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Ramayana - Das Mosaik des Schicksals

Die große Indien-Saga

von Timeri N. Murari (Autor:in) Ekkehard Reinke (Übersetzung)
©2024 645 Seiten

Zusammenfassung

Zwei Liebende in den Fängen des Krieges: »Ramayana – Das Mosaik des Schicksals« von Timeri N. Murari jetzt als eBook bei dotbooks.

Kimball O'Hara und seine Geliebte Parvati befinden sich auf der Flucht vor Parvatis brutalem Ehemann und seiner hinterhältigen Mutter – und auch ein hochrangiges Mitglied des britischen Militärs ist ihnen auf den Fersen … Doch gerade als sie vermeintliche Sicherheit gefunden haben, bricht der Erste Weltkrieg aus und das Liebespaar ist gezwungen, sich zu trennen. Ob das Schicksal sie wieder zusammen führen wird?

Unterdessen ruft Gandhi Inder und Muslime zum gemeinsamen Widerstand gegen die britische Herrschaft um sich. Doch der friedliche Protest wird zum Massaker – und es wird deutlicher als je zuvor: Der Weg zur Freiheit - für Kim, für seine Geliebte Parvati und für Indien selbst – ist noch lang.

»Murari fängt die historische Atmosphäre des großen, schillernden Subkontinents ein.« Sunday Express

Die Geschichte von Kiplings Helden »Kim« geht weiter! Der farbenprächtige historische Roman »Ramayana – Das Mosaik des Schicksals« von Timeri N. Murari« Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Über dieses Buch:

Kimball O'Hara und seine Geliebte Parvati befinden sich auf der Flucht vor Parvatis brutalem Ehemann und seiner hinterhältigen Mutter – und auch ein hochrangiges Mitglied des britischen Militärs ist ihnen auf den Fersen … Doch gerade als sie vermeintliche Sicherheit gefunden haben, bricht der Erste Weltkrieg aus und das Liebespaar ist gezwungen, sich zu trennen. Ob das Schicksal sie wieder zusammen führen wird? Unterdessen ruft Gandhi Inder und Muslime zum gemeinsamen Widerstand gegen die britische Herrschaft um sich. Doch der friedliche Protest wird zum Massaker – und es wird deutlicher als je zuvor: Der Weg zur Freiheit – für Kim, für seine Geliebte Parvati und für Indien selbst – ist noch lang.

Über den Autor:

Timeri N. Murari, geboren in Madras, Indien, zog für ein Ingenieurstudium ins Ausland, doch seine Liebe zu Geschichten und Büchern führte ihn schließlich zu einer Karriere als Journalist und Schriftsteller. Er schrieb für renommierte Zeitschriften wie den Guardian und die New York Times und veröffentlichte 18 Bücher, die in zahlreiche Sprachen übersetzt wurden. Heute lebt er mit seiner Frau in Indien.

Bei dotbooks veröffentlichte der Autor seine große Indien-Saga, bestehend aus »Sahib – der Palast der Stürme« und »Ramayana – Das Mosaik des Schicksals« sowie die historischen Romane »Die Sterne über dem Taj Mahal« und »Die Gärten von Madras«.

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eBook-Neuausgabe August 2024

Die englische Originalausgabe erschien erstmals 1988 unter dem Originaltitel »The Last Victory« bei New English Library, Kent. Die deutsche Erstausgabe erschien 1995 unter dem Titel »Ramayana« bei Lübbe.

Copyright © der englischen Originalausgabe 1988 by V.A.S.U. Ltd.

Copyright © der deutschen Erstausgabe 1995 by Gustav Lübbe Verlag GmbH, Bergisch Gladbach

Copyright © der Neuausgabe 2024 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von Shutterstock/saikop, Katika, Sensvector, ROYOKTA, Neture Peaceful, anjajuli

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (lj)

ISBN 978-3-98952-313-5

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dotbooks ist ein Verlagslabel der dotbooks GmbH, einem Unternehmen der Egmont-Gruppe. Egmont ist Dänemarks größter Medienkonzern und gehört der Egmont-Stiftung, die jährlich Kinder aus schwierigen Verhältnissen mit fast 13,4 Millionen Euro unterstützt: www.egmont.com/support-children-and-young-people. Danke, dass Sie mit dem Kauf dieses eBooks dazu beitragen!

