegen. Um diesen Platz herum waren sämtliche Abc-Schulen der Stadt gelegen, und um diese Stunde herrschte dort ein lustiges Treiben von Knaben aller Altersgruppen, die hier spielten, liefen, durcheinanderplapperten und rauften, während sie darauf warteten, daß der Schultag begann.

Mutter stellte mich dem Maistro der Schule vor und überreichte ihm sämtliche mit meiner Geburt sowie der Eintragung meines Namens in das Libro d’Oro in Zusammenhang stehenden Dokumente. Libro d’Oro oder ›Goldenes Buch‹ ist der volkstümliche Name für jenes Protokollbuch, in dem die Republik Urkunden über sämtliche Ene-Aca-Familien der Stadt aufbewahrt. Fra Varisto, ein sehr gedrungener und abschreckend aussehender Mann in wallenden Gewändern, schien alles andere als beeindruckt von den Dokumenten. Er warf einen Blick hinein und schnaubte nur verächtlich: »Brate!«, eine nicht besonders höfliche Bezeichnung für einen Slawen oder Dalmatiner. Meine Mutter setzte dem ein sehr damenhaftes Naserümpfen entgegen und murmelte: »Veneziàn nato e spuà.«

»In Venedig gezeugt und geboren, vielleicht«, brummte der Mönch. »Doch in Venedig erzogen noch nicht. Das kann man erst von ihm behaupten, wenn er die rechte Schulung durchstanden und harte Zucht ihm den Rücken gestärkt hat.«

Fra Varisto griff nach einem Federkiel und rieb mit seinem angespitzten Ende über die glänzende Kopfhaut seiner Tonsur – wie ich vermute, um die Spitze ein wenig einzufetten; erst dann tauchte er sie in ein Tintenfaß und schlug ein gewaltiges Buch auf. »Tag der Firmung?« fragte er, »der ersten Kommunion?«

Meine Mutter gab ihm Bescheid und fügte mit einigem Hochmut hinzu, mir sei es nicht, wie den meisten Kindern, erlaubt worden, meinen Katechismus nach der Firmung zu vergessen; vielmehr könne ich ihn auch heute noch auf Verlangen ebenso hersagen wie das Glaubensbekenntnis und die Zehn Gebote und das Vaterunser. Der Maistro stieß einen Grunzlaut aus, nahm jedoch keine weitere Eintragung in dem großen Buch vor. Daraufhin stellte meine Mutter ein paar Fragen: über den Stundenplan, die Prüfungen und Belohnungen für gute Leistungen sowie über Strafen bei Versagen und ...

Alle Mütter, die ihren Sohn zum ersten Mal in die Schule bringen, erfüllt vermutlich ein nicht geringer Stolz, gleichzeitig jedoch auch ein gewisses Maß an Argwohn und sogar Trauer, überantworten sie doch ihre Sprößlinge einer geheimnisvollen Institution, zu der sie niemals Zutritt haben. Mit Ausnahme von künftigen Nonnen erhält fast keine einzige Frau irgendeine schulische Ausbildung. Infolgedessen begibt sich ihr Sohn, kaum daß er seinen Namen schreiben kann, gleichsam mit einem Satz in einen Bereich, wo er ihrem Zugriff für immer entzogen ist.

Fra Varisto erklärte meiner Mutter geduldig, ich würde im richtigen Gebrauch meiner Muttersprache ebenso unterrichtet wie in Handelsfranzösisch, außerdem würde ich Lesen und Schreiben und Rechnen lernen; die Grundzüge des Lateinischen würden mir mit Hilfe des Timen des Donadello beigebracht, die Grundbegriffe von Geschichte und Kosmographie nach dem Alexanderbuch des Callisthenes, sowie Religion aufgrund von biblischen Geschichten. Meine Mutter stellte jedoch eine solche Menge ängstlicher anderer Fragen, daß der Mönch schließlich in einem Ton zwischen Mitleid und Verzweiflung erklärte: »Dona e Madona, der Junge wird schließlich nur in die Schule aufgenommen und soll nicht den Schleier nehmen. Eingemauert wird er ja nur tagsüber. Den Rest der Zeit soll er Euch nicht genommen werden.«

Sie behielt mich für den Rest ihres Lebens, doch der dauerte nicht mehr lange. Infolgedessen bekam ich die Drohung »Dann holen dich die Mongolen« nur in der Schule von Fra Varisto und daheim von der alten Zulìa zu hören. Diese Frau war nun wirklich eine Slawin und stammte aus irgendeinem Nest im hintersten Winkel Böhmens; sie war offensichtlich bäuerlicher Herkunft, denn sie ging stets wie eine Waschfrau, die mit einem Eimer Wasser in jeder Hand dahergewatschelt kam. Seit meiner Geburt war sie die Zofe meiner Mutter gewesen. Nach dem Tod meiner Mutter übernahm Zulìa ihre Stelle als Kindermädchen und Aufseherin und wurde fortan mit dem Ehrentitel Zia – Tante – angeredet. Bei der Aufgabe, mich zu einem anständigen und verantwortungsbewußten jungen Mann heranzuziehen, ließ Zia Zulìa – abgesehen von der häufigen Anrufung der orda – nicht sonderlich viel Strenge walten, hatte aber, wie ich gestehen muß, bei ihren Bemühungen auch nicht viel Erfolg.

Zum Teil lag das daran, daß mein Namensvetter, Onkel Marco, nach dem Verschwinden seiner beiden Brüder nicht nach Venedig zurückgekehrt war. Er hatte zu lange in Konstantinopel gelebt und fühlte sich dort zu wohl, obgleich das Lateinische Kaiserreich inzwischen vom Byzantinischen Reich abgelöst worden war. Da jedoch mein anderer Onkel und mein Vater das Familienunternehmen in den Händen äußerst fähiger und vertrauenswürdiger Angestellter gelassen hatten und der Familienpalazzo von gleichermaßen tüchtigen Domestiken geführt wurde, ließ Zio Marco alles beim alten. Nur die wichtigsten und am wenigsten dringenden Angelegenheiten wurden per Kurierschiff an ihn weitergeleitet, damit er sich mit ihnen befasse und die nötigen Entscheidungen fälle. Auf diese Weise geleitet, ging es mit der Compagnia Polo und der Ca’ Polo genauso gut weiter wie eh und je.

