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Die Gärten von Madras

Roman

von Timeri N. Murari (Autor:in) Eva Malsch (Übersetzung)
©2024 639 Seiten

Zusammenfassung

Wind der Veränderung: Der Fall einer aristokratischen Familie im Indien der 50er Jahre

Indien, 1950: Trotz des frühen Todes seiner Mutter wächst der junge Krishna glücklich mit seinen vier Geschwistern im Haus seiner wohlhabenden Großeltern in Madras auf. Doch als Nayana, Krishnas verwitweter Vater, eine Engländerin mit nach Hause bringt, droht die Idylle seiner glücklichen Kindheit zu zerbrechen – denn Victoria Greene will, dass Krishna und seine Geschwister nach westlichen Idealen aufwachsen. Während Nayana, der selbst in Oxford studierte, die neuen Erziehungsmaßnahmen seiner Frau befürwortet, beginnt sich der Lebensweg der fünf Geschwister auf tragische Weise zu entzweien … Zur gleichen Zeit sind die Folgen der vor kurzem erlangten Unabhängigkeit von den Briten im ganzen Land deutlich spürbar – auch für Krishnas Familie, deren Schicksal untrennbar mit den turbulenten historischen Entwicklungen verwoben ist …

»Exotisch und berauschend!« The Independent

Ein mitreißender Historienroman über das Schicksal einer Familie, eingebettet in das mit Veränderung pulsierende Indien jener Zeit – für Fans von Noah Gordon und des Weltbestsellers »Palast der Winde«.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Über dieses Buch:

Indien, 1950: Trotz des frühen Todes seiner Mutter wächst der junge Krishna glücklich mit seinen vier Geschwistern im Haus seiner wohlhabenden Großeltern in Madras auf. Doch als Nayana, Krishnas verwitweter Vater, eine Engländerin mit nach Hause bringt, droht die Idylle seiner glücklichen Kindheit zu zerbrechen – denn Victoria Greene will, dass Krishna und seine Geschwister nach westlichen Idealen aufwachsen. Während Nayana, der selbst in Oxford studierte, die neuen Erziehungsmaßnahmen seiner Frau befürwortet, beginnt sich der Lebensweg der fünf Geschwister auf tragische Weise zu entzweien … Zur gleichen Zeit sind die Folgen der vor kurzem erlangten Unabhängigkeit von den Briten im ganzen Land deutlich spürbar – auch für Krishnas Familie, deren Schicksal untrennbar mit den turbulenten historischen Entwicklungen verwoben ist …

Über den Autor:

Timeri N. Murari, geboren in Madras, Indien, zog für ein Ingenieurstudium ins Ausland, doch seine Liebe zu Geschichten und Büchern führte ihn schließlich zu einer Karriere als Journalist und Schriftsteller. Er schrieb für renommierte Zeitschriften wie den Guardian und die New York Times und veröffentlichte 18 Bücher, die in zahlreiche Sprachen übersetzt wurden. Heute lebt er mit seiner Frau in Indien.

Bei dotbooks veröffentlichte der Autor seine große Indien-Saga, bestehend aus »Sahib – der Palast der Stürme« und »Ramayana - Das Mosaik des Schicksals« sowie die historischen Romane »Die Sterne über dem Taj Mahal« und »Die Gärten von Madras«.

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eBook-Neuausgabe August 2024

Die englische Originalausgabe erschien erstmals 1996 unter dem Originaltitel »Steps from Paradise« bei Hodder & Stoughton, London. Die deutsche Erstausgabe erschien 1999 unter dem Titel »Das Haus in Madras« bei Bastei Lübbe

Copyright © der englischen Originalausgabe 1996 by Timeri N. Murari

Copyright © der deutschen Erstausgabe 1999 by Bastei-Verlag Gustav H. Lübbe GmbH & Co., Bergisch Gladbach

Copyright © der Neuausgabe 2024 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter erwendung von Shutterstock/Richard Griffin, Katika und AdobeStock/vectorizer88

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (lj)

ISBN 978-3-98952-174-2

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Bei diesem Roman handelt es sich um ein rein fiktives Werk, das vor dem Hintergrund einer bestimmten Zeit spielt oder geschrieben wurde – und als solches Dokument seiner Zeit von uns ohne nachträgliche Eingriffe neu veröffentlicht wird. In diesem eBook begegnen Sie daher möglicherweise Begrifflichkeiten, Weltanschauungen und Verhaltensweisen, die wir heute als unzeitgemäß oder diskriminierend verstehen. Diese Fiktion spiegelt nicht automatisch die Überzeugungen des Verlags wider oder die heutige Überzeugung der Autorinnen und Autoren, da sich diese seit der Erstveröffentlichung verändert haben können. Es ist außerdem möglich, dass dieses eBook Themenschilderungen enthält, die als belastend oder triggernd empfunden werden können. Bei genaueren Fragen zum Inhalt wenden Sie sich bitte an info@dotbooks.de.