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Timeri N. Murari

Ramayana – Das Mosaik des Schicksals

Die große Indien-Saga

Aus dem Englischen von Ekkehart Reinke

dotbooks.

Widmung

Für meine Schwester PADMINT in Liebe

An seiner Quelle läßt sich der Bach

noch mit einem Zweig umleiten.

Ist er aber zum Fluß angeschwollen,

kann ihn nicht mal ein Elefant überqueren.

– Sa’di

Kapitel 1

Oktober 1910

Beim Frühstück fühlte der Oberst sich höchst einsam. Das einst so angenehme Ritual mißfiel ihm jetzt gründlich. Früher war es die einzige Mahlzeit gewesen, die er gemeinsam mit seinen Kindern eingenommen hatte.

›Wenn ich scharf lausche, kann ich sie noch hören‹, dachte er. ›Ihre Stimmen erklingen hier immer noch wie ein fernes Echo. Mal sind es die hohen, schrillen Stimmen kleiner Kinder, mal die tieferen Töne von Erwachsenen. Gott sei Dank leben sie nur in meiner Einbildung. Geister leben nicht. Denn wenn sie es täten und wir könnten sie hören, würde ich auch von den Bergen den Widerhall von Richards Todesschreien vernehmen ... ‹

Er verdrängte diese schmerzvollen Erinnerungen und nahm am Tisch Platz. Es standen nur zwei Stühle da. Die anderen hatte er wegschaffen lassen. Sie hätten nur wieder Kummer in ihm geweckt. Von seinem Platz aus sah er Veranda und Garten vor sich. Er sah einen Jacaranda-Baum, ein Beet Channas und eine Reihe von Töpfen mit Wunderpflanzen. Er konnte die Spatzen auf dem frisch gesprengten Rasen herumhüpfen sehen und hören, wie sich Krähen und Eichhörnchen beschimpften. Zu dieser Tageszeit liebte er Indien am meisten. Da war es noch voller Verheißung und unschuldig wie ein Kind. Gegen Mittag würde es sein wahres Wesen zeigen, uralt und unehrlich.

Abdul stellte die Teekanne auf den Tisch, verbeugte sich und begab sich wieder zu seinem Platz an der rückwärtigen Veranda. Seine weiße Uniform wies von der Morgenarbeit schon Flecken auf. Seitwärts auf einem Tablett lagen die Zeitschrift Englishman und ein lederfarbenes Telegramm. Auch sonntags war der Oberst wie immer korrekt gekleidet und trug einen frischgebügelten Leinenanzug, ein gestärktes weißes Hemd und die Regimentskrawatte. Als Europäer war er der Meinung, daß die Eingeborenen ihn nie anders als in tadelloser Aufmachung sehen durften. Sogar sein militärischer Schnurrbart wurde täglich gestutzt.

Der Oberst beachtete das Telegramm nicht, da er im Gegensatz zu anderen Männern ständig Telegramme erhielt und abschickte. Sie waren seine täglichen Kommunikationsmittel und bedeuteten keine besondere Dringlichkeit. Ungeöffnet ließ er es in die Tasche gleiten. Als seine Kusine Emma erschien, erhob er sich halb und wechselte ein höfliches »Guten Morgen« mit ihr. Abdul brachte eine Terrine Haferflocken. Emma saß dem Oberst kerzengerade und steif wie ein betender Mantis gegenüber. Sie war eine entfernte Kusine, eine ältliche Witwe, die dem Oberst schon seit vielen Jahren den Haushalt führte. Sie lebte ihr eigenes Leben, halb unsichtbar, immer in Reichweite, aber nie aufdringlich. Als Gesellschafterin konnte er sie kaum betrachten. Um das Schweigen nicht peinlich werden zu lassen, hatte er die Gewohnheit angenommen, bei Tisch die Zeitung zu überfliegen.