Das einzige, was zu den Polo gehörte und nicht funktionierte, war ich. Als letzter und einziger männlicher Sproß vom Stamm der Polo – zumindest in Venedig –, mußte ich gehütet werden wie ein Augapfel, und dessen war ich mir vollauf bewußt. Wenn ich auch noch in einem Alter stand, da ich mit der Leitung des Geschäfts wie des Hauses (und da muß ich von Glück sagen) noch nichts zu schaffen hatte, war ich, was mein eigenes Tun und Lassen betraf, gleichfalls keinem Erwachsenen verantwortlich. Daheim tat ich, was ich wollte, und wußte mich auch durchzusetzen. Weder Zia Zulìa noch unser Maggiordomo, der alte Attilio, noch irgendeiner der kleineren Dienstboten wagte es, die Hand gegen mich zu erheben, und daß jemand die Stimme gegen mich erhob, kam gleichfalls nur selten vor. Meinen Katechismus sagte ich nie wieder auf, und bald vergaß ich sämtliche Antworten. In der Schule fing ich an zu schwänzen. Als Fra Varisto es resignierend aufgab, mir mit den Mongolen zu kommen, und statt dessen zur Rute griff, blieb ich dem Unterricht einfach fern.

Es ist ein kleines Wunder, daß ich überhaupt etwas lernte. Immerhin blieb ich lange genug in der Schule, um Lesen und Schreiben zu lernen, rechnen zu können und das Handelsfranzösisch einigermaßen zu beherrschen; das jedoch lag hauptsächlich daran, daß ich wußte, diese Fertigkeiten würde ich brauchen, wenn ich alt genug wäre, um das Familienunternehmen zu übernehmen. Von der Weltgeschichte und -beschreibung bekam ich immerhin so viel mit, wie im Alexanderbuch steht. All dies verleibte ich mir hauptsächlich deshalb ein, weil die Eroberungszüge des großen Alexander ihn gen Osten geführt hatten und ich mir ausmalen konnte, daß mein Vater und mein Onkel einigen seiner Spuren gefolgt wären. Freilich sah ich es als höchst unwahrscheinlich an, daß ich jemals des Lateins mächtig sein müsse, und so kam es, daß, als meine Klasse die Nase gemeinsam in die langweiligen Regeln und Vorschriften des Timen steckte, ich die meine auf etwas anderes richtete.

Wiewohl die Erwachsenen im Hause laut lamentierten und mir ein böses Ende voraussagten, glaubte ich persönlich nicht wirklich, daß mein Eigensinn darauf schließen ließ, ich sei ein schlechtes Kind. Meine Hauptsünde war schließlich die Neugierde, die nach unseren abendländischen Wertmaßstäben freilich in der Tat eine Sünde ist. Sitte und Herkommen heischen ja wirklich, daß wir uns fügsam und angepaßt an unsere Nächsten und an unseresgleichen verhalten. Die heilige Kirche verlangt, daß wir glauben und alle Fragen und Ansichten unterdrücken, zu denen unser Verstand uns bringt. Die merkantile Philosophie der Venezianer läßt nur jene greifbaren Wahrheiten gelten, die auf der untersten Zeile des Hauptbuches stehen, in dem Soll und Haben gegeneinander aufgerechnet werden.

Irgend etwas in meinem Wesen rebellierte jedoch gegen die Einengungen, die alle anderen meines Alters, meiner Schicht und in meiner Lage akzeptierten. Ich wollte ein Leben jenseits der Regeln und Linien im Hauptbuch und der Zeilen im Meßbuch führen. Ich brannte vor Ungeduld und war wohl auch mißtrauisch gegenüber der überkommenen Weisheit jener Brocken von Informationen und Ermahnungen, die so säuberlich ausgewählt und zugerichtet und zum Verzehr und zur Einverleibung dargereicht werden wie die Gänge bei einer Mahlzeit. Ich zog es vor, mir auf eigene Faust Wissen anzueignen, selbst wenn es mir roh und ungenießbar vorkam und es mir Ekel erregte, es zu schlucken, was ziemlich oft der Fall war. Meine Vormünder und Schulmeister warfen mir vor, aus Faulheit der harten Arbeit aus dem Weg zu gehen, der es bedurfte, um sich Bildung anzueignen. Nie wäre es ihnen in den Sinn gekommen, daß ich beschlossen hatte, einem weit schwierigeren Pfad zu folgen, und bereit war, diesem zu folgen, wohin immer er mich führte, von dieser Kindheitszeit all die Jahre meines ganzen Erwachsenendaseins hindurch.

An den Tagen, da ich der Schule fernblieb und nicht nach Hause gehen konnte, mußte ich irgendwie irgendwo die Zeit totschlagen, und so trieb ich mich manchmal im Hof und in den Gebäuden der Compagnia Polo herum. Das Anwesen lag damals wie heute an der Riva Ca’ de Dio, jene Hafenesplanade, die unmittelbar auf die Lagune hinausgeht. Auf der Wasserseite wird diese Esplanade von hölzernen Landungsstegen gesäumt, zwischen denen Bug an Heck und auch Seite an Seite Schiffe und Boote vertäut sind. Da gibt es größere und kleinere Fahrzeuge: die flachbodigen batèli und gondole privater Häuser, die bragozi genannten Fischerboote und die schwimmenden Salons, die burchielli heißen. Außerdem lagen dort die wesentlich größeren seegängigen Galeeren und Galeassen Venedigs, darunter ab und zu englische und flämische Koggen, slawische Trabacoli und levantinische Kaike. Viele von diesen Seefahrzeugen sind so groß, daß ihre Vordersteven und Bugsprits über die Straße hinausragen, fast bis hinan an die vielfältigen Hausfronten, welche die Landseite der Esplanade bilden und dort ein Schattengewirr auf ihr Katzenkopfplaster werfen. Eines dieser Gebäude war (und ist) unseres: ein gähnend-weitläufiges Lagerhaus, in dem ein kleiner Raum als Kontor abgetrennt ist.