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Timeri N. Murari

Die Gärten von Madras

Roman

Aus dem Englischen von Eva Malsch

dotbooks.

Widmung

Ganz besonders für Maureen,
zum Dank für ihre Hilfe und Ermutigung,
in Liebe.

Motto

Die Vergangenheit ist nie vergangen.

William Faulkner

Arjuna: O Krishna, was zwingt einen zu sündigen, sogar gegen den eigenen Willen, als würde man gewaltsam dazu getrieben?

Krishna: Es ist Begierde, es ist Zorn, geboren aus Rajoguna, verzehrend und höchst sündhaft. Und wisse, hier ist jeder ein Feind.

Bhagavadgita

1950

Kapitel 1: Die Fremde

Ich bin Krishna. Nein, nicht jener Krishna, der Wagenlenker, der ruhig und gelassen auf dem Schlachtfeld Kurukshetra stand und dem widerstrebenden Krieger Arjuna die Schriften der Bhagavadgita erläuterte. Ich bin ein anderer Krishna, ein ganz normaler achtjähriger Junge, der sich bemüht, möglichst bald neun zu werden. Seltsam, daß sich keiner von uns an das genaue Datum des Ereignisses erinnert. Wir vermerkten es nicht in den Kalendern unserer Gehirne, weil wir es nicht so wichtig fanden. Aber ich entsinne mich ...

Zur schönsten Tageszeit, als die Sonne unterging, kehrte unser Nayana mit einer europäischen Lady aus dem Büro zurück. Es wäre eine gewaltige Untertreibung, würde man behaupten, es hätte uns überrascht. Kein Zauberer hätte ein erstaunlicheres Wunder bewirken können. An diesem Morgen hatten wir Nayana zum Abschied nachgewinkt, wie an jedem anderen Tag. Und er hatte uns nicht vor der Fremden gewarnt, die er zu uns bringen würde.

»Wer ist sie?« flüsterten wir einander zu.

»Das weiß ich nicht«, antworteten wir einstimmig. Verschwitzt und schmutzig von unserem Spiel, hatten wir uns auf die niedrige Brunnenmauer gesetzt. Aber nun sprangen wir, einer nach dem anderen, ins Becken.

»Wer ist sie?« wisperte Anjali noch einmal. Niemand gab ihr eine Antwort. Da wandte sie sich zu mir und legte einen Arm um meine Schultern. »Hat Nayana dir erzählt, daß diese Frau hierherkommen würde?«

»Nein«, erwiderte ich. »Zumindest erinnere ich mich nicht daran.«

Hin und wieder erzählte man mir Dinge, die den anderen Kindern verschwiegen wurden. Aber weil ich ein Träumer war, vergaß ich, die Informationen weiterzuleiten. Alle fragten, was ich träumte, und ich gestand: »Nichts.« Meine flüchtigen Gedanken ließen sich nicht in Worte fassen. Doch jeder schien zu verstehen, daß es vor allem mich betreffen würde, was mit uns geschah.

An jenem Abend, der schon so lange zurückliegt, herrschte zwischen uns eine mathematische und emotionale Harmonie. Meine Schwestern Anjali und Kaveri waren die ältesten, Anjali zwei Jahre älter als Kaveri, und Kaveri zwei Jahre älter als mein Bruder Jagan, der zwei Jahre älter war als ich. Uns alle verband eine enge Freundschaft, und ich glaubte, daran würde sich bis zum Ende unseres Lebens nichts ändern. Im Schlaf und im Wachen verbrachten wir jeden Augenblick gemeinsam. Wir gingen zusammen zur Schule und kamen zusammen nach Hause, spielten miteinander, aßen und badeten und schliefen zusammen. Jeder atmete den Atem des anderen ein, dachte die Gedanken des anderen und träumte seine Träume.

