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Sahib - Der Palast der Stürme

Die große Indien-Saga

von Timeri N. Murari (Autor:in) Matthias Dehne (Übersetzung) Dirk Muelder (Übersetzung)
©2024 708 Seiten

Zusammenfassung

Ein lebendiges Panorama indischen Lebens während der letzten Blüte des britischen Empire: »Sahib – Der Palast der Stürme« von Timeri N. Murari jetzt als eBook bei dotbooks.

Vom Waisenkind auf den Straßen Lahores zum Agenten der britischen Geheimpolizei – Kimball O’Hara, bekannt als Kim, hat einen beachtlichen Weg zurückgelegt. Indien allerdings, das bunte Land seiner Kindheit, ist kaum noch wiederzuerkennen: Korruption und Machtmissbrauch der britischen Herrscher haben ihre Spuren hinterlassen. Auf den vollen Märkten und Basaren brodelt die Sehnsucht nach Unabhängigkeit. Inmitten dieser Unruhen wird Kim beauftragt, die Revolutionsführer zu entlarven. Doch je tiefer er in ihre Kreise eintaucht, desto klarer wird sein Blick auf sein geliebtes Heimatland. Wem gehört seine Loyalität? Er wird eine Entscheidung treffen müssen – für sich selbst, für sein Land, für die Liebe seines Lebens.

»Ein sehr beachtlicher und unterhaltsamer Roman.« The Independent

Der historische Roman »Sahib – Der Palast der Stürme« von Timeri N. Murari führt die weltbekannte Geschichte von »Kim« weiter, dem Weltbestseller des »Dschungelbuch«-Autors Rudyard Kipling! Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Über dieses Buch:

Vom Waisenkind auf den Straßen Lahores zum Agenten der britischen Geheimpolizei – Kimball O’Hara, bekannt als Kim, hat einen beachtlichen Weg zurückgelegt. Indien allerdings, das bunte Land seiner Kindheit, ist kaum noch wiederzuerkennen: Korruption und Machtmissbrauch der britischen Herrscher haben ihre Spuren hinterlassen. Auf den vollen Märkten und Basaren brodelt die Sehnsucht nach Unabhängigkeit. Inmitten dieser Unruhen wird Kim beauftragt, die Revolutionsführer zu entlarven. Doch je tiefer er in ihre Kreise eintaucht, desto klarer wird sein Blick auf sein geliebtes Heimatland. Wem gehört seine Loyalität? Er wird eine Entscheidung treffen müssen – für sich selbst, für sein Land, für die Liebe seines Lebens.

Über den Autor:

Timeri N. Murari, geboren in Madras, Indien, zog für ein Ingenieurstudium ins Ausland, doch seine Liebe zu Geschichten und Büchern führte ihn schließlich zu einer Karriere als Journalist und Schriftsteller. Er schrieb für renommierte Zeitschriften wie den Guardian und die New York Times und veröffentlichte 18 Bücher, die in zahlreiche Sprachen übersetzt wurden. Heute lebt er mit seiner Frau in Indien.

Bei dotbooks veröffentlichte der Autor seine große Indien-Saga, bestehend aus »Sahib – der Palast der Stürme« und »Ramayana - Das Mosaik des Schicksals« sowie die historischen Romane »Die Sterne über dem Taj Mahal« und »Die Gärten von Madras«.

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eBook-Neuausgabe August 2024

Die englische Originalausgabe erschien erstmals 1987 unter dem Originaltitel »The Imperial Agent« bei New English Library, Sevenoaks, Kent. Die deutsche Erstausgabe erschien 1989 unter dem Titel »Der Sahib – Der große Indienroman« bei Lübbe

Copyright © der englischen Originalausgabe 1987 by Timeri N. Murari

Copyright © der deutschen Erstausgabe 1989 by Gustav Lübbe Verlag GmbH, Bergisch Gladbach

Glossar: Corinna Wessels-Mevissen

Copyright © der Neuausgabe 2024 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/oksana2010, Kaliko, Alex Anton, ROYOKTA, Nature Peaceful

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (lj)