Mir gefiel das Lagerhaus. Es war erfüllt von den Wohlgerüchen aller Länder der Erde, denn es war voll gestapelt mit Säcken und Kisten und Ballen und Fässern, die alles enthielten, was die Erde zu bieten hatte – von Wachs aus der Berberei und englischer Wolle bis zu Zucker aus Alexandria und Sardinen aus Marseille. Bei den Lagerhausarbeitern handelte es sich um muskulöse Männer, die Hämmer und Stauhaken, aufgeschossene Seile und anderes Werkzeug mit sich herumtrugen. Diese Leute hatten immer zu tun: da war wohl einer dabei, Zinnwaren aus Cornwall in Rupfen zu verpacken, während ein anderer den Deckel auf ein Faß mit Olivenöl aus Katalonien hämmerte und noch ein anderer eine Kiste mit Seife aus Valencia hinaustrug auf den Quai und alle allen immerzu Befehle wie »Logo!« oder »A cornado!« zuriefen.

Doch im Kontor gefiel es mir nicht minder. In diesem vollgestopften Verschlag saß der Mann, dem die Leitung all dieser Geschäfte und Geschäftigkeit oblag, der alte Schreiber Isidoro Priuli. Anscheinend ohne auch nur einen Muskel zu betätigen, ohne herumzurennen und zu brüllen und ohne jedes Gerät bis auf seine kügelchenbestückte Rechenmaschine, seine Schreibfedern und Kontobücher beherrschte Maistro Doro diesen Schnittpunkt aller Handelsstraßen der Welt. Es bedurfte nur eines leisen Klickens der farbigen Kügelchen seiner Rechenmaschine und einer mit kratzendem Federkiel vorgenommenen Eintragung ins Hauptbuch, und schon schickte er eine Amphore korsischen Rotweins nach Brüssel und im Austausch dafür eine Docke flandrischer Spitze nach Korsika – und, während diese beiden Dinge in unserem Lagerhaus aneinander vorübergingen, ein Metadella-Maß vom Wein zu nehmen und eine Elle Spitze abzuschneiden, auf daß der Gewinn der Polo an dieser Transaktion gesichert sei.

Da ein großer Teil der gelagerten Waren leicht in Flammen aufgehen konnte, gestattete Isidoro sich nicht einmal den Luxus, seinen kleinen Arbeitsplatz mit Hilfe einer Lampe oder auch nur einer einzelnen Kerze zu erhellen. Dafür hatte er an der Wand hinter ihm und ihm zu Häupten einen großen, aus echtem Glas gebauten konkaven Spiegel anbringen lassen, der so viel Helligkeit vom Tag draußen einfing wie möglich und sie auf sein hochbeiniges Pult richtete.

Wenn er dort bei seinen Büchern hockte, sah Maistro Doro aus wie ein sehr kleiner, in sich zusammengeschrumpfter Heiliger mit übergroßem Heiligenschein. Da stand ich dann wohl, spähte über den Rand seines Pultes hinweg und konnte es nicht fassen, daß der Maistro mit einem einzigen kleinen Fingerschnippen eine solche Befehlsgewalt ausüben konnte, während er mir von seiner Arbeit erzählte, die ihn mit so großem Stolz erfüllte.

»Die heidnischen Araber waren es, mein Junge, die der Welt diese Schnörkel schenkten, welche Zahlen darstellen – und diese Rechenmaschine, sie zusammenzuzählen. Venedig jedoch war es, das der Welt das System der doppelten Buchführung gab – die Bücher mit den beiden einander gegenüberliegenden Seiten, auf denen Soll und Haben eingetragen werden. Links Soll und rechts Haben.«

Ich zeigte auf eine Eintragung auf der Linken: »Zur Gutschrift für Messer Domeneddio« und fragte nur so, wer denn dieser Messere sei.

»Mefé – meiner Treu!« entfuhr es dem Maistro. »Du erkennst den Namen nicht, unter dem unser Herrgott Seine Geschäfte tätigt?«

Er ließ die Seiten dieses Hauptbuchs über den Daumen gleiten, um mir das Vorsatzblatt zu zeigen, auf dem schön mit Tinte geschrieben stand: »Im Namen Gottes und des Gewinns.«

»Wir kleinen Sterblichen kommen schon mit unseren eigenen Waren zurecht, wenn sie hier in dieser Halle lagern«, erklärte er. »Gehen sie jedoch auf dünnwandigen Schiffen hinaus aufs gefahrvolle Meer, sind sie ganz auf die Gnade Gottes angewiesen – wessen sonst? Infolgedessen betrachten wir Ihn bei einem jeden unserer Unternehmungen als Geschäftspartner. In unseren Büchern werden Ihm bei einer jeden Transaktion, die mit dem Weitertransport der Waren übers Meer verbunden ist, zwei volle Gewinnanteile ausgewiesen. Ist das Unternehmen ein Erfolg, erreicht die Fracht sicher ihren Bestimmungsort und wirft den erwarteten Gewinn ab, werden die beiden Gewinnanteile eben al conto di Messer Domeneddio gutgeschrieben und Ihm am Ende eines jeden Jahres, wenn die Dividenden zugeteilt werden, ausgezahlt. Oder vielmehr Seinem Geschäftsführer und Bevollmächtigten in der Person unserer heiligen Mutter, der Kirche. So verfährt jeder christliche Kaufmann.«

Hätte ich all die Tage, die ich die Schule schwänzte, mit so erbaulichen Gesprächen verbracht, würde kein Mensch sich beschwert haben. Ich hätte dann vermutlich eine bessere Erziehung genossen, als Fra Varisto sie mir jemals hätte können zuteil werden lassen. Nur brachten meine Streifzüge durch das Hafengebiet mich unweigerlich mit Menschen in Berührung, die weniger bewunderungswürdig waren als der Schreiber Isidoro.