Außer uns beobachteten noch drei Kusinen den Besuch der Europäerin, die Töchter einer Großtante, hübsche Mädchen, schlank und geschmeidig wie Bambusstangen. Sushila, Leela und Valli paßten im Alter zu Anjali, Kaveri und Jagan, fast auf den Monat genau. Nur ich hatte keine Kusine, die meine Altersgenossin gewesen wäre. Die Vettern, die im Haushalt lebten, waren ein paar Jahre älter und bevorzugten die Gesellschaft der Erwachsenen. Alle unsere Vettern und Kusinen und ihre Eltern wohnten bei uns, in der ummauerten Welt unseres Anwesens. Wir bildeten gewissermaßen einen lebenden, von Blutsbanden und Hochzeiten nahtlos ineinander verwobenen Wandteppich. Ein Fremder würde nicht erkennen, wo der eine Faden begann oder wo ein anderer endete.

»Was tun sie?« fragte Anjali und hob mich hoch.

»Sie reden und lächeln sich an ... «

Die Europäerin war etwa so groß wie Nayana, eine förmliche Distanz trennte die beiden. Im grauen Licht konnte ich kaum etwas sehen. Auf den Eingangsstufen stand Vishnu, Thathas Bhouy. Auch er schien Nayana und die Frau verblüfft zu beobachten. Erbost über unser Versteckspiel, rannten die Hunde kläffend über den Rasen zu Nayana, und er schaute zum Brunnen herüber.

»Jetzt kommen sie zu uns«, wisperte ich.

Immer noch in ihr Gespräch vertieft, schlenderten sie zum Brunnen. Die Frau blieb stehen und drehte sich um.

» ... und jetzt schaut sie zum Haus hinüber.«

Sie reckte den Kopf hoch, drehte ihn hin und her. Aber sie würde am Brunnen vorbeigehen und nach zwanzig Metern zurückblicken müssen, um die mittlere Kuppel hinter den hohen Türmen zu sehen.

» ... und jetzt erzählt er ihr irgendwas über das Haus«, berichtete ich, während Vater auf die marmornen Wasserspeier zeigte.

Ich wollte mich von Anjali losreißen und zu Nayana laufen. Aber solange sich die anderen vor der Fremden versteckten, mußte ich bei ihnen ausharren. Anjali stellte mich auf die Füße. Wie Eichhörnchen waren wir im Brunnenbecken gefangen, und wir konnten nicht unbemerkt ins Haus flüchten. Angespannt lauschten wir den Schritten, den klickenden Absätzen auf dem Marmorweg. Plötzliche Stille. Offenbar waren sie am Brunnenrand stehengeblieben. Anjali legte einen Finger an die Lippen.

»Krishna!« rief Nayana.

Das überraschte uns, denn nach unserem Kinderprotokoll war Anjali stets die erste, die fremden Besuchern vorgestellt wurde.

»Warum ich?« wisperte ich. »Du mußt mitkommen.« Inzwischen war es dunkel geworden, das Lied der Grillen erfüllte den Abend.

»Das kann ich nicht«, entgegnete Anjali. In ihrer Flüsterstimme schwang Ärger mit, weil sie bei der Begegnung mit dieser Fremden übergangen wurde. »Du mußt allein gehen.« Energisch schob sie mich zu den Stufen.

»Warum wird er zuerst gerufen?« fragte Kaveri verwundert.

Dafür mußte es einen Grund geben. Nayana hielt sich stets an ganz bestimmte Regeln. Aber im Augenblick konnte Kaveri das Rätsel nicht lösen. Erst viele Jahre später verstanden wir, warum Nayana zuerst nach mir gerufen hatte.

Aber während Kaveri beobachtete, wie ich zögernd zu den Brunnenstufen ging, beschloß sie mich zu beschützen und entschied, alle Kinder müßten mich begleiten. »Kommt!« forderte sie die anderen auf. Nur Leela und Valli erhoben sich. Ich blieb stehen und wartete.

»Rührt euch bloß nicht von der Stelle!« flüsterte Anjali ärgerlich. »Wenn Nayana uns sehen will, wird er uns rufen. Mischt euch da nicht ein!«

»Warum muß Krishna allein gehen? Siehst du nicht, wie unglücklich er ist?«

»Es ist doch nur Nayana. Kein Ungeheuer.« Anjali wandte sich zu Jagan, der reglos dasaß, fast gleichmütig. »Was sollen wir tun?«

Er war der einzige, der uns nicht ähnelte. Während wir ovale Gesichter besaßen, hatte er die kantigen Züge unseres Thathas mit dem vorspringenden Kinn geerbt. Er war ein gehorsamer Junge und beklagte sich nie. Im Gegensatz zu uns machte er keinen Ärger. Seine Haut war etwas dunkler als unsere. Darauf wiesen Verwandte, Freunde und Fremde immer wieder hin, und da wurde uns erst bewußt, daß er sich von uns unterschied. Er war Avas Liebling. Seit er die letzte Muttermilch getrunken hatte, verwöhnte sie ihn.