Ungeduldig schob er den halbgeleerten Teller weg, entschuldigte sich, tätschelte die Hunde und schlenderte auf die Veranda. Seine Gharri wartete, und der Syce hielt ihm die Tür auf. Die Gharri hielt nicht weit entfernt auf der Straße, und er hörte, wie sein Fahrer Sen jemanden losschickte. Der Oberst schob den Kopf aus dem Fenster und sah einen untersetzten Mann mit einem verärgerten, mürrischen Gesicht, der den Kopf des Pferdes hielt.

»Komm her!« befahl er und öffnete die Tür. Der Mann kam hinkend herüber, erklomm die Stufen und hockte sich auf den Fußboden. Sobald die Tür wieder geschlossen war, konnte man ihn von der Straße aus nicht mehr sehen.

»Was ist los?« fragte der Oberst.

»Kim ist uns entwischt«, sagte Madan, ohne den Oberst anzusehen. Dessen Blick machte ihn immer nervös. Die kühlen blauen Augen, die von dichten Augenbrauen und Tränensäcken eingerahmt waren, erinnerten Madan an ein Raubtier. »Und mein Bruder ist tot.«

»Das tut mir leid. Er war ein guter Mann.« Damit meinte der Oberst nur, daß er ihm treu ergeben gewesen war. Diese Eigenschaft stand für ihn an erster Stelle. Madans Bruder war ein grausamer Mann gewesen, gefährlicher als Madan selbst.

»Wer hat ihn getötet?«

»Kim. Ich hab es mit eigenen Augen gesehen. Er hätte mich auch getötet. Aber ich konnte noch flüchten.«

»Jemanden einfach zu töten, ist nicht Kims Art. Dafür kenne ich ihn zu gut, wie meinen eigenen Sohn. Wenn er getötet hat, muß er einen Grund gehabt haben.«

»Mein Bruder hat seinen Begleiter getötet, den dunkelhäutigen Dünnen.«

»Narain«, sagte der Oberst seufzend. »Narain stand Kim nahe. Ja, dafür würde er jemanden töten. Und die Frau?«

»Er hat sie aus dem Inselpalast befreit. Es war noch ein dritter Mann dabei. Zuerst hab ich ihn nicht gesehen, aber als ich die Treppe von der Festung runterlief, kam er aus dem Dunkeln. Er trug ein Schwert. Oberst-Sahib, Sie haben mich nicht vor ihm gewarnt.« Madan war gekränkt über diesen Mangel an Vertrauen. Der Mann hätte ihm beinahe das Schwert in den Leib gerammt.

»Von dem wußte ich nichts. Beschreibe ihn!«

»Er ist so groß und dünn wie ein Storch, hat eine Brille auf und ... «

Der Oberst bedeutete ihm zu schweigen. Isaac Newton! Newton war sein Geheimdienstchef in Bombay. Wie war er nach Ranthambor gekommen? Er konnte Kim und Narain nicht vom Gefängnis Tihar gefolgt sein. Oder hatte Narain seinem Onkel von Delhi aus telegrafiert, sich dort mit Ihnen zu treffen? Bestimmt nicht. Also hatte Newton von Bombay aus Madan und seinen Bruder verfolgt. Das stellte seine Treue in Frage. Für diesen Verrat verdiente Newton eine Strafe. Nicht sofort, aber dann, wenn es an der Zeit war.

»Hat er mit Kim gesprochen?« fragte der Oberst, in der Hoffnung, er habe es nicht getan.

»Ich weiß es nicht, Oberst-Sahib. Sie haben mich zu zweit angegriffen, und ich bin Ihnen nur um Haaresbreite entkommen.«

»Sie haben dich aber gesehen?«

»Ich glaube, ja.«

Der Oberst fühlte sich machtlos. Er wollte sich die offensichtliche Wahrheit nicht eingestehen. Wenn Newton und Kim sich getroffen hatten, dann wußte Kim jetzt, daß Madan sein, des Obersten Mann war. Madan hatte Kim vor Jahren in Bombay angeschossen. Zugegeben, es war ein unglücklicher Zufall gewesen, aber Kim hätte tot sein können.