Womit ich nicht behaupten will, daß die Riva eine Straße der untersten Gesellschaftsschichten gewesen wäre. Zwar wimmelt es dort zu jeder Tagesstunde von Handwerkern, Seeleuten und Fischern, doch ebensosehr sah man dort wohlgekleidete Kaufleute, Makler und andere Handeltreibende, oft in Begleitung ihrer vornehmen Gattinnen. Die Riva ist außerdem auch noch eine Promenade, an schönen Tagen sogar noch nach Einbruch der Dunkelheit, auf der sich elegante Herren und Damen einfach ergehen, um die linde Brise zu genießen, die von der Lagune herüberweht. Gleichwohl mischen sich unter diese Leute tags wie nachts dreiste Burschen und Beutelschneider, Dirnen und andere Angehörige jenes Abschaums, den wir den popolàzo nennen. Da waren zum Beispiel jene Rangen, denen ich eines Nachmittags auf dem Rivaer Quai begegnete und von denen einer sich damit vorstellte, daß er mit einem Fisch nach mir warf.

Kapitel 2

Es war kein besonders großer Fisch, und es handelte sich auch nicht um einen besonders großen Jungen. Er war etwa so groß wie ich und stand im selben Alter; außerdem wurde ich nicht verletzt, als der Fisch mich zwischen die Schulterblätter traf. Er hinterließ nur einen scheußlich modrigen Geruch auf meinem Rock aus Luccaer Seide, und ganz offensichtlich war es auch das, was der Junge beabsichtigt hatte, denn er selbst war in Lumpen gekleidet, die bereits nach Fisch stanken. Schadenfroh tanzte er um mich herum und sang einen Spottvers:

Un ducato un ducatòn!

Bùtelo. bùtelo. zo per el cavròn!

Das ist nur der Bruchteil eines Kinderliedes, das bei einem Wurfspiel gesungen wird, doch hatte er das letzte Wort gegen eines ausgetauscht, von dem ich – obwohl ich euch damals noch nicht hätte sagen können, was genau es bedeutete – wußte, daß es das schlimmste Schimpfwort ist, das ein Mann einem anderen an den Kopf werfen kann. Ich war noch kein Mann und er auch nicht; gleichwohl stand offensichtlich meine Ehre auf dem Spiel. Ich unterbrach ihn in seinem spöttischen Herumgehopse, indem ich beherzt auf ihn zutrat und ihm einen Faustschlag ins Gesicht versetzte. Leuchtendrotes Blut schoß ihm aus der Nase.

Ehe ich mich’s versah, wurde ich unter dem Gewicht von vier anderen Burschen plattgedrückt. Mein Angreifer war nicht allein auf dem Quai umhergestrolcht und auch nicht der einzige, den die feinen Kleider erbosten, die Zia Zulìa mich an Schultagen tragen ließ. Eine Zeitlang knackten die Planken des Landestegs unter unserem Geraufe. Etliche Vorübergehende blieben stehen, um uns zuzusehen, und einige von den Rauhbeinigeren riefen etwa: »Gib’s ihm!« oder »Hau dem Bettelpack die Hucke voll!« Ich kämpfte tapfer, konnte jedoch immer nur gegen einen Jungen auf einmal zurückschlagen, während sie zu fünft auf mich eindroschen. So dauerte es nicht lange, und ich keuchte mir die Lunge aus dem Leib, während sie mir die Arme auf den Boden drückten. Ich lag einfach da und wurde durchgewalkt und geknetet wie Nudelteig.

»Laßt ihn los!« ließ eine Stimme sich hinter dem Haufen meiner Widersacher vernehmen.

Bei der Stimme handelte es sich bloß um ein piepsendes Falsett; gleichwohl war sie laut und offenbar befehlsgewohnt. Die fünf Jungen hörten auf, mich zu bearbeiten, und – wenn auch widerwillig – einer nach dem anderen ließ von mir ab. Selbst als mich nichts mehr behinderte, mußte ich noch einen Moment liegenbleiben und sehen, daß ich wieder zu Atem kam, ehe ich aufstehen konnte.

Die anderen Jungen traten von einem bloßen Fuß auf den anderen und richteten mißmutig die Blicke auf die Besitzerin der Stimme. Was mich verwunderte, war, daß sie einem Mädchen gehorchten. Sie war abgerissen wie die anderen und stank nicht minder als sie, war aber kleiner und jünger. Sie trug das kurze, enge, röhrenförmige Kleid, das alle venezianischen Mädchen im Alter von zwölf Jahren tragen – vielleicht sollte ich jedoch sagen: Sie trug die Überreste eines solchen Kleides. Dieses war dermaßen zerfetzt, daß sie geradezu unanständig nackt gewirkt hätte, nur daß dasjenige, was von ihrem Leib zu sehen war, die gleiche schmutziggraue Farbe aufwies wie ihr Kleid. Vielleicht zog sie ein gewisses Maß an Autorität aus der Tatsache, daß sie – und zwar sie allein – die pantoffelähnlichen hölzernen tofi der Armen anhatte.

Das Mädchen trat nahe an mich heran und strich mütterlich über meine Kleidung dahin, die sich jetzt nicht sonderlich von ihrer eigenen unterschied. Dabei erklärte sie mir, sie sei die Schwester des Jungen, dem ich die Nase blutig geschlagen hätte.