ISBN 978-3-98952-171-1

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Bei diesem Roman handelt es sich um ein rein fiktives Werk, das vor dem Hintergrund einer bestimmten Zeit spielt oder geschrieben wurde – und als solches Dokument seiner Zeit von uns ohne nachträgliche Eingriffe neu veröffentlicht wird. In diesem eBook begegnen Sie daher möglicherweise Begrifflichkeiten, Weltanschauungen und Verhaltensweisen, die wir heute als unzeitgemäß oder diskriminierend verstehen. Diese Fiktion spiegelt nicht automatisch die Überzeugungen des Verlags wider oder die heutige Überzeugung der Autorinnen und Autoren, da sich diese seit der Erstveröffentlichung verändert haben können. Es ist außerdem möglich, dass dieses eBook Themenschilderungen enthält, die als belastend oder triggernd empfunden werden können. Bei genaueren Fragen zum Inhalt wenden Sie sich bitte an info@dotbooks.de.

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Timeri N. Murari

Sahib – Der Palast der Stürme

Die große Indien-Saga

Aus dem Englischen von Matthias Dehne und Dirk Muelder

dotbooks.

Widmung

Für meine

Schwester und Freundin

Nalini

Motto

That is the land of lost content,
I see it shining plain,
The happy highways where I went
And cannot come again.

A. E. Housman

A Shropshire Lad

Vorwort des Verfassers

Ich las Rudyard Kiplings Roman Kim erstmals in der Kindheit als aufregende Abenteuergeschichte; als ich das Buch ausgelesen hatte, wollte ich Kim sein. Ich wollte der Waisenjunge sein, der frei und ungehindert die Städte, Basare und Tempel des sagenumwobenen Indien des späten 19. Jahrhunderts durchstreifen konnte. Ich wollte in der Gesellschaft eines weisen und doch kindlich-unschuldigen alten Mannes über die Grand Trunk Road wandern und mit ihm den Fluß aus der Legende suchen. Ich wollte von den Engländern als Geheimagent angeworben werden, um ihnen im Großen Spiel gegen das expansionistische Rußland beizustehen. Und wie Kim wollte ich das Spionagehandwerk von einer Reihe hervorragender Lehrer erlernen. Ich wollte frei sein wie Kim und der Freund aller Welt, die mir bei meinen Abenteuern begegnen mochte. Ich wollte ...

Dann dämmerte mir, daß ich Kim ja gar nicht sein konnte: Kim war Engländer, ich Inder. Aber dieses unbedeutende Hindernis war eigentlich gar keines, denn Kims Geschichte klang für mich so ungeheuer glaubhaft: Er dachte und fühlte wie ein Inder. Kipling mochte Kim physisch als Engländer darstellen, in seiner Seele jedoch war er durch und durch Inder. Ich konnte mich als indischer Junge vollkommen mit ihm identifizieren – wie Leser in der ganzen Welt, unabhängig von Alter und Rasse, seit der Roman 1901 erschien.

Dreißig Jahre später las ich Kim dann erneut und erkannte in ihm auch dieses Mal grundsätzlich den Inder. Aber die Geschichte selbst bekam eine neue Bedeutung. Nicht mehr nur Abenteuerroman war sie, sondern tiefer, vielschichtiger. In der Kindheit hatte ich die Gespräche zwischen Kim und dem buddhistischen Lama schlicht überlesen, den er als seinen Lehrer annimmt und durch Indien geleitet. Plötzlich begriff ich Kim als einen Mystiker auf der Suche nach der letzten Wahrheit, gespalten zwischen der Erfahrung der Welt und dem inneren Wissen, daß eben diese Welt wie das Leben einen wesentlich tieferen Sinn besitzt.

Bei der ersten Lektüre in meiner Kindheit hatte ich außerdem die sexuellen Untertöne der Geschichte nicht bemerkt. Kim kennt sich aus, er ist sozusagen lebensklug und hat mannigfaltige Spielarten des Bösen gesehen – und war doch unschuldig geblieben. Es sagt viel über Kiplings Fähigkeiten als Geschichtenerzähler, daß er den Erwachsenen nicht weniger zu fesseln verstand als vor vielen Jahren das Kind. Mit einer Ausnahme: dem Ende des Buches. Der Schluß enttäuschte mich, denn Kim blieb irgendwo zwischen Himmel und Erde hängen – zwischen spiritueller Sehnsucht und dem realen Leben als Geheimagent, zwischen Indien und England.