»Hat Kim dich erkannt? Oder war es noch dunkel?«

»Es war ganz früh am Morgen, Oberst-Sahib. Man konnte nicht die Hand vor Augen sehen.«

»Was macht das für einen Unterschied?« sagte der Oberst laut zu sich selbst. Er war jetzt überzeugt, daß Newton ihn verraten hatte. Und Kim wußte nun, daß Madan sein Mann war. »Es ist ein Jammer, daß dein Bruder getötet wurde. Er war ein guter Mann und kein Dummkopf wie du. Kannst du Befehle entgegennehmen?«

»Befehlen Sie mir, Oberst-Sahib! Ich werde keinen Fehler mehr machen. Wünschen Sie, daß Kim getötet wird? Dann werde ich es tun.«

»Nein, nein, nein, du Dummkopf! Ich habe nie gewünscht, daß Kim getötet wird. Ich habe deinem Bruder befohlen, zu warten, Kim zu beobachten und ihm zu folgen. Statt dessen läßt er sich umbringen, und jetzt weiß Kim, daß du für mich arbeitest. Geh dorthin zurück, wo du ihn aus den Augen verloren hast! Er hat die Frau bei sich und kann nicht so schnell vorwärtskommen, als wenn er allein unterwegs wäre. Du mußt herausfinden, in welcher Richtung sie geflüchtet sind. Danach erstattest du mir Bericht. Er darf nicht einmal den Verdacht haben, daß du ihm folgst. Hast du verstanden?«

»Ja, Sahib. Aber er wird nicht mehr in Ranthambor sein.«

»Das weiß ich«, sagte der Oberst. Er mußte sich zusammennehmen, um seine Verärgerung nicht zu zeigen. »Es genügt, wenn du die Leute fragst. Sie werden dir alles sagen. Er hat die Frau bei sich. Viele werden sie gesehen haben. In diesem Land gibt es keine Geheimnisse, die nicht entdeckt werden. Er wird sich wahrscheinlich nach Norden gewandt haben. Dort kennt er das Land, und dort hat er viele Freunde. Viele!«

»Ich brauche Geld«, sagte Madan.

Der Oberst gab ihm eine Handvoll Rupien. Madan zählte sie sorgfältig. Dann schlüpfte er hinaus und verschwand in der Menge. Der Oberst hoffte, Madan werde nicht mehr tun, als er ihm befohlen hatte. Er war halsstarrig und rachsüchtig, während sein Bruder diszipliniert und gefährlich gewesen war, ein nützliches, aber nicht vollkommenes Werkzeug. Kim hatte ihn also getötet. Er hätte gern gewußt, wie Kim, der ein frommer Mann war, sich nach dieser Tat fühlen mochte.

›Was wird Kim jetzt denken? Er wird meine Pläne kennen und glauben, ich hätte mich gegen ihn gestellt. Er wird nicht verstehen, daß ich keinem Menschen, nicht einmal ihm, die Treue halten darf, sondern allein der Krone. Um unsere Ziele zu erreichen, muß ich mich der Menschen bedienen, selbst wenn ich gezwungen bin, sie zu hintergehen und ihren Tod herbeizuführen. Ich muß ihm diese Treue verständlich machen. Er muß begreifen, daß das Indien, das er liebt, nur vor dem Chaos bewahrt werden kann, wenn es weiterhin von England beherrscht wird. Sobald er das verstanden hat, kann ich ihn sicherlich zurückgewinnen. Dann wird er wieder mir und damit der Krone dienen.‹

Der Oberst hoffte inbrünstig, daß Kim ihm nicht verloren sei. Seine Kinder liebt man aus väterlichem Pflichtgefühl, aber wie steht es mit einem fremden Kind? Kim war sein drittes Kind und stand ihm näher als die beiden anderen, weil er es sich selbst ausgesucht hatte. Seine Zuneigung zu Kim war frei von Pflichtgefühl, sie kam aus dem Herzen. Sein Schmerz über Kims Treuebruch war stärker, als wenn er getötet worden wäre. Denn der Tod schließt immer Vergebung ein. Der Oberst hatte ihn ausgewählt und seine Erziehung überwacht. Kein Fürst konnte glücklicher gewesen sein.