»Mama hat Boldo eingebleut, nie zu raufen«, sagte sie, um dann hinzuzusetzen: »Und Papa hat ihm eingeschärft, seine Raufereien immer ohne Hilfe anderer auszufechten.«

Schwer atmend sagte ich: »Hätte er doch nur auf sie gehört!«

»Meine Schwester lügt! Wir haben gar keine Mama und keinen Papa.«

»Wenn wir aber Eltern hätten, wäre das genau das, was sie dir sagen würden. Und jetzt heb den Fisch auf, Boldo! Es war schwierig genug, ihn zu stehlen.« Zu mir gewandt sagte sie: »Wie heißt du? Er ist Ubaldo Tagiabue, und ich bin Doris.«

Tagiabue heißt soviel wie »Gebaut wie ein Ochse«, und in der Schule hatte ich gelernt, Doris sei die Tochter des heidnischen Gottes Oceanus. Diese Doris hier war so erbarmungswürdig mager, daß sie diesen Vornamen nicht verdiente, und außerdem so schmutzig, daß sie nie einer Wassergottheit hätte ähneln können. Gleichwohl wirkte sie standhaft wie ein Ochse und gebieterisch wie die Göttin, als wir dastanden und zusahen, wie ihr Bruder gehorsam hinging und den Fisch aufhob. Das heißt, aufheben konnte er ihn nicht so ohne weiteres, denn im Laufe unserer Rauferei war mehrmals auf ihn getreten worden, so daß er ihn mehr oder minder zusammenklauben mußte.

»Du mußt etwas sehr Schlimmes getan haben«, sagte Doris zu mir, »wo du ihn dazu gebracht hast, mit unserem Abendessen nach dir zu werfen.«

»Ich habe überhaupt nichts getan«, erklärte ich wahrheitsgemäß. »Bis ich ihn schlug. Und das habe ich nur deshalb getan, weil er mich cavròn schimpfte.«

Sie setzte ein belustigtes Gesicht auf und fragte: »Weißt du, was das heißt?«

»Ja, es heißt, daß man kämpfen muß.«

In ihren Augen blitzte es noch belustigter auf, und sie sagte: »Ein cavròn ist jemand, der seine Frau anderen Männern überläßt.«

Ich überlegte, warum das Wort dann, wenn das alles war, was es bedeutete, eine so tödliche Beleidigung sein sollte. Schließlich kannte ich etliche Männer, deren Frauen Waschfrauen und Näherinnen waren, deren Dienste von vielen anderen Männern in Anspruch genommen wurden, ohne daß das irgendwelchen öffentlichen Aufruhr erregte oder gar eine private vendèta zur Folge hatte. Als ich einige entsprechende Bemerkungen in dieser Hinsicht fallenließ, brach Doris in Lachen aus.

»Marcolfo!« rief sie höhnisch aus. »Es bedeutet, daß die Männer ihre Kerze in die Scheide der Frau stecken und sie zusammen den Veitstanz tanzen.«

Zweifellos durchschaut jeder, was wiederum mit diesen Ausdrücken gemeint ist, und so werde ich mich nicht entblöden, Euch das wunderliche Bild auszumalen, das bei ihren Worten in meinem ahnungslosen Kopf entstand. Nur schlenderten just in diesem Augenblick ein paar biedere, wie Kaufleute aussehende Männer in der Nähe vorüber, die entsetzt einen Schritt vor Doris zurückwichen und deren Bartstoppeln sich sträubten wie Igelstacheln, als sie hörten, wie ein so kleines Kind, noch dazu ein kleines Mädchen, laut solche unanständigen Wörter von sich gab.

Ubaldo trug den nunmehr zusammengeklaubten Fisch mit beiden schmutzigen Händen haltend herzu und sagte zu mir: »Willst du mit uns zu Abend essen?« Dazu sollte es zwar nicht kommen, doch vergaßen er und ich im Laufe des Nachmittags unseren Streit und wurden Freunde.

Er wie ich waren damals vielleicht elf oder zwölf Jahre alt – und Doris zwei Jahre jünger. In den folgenden paar Jahren verbrachte ich den Großteil meiner Tage mit ihnen und dem Haufen von ständig wechselnden anderen Hafenrangen, die gleichsam ihr Gefolge bildeten. Dabei hätte ich in jenen Jahren ohne weiteres mit den wohlgenährten und adrett gekleideten Sprößlingen der lustrìsimi Familien der Stadt verkehren können, wie den Balbi und den Cornari – und Zia Zulìa scheute keine Mühe und keine Überredungskraft, mich dazu zu bewegen –, doch ich zog meine stinkenden, dafür aber um so lebhafteren Freunde vor. Ich bewunderte ihre schlagfertige und sarkastische Ausdruckweise und eignete sie mir an. Ich bewunderte ihre Unabhängigkeit und ihre fichèvole Einstellung dem Leben gegenüber und setzte alles daran, es ihnen darin gleichzutun. Da ich diese Haltung auch nicht ablegte, wenn ich nach Hause oder sonstwohin ging, trug das nicht gerade dazu bei, mich bei den anderen Menschen in meinem Leben beliebt zu machen; doch das stand ja auch nicht zu erwarten.

Bei meinen nicht gerade häufigen Gastspielen in der Schule belegte ich Fra Varisto mit ein paar Spitznamen, die ich von Boldo gelernt hatte – »il bel di Roma« und »il Culiseo«, –, die begeistert von den anderen Schülern übernommen wurden. Der gute Mönch und Lehrer hatte anfangs nichts gegen diese Formlosigkeit einzuwenden, ja, machte sogar einen eher geschmeichelten Eindruck, bis ihm nachgerade aufging, daß wir ihn nicht mit der grandiosen alten Schönheit Roms – dem coliseo oder Kolosseum – verglichen, sondern unser Spiel mit dem Worte culo, Hintern, trieben und ihn praktisch ›Riesenarsch‹ nannten. Die Dienstboten daheim packte fast täglich das schiere Entsetzen. Einmal – ich hatte gerade etwas ausgefressen – belauschte ich ein Gespräch zwischen Zia Zulìa und Maistro Attilio, dem Maggiordomo unseres Haushalts.