Ich hatte schon seit langem einen Roman über die Briten in Indien geplant, über das langsame Erwachen der indischen Bevölkerung in einem von den Briten beherrschten Land. Zu Beginn unseres Jahrhunderts erschien die britische Herrschaft in Indien unerschütterlich und auf lange Dauer angelegt. Sie würde sich noch über Jahrhunderte halten. Daran zweifelten weder die Engländer noch die Inder, als sie gemeinsam das 20. Jahrhundert betraten.

Wenn auch nur eine Handvoll, so gab es sie doch, Männer und Frauen, Engländer wie Inder, die anderer Meinung waren. Und sie wurden darum verfolgt, weil sie glaubten, daß Indien frei sein sollte. Indien begann sich allmählich zu wandeln. Das interessierte mich. Ich wollte einen Roman über die ersten zwei Jahrzehnte unseres Jahrhunderts schreiben, der diese Wandlung in all ihrer Vielschichtigkeit darstellen konnte.

Dafür brauchte ich einen geeigneten Protagonisten, jemanden, der Engländer und Inder zugleich war. Beide Seiten mußten ihn uneingeschränkt als einen der ihren anerkennen. Kurz, es mußte ein Mensch sein, der den Konflikt entgegengesetzter Loyalitäten widerspiegeln konnte – ein Mensch, der sich eines Tages würde entscheiden müssen, für welche Seite er kämpfen will. Würde er dann als Engländer für die Fortsetzung der Herrschaft seines Volkes eintreten? Würde er wie ein Inder dagegen aufbegehren? Und um seine ausweglose Situation wirklich zu begreifen, mußte er bekannt sein und dem Leser vertraut. Wäre er zufällig außerdem Agent des Empire, würde er dann sogar eines Tages seine Herren und Meister verraten? Oder würde er sich von seinen Freunden lossagen, den Männern und Frauen, die die britische Herrschaft bekämpften? Gleichzeitig mußte er auch mich fesseln und mein Interesse am Zauber und an der Mystik Indiens befriedigen. Er mußte seiner spirituellen Suche folgen, wie ich meiner gefolgt war.

Ich konnte der Versuchung nicht widerstehen. Ich mußte einfach die Geschichte meines Kindheitshelden Kim aufgreifen und weiterspinnen.

Timeri N. Murari

Kapitel 1

Ein einziges dumpfes, geflüstertes Wort: »Mar«, tötet sie, ausgestoßen gegen Mitternacht, wenn das Land am dunkelsten ist und der kalte Wind von den Bergen heulend schlafende Geister weckt, sollte das Leben aller verändern, die es hörten. Ein unbedeutender, harmloser Mann sprach in der Nacht vom Tod. Weder konnte er böse Geister zu seinen Zwecken beschwören noch Armeen den Befehl zum Vormarsch erteilen. Er würde unbekannt sterben, in völliger Unwissenheit der Auswirkungen seines Geflüsters. Am Ende sollte es ein Weltreich vernichten. Und es sollte das Schicksal des Mannes umstoßen, der es hellwach und interessiert hörte.

Das mar, gleich dem mantra OM, das durch das Universum hallt, klang wie ein Echo im Bewußtsein der Zuhörer nach. Es waren nur zwanzig. Sie hockten im Schutz des Deodar, der Himalaya-Zeder. Und sie zogen sich aus dem Kreis zurück, denn sie fürchteten ihren Leidensgenossen, Kuli wie sie, der den Tod im Munde führte.

Auch die Berge in silbriger Ruhe am Horizont hörten sein Geflüster. Sie lauschen den Worten der Menschen, jedes Menschen. So vernehmen sie auch unausgesprochene Gedanken und Gebete; denn in ihren eisigen Schründen wohnt Gott. Die das böse Wort gehört hatten, wandten sich unbewußt jenen Bergen zu und erflehten stumm ihren Schutz. Sie waren zu weit entfernt, um sie in der finsteren Nacht klar zu erkennen, aber die Ketten des Himalaya hatten seit Urzeiten ihre Phantasie bevölkert, ihre Mythen ausgefüllt mit ihren Gestalten. Sie kannten die Macht dieser Berge, wußten, daß sie sie beschützen und reich beschenken konnten.

»Wo hast du dieses mar gehört?« fragte der junge Mann. Und mit dieser Frage, in diesem Augenblick änderte sich sein Leben, geriet in neue Bahnen. Auch er hatte sich aufschauend den Bergen zugekehrt, aber überwand sich dann und konzentrierte sich auf das unmittelbare Geschehen.