Zugegeben, er hatte es zu seinem eigenen Vorteil getan. Der Oberst brauchte Kim. Er brauchte seine Fähigkeit, ein Inder zu sein und kein Engländer, der einen Inder spielte. Und er war des festen Glaubens, daß Kim auch ihn brauchte, um ihn daran zu erinnern, daß er ein Brite war, und ihn vor einem frühen Tode im Elend zu bewahren. Der Oberst hatte ihn zur Treue zu sich und der Krone erzogen. Sie hatten das Große Spiel an der Nordwestgrenze gut gespielt.

Doch dann hatte ein neues Spiel begonnen, und er hatte Kim gegen Indien ausgespielt. Er hatte geglaubt, er hätte Kim seiner natürlichen Mutter, der Mutter Indien, entwöhnt. Das war ein Fehler gewesen. Der Oberst hatte ihn aufgefordert, seine Wahl zu treffen, und ihn dann gegen seine eigenen Landsleute eingesetzt. Doch von einem Punkt war er überzeugt: Kim war sich seiner Identität noch immer nicht sicher. War er Inder? Oder Engländer? Kim schwankte zwischen beidem. Und er war viel zu wertvoll, als daß der Oberst ihn leichten Herzens aufgeben konnte. Er mußte ihn finden und ihn wieder umwerben, wie er es getan hatte, als er den gutaussehenden, frechen Jungen zum erstenmal erblickt hatte. Damals war Kim mit einem alten Lama durchs Land gewandert. Jetzt, da Indien sich zu verändern begann, brauchte er Kim mehr denn je.

Dem Oberst fiel das Telegramm ein. Er riß es auf in der Erwartung, eine Nachricht in Codeschrift vorzufinden. Statt dessen erlebte er eine freudige Überraschung. Im geschützten Inneren seiner Gharri lächelte er erfreut.

GLÜCKWUNSCH ZUR ERHEBUNG IN DEN RITTERSTAND STOP WURDE SOEBEN IN DER EHRENLISTE ANLÄSSLICH DES KÖNIGLICHEN GEBURTSTAGS BEKANNTGEGEBEN STOP SCHLAGE VOR ERSTES SCHIFF NACH ENGLAND ZUR ENTGEGENNAHME DES RITTERSCHLAGS ZU NEHMEN STOP BRAUCHE IHRE ANWESENHEIT AUCH FÜR WICHTIGE BESPRECHUNGEN STOP MORLEY.

John Morley war Kolonialminister für Indien. Vor drei Jahren hatte er Indien besucht, um mit Lord Minto Gesetzesreformen auszuarbeiten. Morley wollte mehr Inder in den Beratungsausschüssen des Gouverneurs haben, die bis dahin exklusiv Briten vorbehalten waren. Die Gouverneure der indischen Provinzen waren beinahe Vizekönige und regierten autoritär, denn sie hatten gegenüber den Beschlüssen der Ausschüsse das Vetorecht. Die Inder, die bei noch stark eingeschränktem Wahlrecht hineingewählt wurden, waren reiche Landbesitzer oder Universitätsabsolventen. Sie würden nur als Aushängeschilder dienen.

Lord Minto und den Mitgliedern im Rat des Vizekönigs und des indischen Verwaltungsdienstes war es zudem gelungen, auch dieses liberale Gesetz zu unterlaufen. Sie sorgten dafür, daß Inder nur in die Stadträte gewählt wurden. Immerhin mußte die indische Regierung zugestehen, daß Mr. Morley einen Inder in den Rat des Vizekönigs berief. Während Morleys Aufenthalt in Indien war der Oberst für Lord Minto eine große Hilfe bei dessen erfolgreichem Widerstand gegen die Reformen gewesen. Daher kam seine Erhebung in den Ritterstand nicht gänzlich unerwartet.