»Crispo!« hörte ich den alten Mann ausrufen. Das war seine etwas penible Art, einen Fluch auszustoßen, ohne die Wörter »per Cristo« tatsächlich auszusprechen; gleichwohl brachte er es immer fertig, damit zum Ausdruck zu bringen, wie sehr außer sich vor Empörung er war und wie entsetzt. »Weißt du, was das Luderchen jetzt wieder angestellt hat? Es hat den Ruderer einen schwarzen Haufen merda – Scheiße – genannt, und jetzt ist der arme Michièl in Tränen aufgelöst. Es zeugt von unverzeihlicher Grausamkeit, einem Sklaven gegenüber so zu sprechen und ihm unter die Nase zu reiben, daß er ein Sklave ist.«

»Ach, was soll ich nur machen, Attilio«, rief Zulìa in klagendem Ton. »Ich kann den Jungen doch nicht prügeln, sonst verletz ich womöglich noch sein kostbares Selbst!«

Streng ließ der Oberste der Domestiken sich vernehmen: »Besser, er bezieht die Prügel jetzt und hier zu Hause, wo sonst kein Mensch es mitbekommt, als daß er als Erwachsener öffentlich am Schandpfahl ausgepeitscht wird.«

»Wenn ich ihn nur immer unter den Augen hätte ...«, erklärte meine nena schniefend. »Ich kann schließlich nicht durch die ganze Stadt hinter ihm herjagen. Und seit er sich mit diesem popolàzo von Hafengesindel herumtreibt ...«

»Es wird nicht lange dauern, und er wird es mit den bravi halten«, knurrte Attilio. »Ich warne dich, Weib: du läßt zu, daß aus diesem Jungen ein richtiger bimbo viziato wird.«

Ein bimbo viziato ist ein verwöhntes Herrensöhnchen, und genau das war ich. Die Beförderung vom bimbo zum bravo hätte mir sehr gefallen. Naiv, wie ich war, ging ich davon aus, daß bravi das wären, was ihr Name eigentlich erwarten läßt, brave Männer, doch genau das Gegenteil war gemeint.

Die lauernden bravi sind die modernen Vandalen Venedigs. Es handelt sich um junge Männer, zumeist aus guter Familie, die weder Moral besitzen noch irgendeiner nützlichen Beschäftigung nachgehen, nichts anderes kennen als Betrügereien und Degenstechereien und keinen anderen Ehrgeiz haben, als sich hier und da einen Dukaten zu verdienen, indem sie einen heimlichen Mord begehen. Manchmal werden sie von Politikern dazu gedungen, die auf einen bestimmten Posten nicht erst lange warten wollen, oder aber von Kaufleuten, die auf die leichteste Weise einen Konkurrenten aus dem Weg schaffen möchten. Häufiger werden die Dienste der bravi ironischerweise von irgendwelchen Liebhabern in Anspruch genommen – denen daran gelegen ist, irgendwelche Hindernisse auf dem Weg zu der Geliebten, wie etwa einen unbequemen Ehemann oder eine eifersüchtige Gattin, beiseite zu räumen. Sieht man tagsüber einen jungen Mann einherstolzieren und so tun, als wäre er ein cavaliere errante oder Fahrender Ritter, handelt es sich entweder um einen bravo oder um jemand, der gern für einen solchen gelten möchte. Begegnet man einem bravo jedoch bei Nacht, trägt er eine Maske vorm Gesicht und einen wallenden Mantel um die Schulter und darunter einen modernen Kettenpanzer, drückt sich außerhalb des Lampenlichts im Dunkeln herum und wird sein Opfer mit Degen oder Stilett stets von hinten anfallen.

Nicht, daß man meint, bei diesen Betrachtungen handelte es sich um eine Abschweifung; denn ich wurde in der Tat zu einem bravo – oder zumindest zu einer Art bravo.

Immerhin habe ich von einer Zeit erzählt, da ich noch ein bimbo viziato war und Zia Zulìa sich darüber beschwerte, daß ich zu oft in der Gesellschaft der Hafenrangen gesehen wurde. In Anbetracht des Schandmauls, das ich mir angewöhnte, und der unmöglichen Manieren, die ich von ihnen übernahm, hatte sie allen Grund, dies zu mißbilligen. Doch nur eine Slawin und nie und nimmer eine geborene Venezianerin konnte es als unnatürlich betrachten, daß ich mich auf den Quais herumtrieb. Ich war Venezianer, und so hatte ich das Salz der See im Blut, und es trieb mich meerwärts. Da ich überdies auch noch ein Knabe war, setzte ich diesem Drang keinen Widerstand entgegen, und mit den Hafenrangen Umgang zu pflegen, bedeutete für mich die größtmögliche Annäherung an das Meer.

Ich habe seither viele am Meer gelegene Städte kennengelernt – keine jedoch, die so sehr gleichsam Teil des Meeres ist wie mein Venedig. Für uns ist das Meer nicht nur ein Mittel, um unseren Lebensunterhalt zu verdienen – das trifft auch auf Genua und Konstantinopel zu und auf Cherbourg genauso wie das legendäre Bauduin –, es ist untrennbar Teil unseres Lebens. Es umspült das Gestade einer jeden Insel und eines jeden Inselchens, die insgesamt und zusammen Venedig bilden, es fließt durch die Kanäle der Stadt und manchmal – wenn Wind und Gezeiten aus derselben Richtung kommen – schwappt es sogar die Treppenstufen zur Basilica San Marco hinauf und kann ein Gondoliere sein Boot zwischen den Portalbögen der großen Piazza San Marco hindurchrudern.

Nur Venedig, von allen Hafenstädten der Welt, betrachtet die See als seine Braut und bestätigt dieses Verlöbnis in feierlicher Zeremonie und durch Priester Jahr für Jahr aufs neue. Erst vorigen Donnerstag bin ich der Feier das letztemal gefolgt. Das war an Christi Himmelfahrt, und ich war einer der Ehrengäste an Bord der dick vergoldeten Staatsgondel unseres Dogen Zuane Soranzo. Sein prächtiger buzino d’oro wurde zwar von vierzig Ruderern gerudert, war jedoch nur eines von den vielen Schiffen und Booten, die – eine große Flotte – mit Seeleuten und Fischern, Priestern, Spielleuten und lustrìsimi Bürgern bemannt in prächtiger Prozession auf die Lagune hinausfuhren. Am Lido, der am weitesten ins Meer hinausgeschobenen unserer Inseln, sprach der Doge die altehrwürdigen Worte: »Ti sposiamo, O mare nostro, in cigno di vero e perpetuo dominio« und warf den goldenen Ehereif ins Wasser, während die Priester für unsere schwimmende Gemeinde die Vorbeter machten und flehten, das Meer möge sich in den kommenden zwölf Monaten als genau so großmütig und willfährig erweisen wie eine menschliche Braut. Wenn die Tradition stimmt – daß nämlich seit dem Jahre tausend am Himmelfahrtstag die gleiche Zeremonie stattgefunden hat –, liegt in Form von über dreihundert goldenen Ringen vor dem Lido ein beträchtliches Vermögen am Meeresgrunde.