»Im Basar«, antwortete der Kuli. Sein Gesicht lag im Dunkeln. Nur wenn er an seiner bidi sog, zeigte die Glut seine hageren, unrasierten Züge und die dunklen, abgestumpften Augen. Ein Turban verdeckte seine Stirn.

»Und wer wollte töten?«

»Zwei Männer.« Er versuchte, mit seinen Blicken die Dunkelheit zu durchdringen. Niesel, fein wie Tau, setzte sich auf ihren Schultern nieder und durchdrang die dünnen, abgewetzten Schals. »Einer war etwa so alt wie du, der andere älter. Sie sind am Bahnhof in meine Rikscha gestiegen. Vor Ramchands Teebude habe ich sie abgesetzt.«

»Haben sie sich dort aufgehalten?«

»Nein. Sie trennten sich, als ob sie sich nicht kennen würden.«

»Und hast du herausbekommen, wen sie töten wollen?«

Der Kuli zuckte mit den Schultern. »Die Angrezis.«

»Alle?«

Der Mann lachte auf. »Das wären wohl ein paar zuviel. Einen, zwei, was weiß ich. Warum interessiert es dich überhaupt?«

»Es ist besser, wenn ich es weiß. Dann kann ich es verhindern.«

Andere hatten den Wortwechsel mitgehört. Sie würden ihn im Basar weitererzählen, und bald würde das ganze Land davon wissen. Der Verrat hatte bereits begonnen. Ein Geheimnis war aufgedeckt. Indien ist ein merkwürdiges Land; nichts bleibt dort jemals geheim. Ein Mann kann einem anderen Mann tief im Dschungel etwas ins Ohr flüstern, mit nur dem Falken und den Languren als Zeugen, und nur einen Tag später weiß man in tausend Meilen Entfernung davon. Keiner versteht, wie dies geschieht; aber es geschieht. Ganz gleich ob Wahrheit oder Gerücht, jedes Wort verbreitet sich schneller, als die Telegraphendrähte es weiterleiten können.

»Ich bin müde«, sagte der Kuli. »Wann endlich ist dieser tamasha zu Ende? Wie lange noch wollen sie tanzen und feiern?«

»Bis der Himmel so rosig glänzt wie die Wangen der Memsahibs«, antwortete ein anderer. »Und dann werden sie uns scheuchen. Jaldi karo! Jaldi karo, heißt es dann. Und wir werden uns fast umbringen, damit sie so schnell wie möglich nach Hause kommen.«

Gemeinsam starrten sie auf Viceregal Lodge, den Sitz des Vizekönigs. Es war ein Palast aus Holz mit vielen Türmchen, ein Gebäude wie kein anderes im ganzen Land. Sie konnten nicht wissen, daß es einen Traum verkörperte, ein Symbol der kollektiven Erinnerung einer fernen Insel, versetzt in die Vorberge des majestätischen Himalayas. Das gespenstische Licht der Nacht machte es zu einem Zauberschloß: Es mußte einem Märchen entsprungen und imstande sein, sich plötzlich in Luft aufzulösen. Im Augenblick jedoch leuchtete es im Glanz unzähliger Lichter, zerbarst fast unter dem Tosen der Musik. Unzählige Schatten wirbelten darin herum und erfüllten die Nachtluft mit lärmender Fröhlichkeit. Zwei Wächter in prächtigen Uniformen flankierten die Toreinfahrt. Ihre Lanzen funkelten im elektrischen Licht. Weitere Wächter standen entlang der Auffahrt Spalier; ihre Umrisse verloren sich in der Nacht. Nebel dämpfte die Lichter auf der Veranda und ließ die Diener in seinem fahlen Schleier verschwimmen. Sie hatten ihre Aufgabe bereits erfüllt, die Gäste in Empfang genommen. Aber wie die Wachen verharrten auch sie reglos auf ihrem Posten.

Viceregal Lodge, welch ein bescheidener Name für den Sitz solcher Macht. Im Winter regierte der Vizekönig das Land sonst von Kalkutta aus. Sein Besuch im Oktober 1905 geschah aus besonderem Anlaß: es war der Abschiedsball von Lord Curzon in Chota Simla.