Beim Betreten des weitläufigen Irrgartens des Writer’s Building, dem Verwaltungszentrum der indischen Regierung, merkte der Oberst, daß bereits alle Bescheid wußten. Männer schüttelten ihm die Hand, klopften ihm auf den Rücken und schlugen vor, das Ereignis zu feiern. Die Inder verbeugten sich ehrerbietig. Beides nahm der Oberst mit gleichbleibender Höflichkeit und Bescheidenheit entgegen.

In seinem Büro verließ ihn die gehobene Stimmung. Er hatte niemanden, der seine Freude wirklich mit ihm teilte. Er fühlte sich leer. Wie beim Frühstück hatte er das Empfinden, unter Fremden zu leben, und wieder bedauerte er zutiefst, daß Richard tot war. Er stellte sich vor, wie Richards Gesicht vor Freude gestrahlt hätte. Er hätte laut gejubelt und getanzt, und sie hätten die ganze Nacht zusammengesessen und Champagner getrunken. Der Oberst lächelte kurz und wurde gleich wieder ernst. Richard würde es nicht mehr erfahren.

Der Oberst setzte ein Telegramm an Elizabeth auf, die sich an Bord ihres Schiffs befand:

WURDE MIT DER ERHEBUNG IN DEN RITTERSTAND GEEHRT STOP WERDE SOBALD WIE MÖGLICH NACH ENGLAND REISEN STOP ANKUNFTSDATUM UND NAME DES DAMPFERS WIRD TELEGRAFISCH MITGETEILT STOP IN LIEBE VATER.

Er war nicht sicher, was seine Tochter denken würde. Sie hatten sich mit bitteren Worten getrennt, denn sie war über seinen ungeheuerlichen Betrug sehr wütend gewesen.

Der Oberst verdrängte die Gedanken an seine Tochter. Er hatte einen Berg von Arbeit vor sich. Wenn er vom Kolonialminister nach London gerufen wurde, so hatte das einen Grund. Sie wollten einen Bericht von ihm haben. Nach seinen Empfehlungen als Chef des politischen Geheimdienstes würden der Kolonialminister und die britische Regierung eine langfristige Politik für Indien entwerfen.

Er forderte Akten an, und obwohl er die meisten kannte, las er noch einmal aufmerksam die Geheimberichte seiner Agenten, der Polizei, politischer Informanten und der Sekretäre aller Ministerien. Er arbeitete den ganzen Tag ununterbrochen und nahm sich nicht mal die Zeit zum Mittagessen. Ein Bote brachte ihm ein Sandwich und eine Kanne Tee. Als der Tag zur Neige ging, hatte er einen ganzen Block mit Notizen gefüllt. Müde, aber zufrieden, lehnte er sich zurück. Er glaubte, das Muster der zukünftigen politischen Entwicklung in Indien vor sich zu sehen. Und er hatte eine Formel gefunden, die London anwenden konnte, um diese Entwicklung zu gewährleisten.

Er stand auf und schaute aus dem Fenster. Die Dunkelheit draußen war wie Samt, bestickt mit Tausenden flackernder Lichter. Seine Büroangestellten und Boten warteten geduldig im Vorzimmer. Er hatte sie ganz vergessen. Nun entließ er sie für heute. Das Writer’s Building war bereits menschenleer. Seine Gharri wartete an der Vortreppe, und er stieg ein.

»Nach Haus, Sahib?« rief Sen vom Bock herunter.

Details

Seiten
Erscheinungsform
Neuausgabe
Erscheinungsjahr
2024
ISBN (eBook)
9783989523135
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2024 (August)
Schlagworte
Historienroman Indien-Saga Exotikroman Gandhi-Roman Jeffrey Archer Linda Holeman Rudyard Kipling Palast der Winde Neuerscheinung eBook

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Titel: Ramayana - Das Mosaik des Schicksals