Die See umringt und durchdringt Venedig nicht nur, sie ist in jedem Venezianer; sie salzt den Schweiß seiner tätigen Arme und die aus Gram oder vor Freude vergossenen Tränen seiner Augen, ja sogar seine Sprache. Nirgends in der Welt habe ich es erlebt, daß Männer einander begegnen und sich mit dem frohen Ruf »Che bon vento?« begrüßen, was soviel bedeutet wie: »Welch guter Wind?« und für einen Venezianer soviel heißt wie: »Welch guter Wind hat Euch über das Meer ins glückliche Venedig geführt?«

Ubaldo Tagiabue und seine Schwester Doris sowie die anderen Hafenrangen kannten eine weit bündigere und knappere Begrüßung, doch Salz enthielt auch diese. Sie sagten einfach: »Sana capàna«, die Kurzform einer Begrüßung »auf die Gesundheit unserer Gesellschaft«, wobei wie selbstverständlich die Gesellschaft von Hafenrangen gemeint ist. Nachdem wir uns einige Zeitlang kannten, fingen sie an, mich mit diesen Worten zu begrüßen; da wußte ich, daß ich dazugehörte, und darauf war ich stolz.

Diese Kinder lebten wie eine Schar Quairatten im modernden Rumpf eines Treidelkahns, der im seichten Schlamm vor jener Seite der Stadt vertäut lag, die auf die Tote Lagune und weiter in der Ferne auf San Michièl, die Toteninsel, hinausgeht. Im Inneren dieses dunklen und feuchten Schiffsleibs hielten sie sich freilich nur dann auf, wenn sie schliefen, denn wenn sie das nicht taten, waren sie gezwungen, sich auf die Suche nach Nahrung und nach Kleidung zu begeben. Sie lebten fast ausschließlich von Fisch; denn wenn es ihnen auch nicht gelang, anderes Eßbares zu stehlen, so konnten sie doch am Ende eines jeden Tages zum Fischmarkt eilen, da nach venezianischem Gesetz die Fischhändler zu einer bestimmten Stunde alle ihre Waren auf den Boden werfen mußten; auf diese Weise sollte verhindert werden, daß jemals andere als wirklich frische Ware verkauft wurde. Deshalb gab es dort immer eine Schar armer Leute, die sich um diese Reste und Überbleibsel balgten, unter denen freilich selten schmackhaftere Fische zu finden waren.

Ich brachte meinen neuen Freunden alles, was ich daheim an Resten von der Tafel ergattern oder aus der Küche stehlen konnte. Auf diese Weise bekamen die Kinder jedenfalls immer dann etwas Gemüse, wenn es mir gelang, so etwas wie kohlgefüllte Ravioli oder Rübensirup zu entwenden, Eier und Käse, wenn ich ihnen einen maccherone brachte, sowie sogar gutes Fleisch, wenn es mir gelang, ein bißchen Mortadella oder Schweinssülze mitgehen zu lassen. Ab und zu brachte ich ihnen einen Leckerbissen, über den sie sich gar nicht genugtun konnten. Ich war immer überzeugt gewesen, daß der Baba Natale oder Weihnachtsmann allen venezianischen Kindern die traditionelle Torta di Lasagna brachte. Doch als ich Ubaldo und Doris einmal zum Christfest davon brachte, gingen ihnen fast die Augen über, und sie brachen bei jeder Rosine und jedem Pinienkern, jeder eingemachten Zwiebel und kandierter Orangenschale in helle Rufe des Entzückens aus.

Auch an Kleidern brachte ich ihnen, was ich konnte – Abgetragenes oder Dinge, aus denen ich herausgewachsen war, für die Jungen und für die Mädchen Sachen, die meiner verstorbenen Mutter gehört hatten. Nicht alles paßte jedem, doch das machte ihnen nichts aus. Doris und die anderen drei oder vier Mädchen stolzierten in Umschlagtüchern und Gewändern einher, die so groß waren, daß sie mit den Hacken auf die Säume traten. Für meinen eigenen Gebrauch, wenn ich mit den Hafenrangen zusammen war, brachte ich ein paar von meinen alten Röcken und Hosen, die so abgewetzt waren, daß Zia Zulìa sie in jenen Abfalleimer geworfen hatte, in dem sie die Putzlumpen für den Haushalt verwahrte. Ich zog also aus, was ich an feinen Kleidern angehabt hatte, als ich das Haus verließ, zwängte sie zwischen die Spanten des alten Kahns, zog die zerrissenen Lumpen an und war so lange nicht von den anderen zu unterscheiden, bis es Zeit wurde, sich abermals umzuziehen und nach Hause zu gehen.