Wie eine dunkle Halle wölbte sich der Speisesaal in seiner Mahagoni-Täfelung. Diese Wände warfen trotz liebevoller Politur nur wenig Licht zurück. In den Tagen der Petroleumlampen und Kerzen war er immer ein Schattenreich gewesen, aber auch jetzt konnte das elektrische Licht des Kronleuchters über der Tafel nicht die Düsternis vertreiben, die in den Ecken lauerte. Die Einrichtung war auf förmliche und feierliche Anlässe abgestimmt, eine fortwährende Mahnung an die Gäste, daß sie in Gegenwart der höchsten kaiserlichen Macht dinierten. An einer Wand hing ein Ölporträt Seiner Majestät Edward VII., des Königs von England und Kaisers von Indien. Es war fast lebensgroß; niemand im Saal konnte seinem hoheitsvollen Blick entkommen. Kriegerische Symbole aus der Geschichte des Empire dekorierten die übrigen Wände: verblichene Wimpel berühmter Regimenter; reichverzierte Lanzen, als Beute den besiegten indischen Fürsten entrissen; Musketen; jezails, jene altertümlichen indischen Vorderlader; Schwerter und Schilde. In diesem Saal drängten sich die Erinnerungen.

Vierundzwanzig Damen und Herren hatten soeben zum letztenmal mit Lord Curzon diniert. Er saß am Kopfende der Tafel, den riesigen Fenstern gegenüber, die die Schatten der Deodars einrahmten. Ein schlanker Mann. Eine aristokratische Erscheinung.

»Gentlemen«, rief Lord Curzon in den Saal. Alle Gäste erhoben sich und kehrten ihm das Gesicht zu, als ob sie ihn ehren wollten. Sie erhoben die Weingläser. Curzon wandte sich dem Bildnis Seiner Majestät zu.

»Auf den König und Kaiser!«

Nach dem Toast tranken sie. Dann setzten sie sich. Das vertraute Ritual war ihnen wie eine Bestätigung gewesen.

Nun erhob sich Lady Curzon, die Vizekönigin, vom gegenüberliegenden Tischende. Damit gab sie das Zeichen für den Rückzug der Damen. Die Gesellschaft stand geschlossen auf, wobei die Diener hinter ihnen die Stühle wegzogen. In ihren weißen Uniformen und scharlachroten Schärpen hatten die Lakaien den ganzen Abend schweigend dort gestanden. Der Vizekönig erhob sich als letzter. Selbst diese kleine Bewegung schien ihn anzustrengen. Im Vorbeigehen hielt Lady Curzon kurz vor ihrem Gatten inne und flüsterte: »Gott sei Dank ist das nun alles bald vorüber.«

Sie war groß wie er; nebeneinander sahen sie aus wie Prinz und Prinzessin. In ihrem feingeschnittenen Gesicht schimmerten haselnußbraune Augen, und das kastanienfarbene Haar trug sie hoch auf dem Kopf zusammengesteckt. Für eine Amerikanerin, die sogenannte ›reiche Partie aus Chikago‹ hatte sie ihre Rolle vorzüglich gespielt, aber sie war seit langem des Pomps und der Zeremonien müde, die das Amt ihres Gatten mit sich brachte. Curzon sah erschöpft aus. Er küßte seine Frau zart und züchtig.

Von der Mitte der Tafel beobachtete Oberst Creighton interessiert diese diskrete Bekundung ihrer Zuneigung. Sie hatten immer so getan, als wollten sie die Gerüchte zerstreuen, Curzon habe sie nur wegen ihres Geldes geheiratet. Natürlich war das Gerücht falsch, Curzon selbst von Haus aus einigermaßen vermögend. Aber der Oberst hatte seinen Spaß an solchem Klatsch. Als die Diener der Vizekönigin und den übrigen Damen die Tür öffneten, fluteten Musik und englisches Gelächter in den Saal. Tanzende Gestalten, verkleidet als Piraten, königliche Leibgardisten und elisabethanische Schönheiten schwebten wie Geister einer anderen Welt vor den Augen vorbei. Dann verschwanden sie hinter den sich schließenden Türen.

Diener schenkten Brandy ein, und die Herren suchten in den mit feinen Schnitzereien versehenen Kästchen die Zigarre ihrer Wahl. Abermals hoben sie die Gläser. Diesmal zu Ehren des Vizekönigs.

»Auf Eure Exzellenz. Möge Gott mit Ihnen sein.«

»Danke, meine Herren.« In steif-herrschaftlicher Haltung nahm er einen Schluck. »Zweifellos hat die Nachricht meiner Amtsniederlegung Sie erleichtert.«

Sie erhoben murmelnd Einspruch, aber es klang halbherzig und unehrlich. Curzon entging dies nicht. Unter sich jubelten sie wahrscheinlich. Aber auch er war erleichtert. Lord Kitchener, der Oberkommandeur der britisch-indischen Armee, hatte ihm das Leben vergällt. Der Mann ist ein Ungeheuer, sagte Curzon zu sich selbst. Ich habe meine Aufgabe damals so hoffnungsfroh begonnen, jetzt schmeckt alles nach Asche. Immer hatte ich davon geträumt, Vizekönig von Indien zu sein; ich wurde es, aber zu früh. Mit vierzig war ich noch zu jung, und nun bin ich zu alt, obwohl erst siebenundvierzig. Ich habe versagt, die Erwartungen nicht erfüllt. Während ich die Freuden der Macht genießen sollte, ist mir das Leben eine Qual. Mir ist der Erfolg durch die Finger zerronnen. Ich fühle mich abgekämpft wie ein Zugtier; ich könnte auf der Stelle umfallen. Was hätte ich für das Land denn noch tun können?

Der große Speisesaal deprimierte ihn. Sein Blick schweifte an der dunklen Täfelung entlang von Porträt zu Porträt, und er empfand alles plötzlich als einen gigantischen Schwindel: Wir sind hier eingeschlossen wie in einem dumpfen Mutterschoß. Bei den Sommervisiten hatte er im Garten immer ein riesiges Zelt mit vielen abgetrennten Räumen aufstellen lassen, wie es bei den Mogulen Brauch gewesen war, denn er wollte in dem Haus nicht schlafen.

»Mein Gott, wie ich Simla hasse«, sagte er schließlich ganz bewußt. Die Männer zuckten zusammen, als ob er sie geohrfeigt hätte. Es gefiel ihm – zumindest eine kleine Rückzahlung für ihre gesammelte Bosheit. Auch sie hatten ihn verraten, zwölf Judasse. »Jeden Sommer kommen wir hierher, ziehen uns Jahr um Jahr für Monate aus Indien zurück, grenzen uns vom Volk ab. Die Stadt ist nichts anderes als ein Bollwerk gegen die Inder.«

»Es ist die Sommerhitze, Exzellenz.« St. John Brodrick sprach es geduldig, als wollte er ein Kind belehren. Wie Curzon hatte er Eton und Balliol besucht; sie waren Schulfreunde. In den letzten Jahren war Brodrick allerdings Curzons Untergebener gewesen. Es hatte ihn giftig gemacht, wie man den stechenden Augen in seinem kantigen Gesicht ansah. »Man kann von keinem Engländer erwarten, daß er diese Hitze aushält.«

»Man läßt sich gehen, das ist es«, antwortete Curzon. »Man ist faul und selbstzufrieden. Wir sollten dem Eingeborenen ein Beispiel geben. Wie kann er von uns lernen, wenn er sieht, wie wir uns in dieses kleine England absetzen und ihn obendrein davon aussperren.«

»Er soll ja auch gar nichts lernen«, fiel der Oberst ein. »Wir sind die Herren im Lande. Wir tun, was uns zu tun beliebt.«

Curzon spürte, wie wenig der Oberst ihm beipflichtete. »Aber wie lange noch?«

»Für immer.«

»Selbstgefällige Augenwischerei«, sagte Curzon. »Es könnte uns gelingen, aber nur, wenn wir die Eingeborenen mitreden lassen, ihnen ein gewisses Maß an Selbstbestimmung einräumen. Ich zweifle nicht am göttlichen Recht unserer Herrschaft. Aber dieses Recht macht Erbarmen und Mitgefühl zu unserer Pflicht.«

Details

Seiten
Erscheinungsform
Neuausgabe
Jahr
2024
ISBN (eBook)
9783989521711
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2024 (August)
Schlagworte
Historienroman Indien-Saga Exotikroman Gandhi-Roman Jeffrey Archer Linda Holeman Rudyard Kipling Palast der Winde Neuerscheinung eBook

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Titel: Sahib - Der Palast der Stürme