Vielleicht fragt sich der Leser, warum ich den Kindern an Stelle meiner mageren Geschenke kein Geld gab. Dabei gilt es zu bedenken, daß ich genauso sehr ein Waisenkind war wie sie und unter strenger Vormundschaft stand; um mich aus den Truhen der Familie Polo zu bedienen, war ich noch viel zu jung. Das Haushaltsgeld wurde uns vom Geschäft zugeteilt, das heißt, von dem Schreiber Isidoro Priuli. Wann immer Zulìa oder der Maggiordomo oder irgendein anderer Bediensteter irgendwelche Vorräte oder sonstwas für die Ca’ Polo kaufen mußte, war er oder sie gezwungen, in Begleitung eines Pagen vom Geschäft auf den Markt zu gehen. Dieser Pagenjunge trug die Börse bei sich, zählte die benötigten Dukaten, Zechinen oder Soldi ab und machte sich für jeden einzelnen Posten eine Notiz. Gab es etwas, das ich persönlich brauchte oder haben wollte und ich vor allem gute Gründe dafür anführte, warum ich es haben wollte, wurde es für gewöhnlich gekauft. Aber außer ein paar Kupfer-Bagatini besaß ich in meiner Kindheit zu keiner Zeit irgendwelches Klimpergeld.

Immerhin brachte ich es fertig, die Verhältnisse der Hafenrangen insoweit etwas zu verbessern, als sie das Feld ihrer Diebereien etwas ausweiten konnten. Sie hatten von jeher von den Krämern und Hökern ihres eigenen elendigen Viertels das eine oder andere gestohlen, von den kleinen Händlern also, die kaum besser dran waren als sie selbst und deren Waren das Stehlen kaum lohnten. Ich jedoch führte die Kinder nunmehr in das feinere Viertel, in dem ich lebte, und wo Waren von wesentlich besserer Qualität feilgeboten wurden. Und darüber hinaus dachten wir uns eine Methode des Stehlens aus, die weit besser war als das An-sich-Reißen und Sich-aus-dem-Staub-Machen.

Die Merceria ist die breiteste, geradeste und längste Straße Venedigs, was auf nichts anderes hinausläuft, als daß sie praktisch die einzige Straße überhaupt ist, die man breit und gerade oder lang nennen kann. Zu beiden Seiten reihen sich Läden mit offenen Fronten aneinander, und zwischen ihnen werden an langen Reihen von Ständen und Karren womöglich noch lebhaftere Geschäfte getätigt; hier wurde alles verkauft, von Seiden und Tuchen bis zu Stundengläsern und von gewöhnlichen Lebensmitteln des täglichen Bedarfs bis zu den feinsten Delikatessen.

Mal angenommen, wir erblickten auf dem Karren eines Fleischers eine Platte mit Kalbsschnitzeln, bei deren Anblick den Kindern das Wasser im Mund zusammenlief. Ein Junge namens Daniele war unser schnellster Läufer. Folglich war er es, der sich bis zum Karren durchdrängelte, eine Handvoll Schnitzel packte und machte, daß er davonkam, wobei er ums Haar ein kleines Mädchen umgerannt hätte, die ihm in den Weg gelaufen war. So dumm es schien – aber Daniele lief weiter die breite, gerade und offene Merceria hinunter, wo man ihn nicht aus den Augen verlor und leicht verfolgen konnte. Folglich liefen der Helfer des Fleischers sowie ein paar empörte Kunden hinter ihm her und riefen in einem fort: »Alto!« und »Salva!« und »Ladro!«

Doch bei dem Mädchen, das Daniele umgerannt hatte, handelte es sich um unsere Doris, der dieser in diesem Augenblick, da alles drunter und drüber ging, unbemerkt seine Beute zugesteckt hatte, mit der Doris, auf die niemand weiter achtete, in einer der gewundenen, schmalen Seitengassen verschwand. Da seine Flucht von den vielen Menschen auf der Merceria etwas behindert wurde, lief Daniele Gefahr, geschnappt zu werden. Seine Verfolger kamen näher, andere Vorübergehende griffen nach ihm, und alle zusammen riefen nach einem Sbiro. Die Sbiri sind Venedigs affengleiche Polizisten, und einer von ihnen, der den Ruf vernommen hatte, schob sich jetzt durch die gaffende Menge, um dem Dieb den Weg abzuschneiden. Nur stand ich in der Nähe – das schaffte ich jedesmal bei diesen Gelegenheiten. Daniele hörte auf zu laufen, woraufhin ich es war, der die Beine in die Hand nahm, so daß es aussah, als wäre ich der Gesuchte. Ich lief dem Sbiro also absichtlich in die ausgebreiteten Affenarme.

Nachdem man mir ein paar tüchtige Maulschellen verabreicht hatte, wurde ich unweigerlich erkannt. Darauf verließ ich mich jedesmal. Der Sbiro und die aufgebrachten Bürger schleiften mich zu meinem nicht weit von der Merceria entfernten Elternhaus. Wurde gegen die auf die Straße hinausführende Tür des Palazzo gehämmert, machte der unglückliche Maggiordomo Attilio auf, hörte sich die durcheinandergehenden Anschuldigungen und Verwünschungen an und setzte dann mißmutig seinen Daumenabdruck unter ein pagherò, ein Stück Papier, mit dem man verspricht zu bezahlen; auf diese Weise wurde die Compagnia Polo verpflichtet, den Fleischer für seinen Verlust zu entschädigen.

Nachdem der Hüter des Gesetzes mir ernstlich ins Gewissen geredet und mich noch einmal tüchtig durchgeschüttelt hatte, ließ er meinen Kragen los und entfernte sich mit der Menge.

Wenngleich ich auch nicht jedesmal einspringen mußte, wenn die Hafenrangen etwas stahlen – denn meistens schafften sie es, daß Räuber und Entgegennehmer ungeschoren davonkamen –, so wurde ich doch häufiger zur Ca’ Polo geschleift, als ich mich erinnern kann, was selbstverständlich nicht gerade dazu beitrug, Maistro Attilio von seiner Meinung abzubringen, daß Zia Zulìa es fertiggebracht habe, das erste schwarze Schaf in der Familie Polo heranzuziehen.

Details

Seiten
Erscheinungsform
Neuausgabe
Jahr
2023
ISBN (eBook)
9783986907297
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2023 (Dezember)
Schlagworte
Historischer Roman Abenteuerroman Romanbiografie Weltreise Historischer Roman Marco Polo Serie In 80 Tagen um die Welt Ken Follett Noah Gordon Neuerscheinung eBook

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Titel: Marco Polo - Der Besessene