Obwohl er die Dringlichkeit des Problems spürte und sah, daß ich die oberste Stufe fast erreicht hatte, antwortete er nicht sofort. Ava glaubte, er würde gründlich über alles nachdenken und deshalb viel Zeit brauchen. Schließlich erklärte er: »Wir sollten Krishna begleiten.«

Anjali zögerte, sichtlich erbost, weil er nicht sie unterstützte, sondern Kaveri.

»Wollt ihr nicht wissen, wer die Dame ist?« fügte er verschmitzt hinzu.

Das gab den Ausschlag, und alle standen auf, um mir zu folgen. Eng aneinandergedrängt gingen sie zur Treppe, wie eine kleine Chital-Herde, die sich vorsichtig einem Wasserloch nähert.

Kapitel 2: Unser Nayana

Ich hätte auf sie gewartet. Aber Anjali schob mich weiter. Nun war sie neugierig geworden und wollte sehen, was geschehen würde. Ich stieg die restlichen Stufen hinauf. Nur schwach beleuchtet, zeichnete sich die Silhouette des Großen Hauses vor dem bewölkten Abendhimmel ab. Auf der Veranda und in einigen Räumen im Erdgeschoß flackerten Lichter wie sterbende Glühwürmchen. Der Rest lag im Dunkeln. In der Ferne war das kleinere Haus hell erleuchtet. Ringsherum bewegten sich die Schatten vieler Leute.

Obwohl ich zu schüchtern war, um die Europäerin anzuschauen, spürte ich, wie sie mich in der Finsternis beobachtete. Ich sah nur meinen eleganten Nayana. Er trug einen doppelreihigen Anzug aus cremefarbener Seide und hatte ein seidenes Taschentuch in der Brusttasche. Nun trat er vor, und sogar diese wenigen Schritte verrieten athletische Kraft und Stilgefühl.

Wie immer empfand ich in seiner Gegenwart wachsende Zuversicht und fühlte mich getröstet. Seine gestrafften Schultern, genauso geradlinig wie sein Schnurrbart, zeugten von seiner militärischen Ausbildung. Auch von uns verlangte er eine stramme Haltung, und wir bemühten uns, seinen Wunsch zu erfüllen.

»Komm, Krishna!« sagte er, breitete die Arme aus, und ich warf mich an seine Brust.

Ich liebte seinen schwachen salzigen Schweißgeruch, die rauhe Haut am Abend, verglichen mit den glatten Wangen am Morgen, den Duft des Alauns, das er benutzte, um die Blutung kleiner Schnittwunden vom Rasieren zu stillen. Wenn ich alt genug war, wollte ich mir auch so einen geraden Schnurrbart wachsen lassen, an den Enden leicht nach oben gebogen, wie winzige Büffelhörner. Nayana gab mir einen Kuß und ließ mich los. Jetzt sah er die anderen im nächtlichen Dunkel herankommen und runzelte sekundenlang die Stirn. Aber er ignorierte sie und drehte mich herum, so daß ich der Europäerin gegenüberstand. »Das ist Miss Victoria Greene. Miss Greene, das ist Krishna, mein jüngstes Kind.«

Lächelnd kniete Miss Victoria Greene nieder, und ich starrte ihr Haar an, das mich faszinierte. Schulterlang, von zwei Kämmen aus der Stirn gehalten, schimmerte es in einer ungewöhnlichen Farbe, hell wie Sonnenschein. Nur mühsam unterdrückte ich den Impuls, das Haar zu berühren. Vielleicht würde es sich so hart und heiß anfühlen wie Gold. Um ihre roten Lippen, die einen seltsamen Kontrast zu ihrem bleichen Gesicht bildeten, lag ein energischer Zug. Wie ein kleines Tier begann ich zu schnüffeln. Sie roch fremdartig, nicht nach Jasmin, Rosenöl oder Sandelholz, sondern süßer und stärker und ein bißchen nach Schweiß. Während sie mich aufmerksam musterte, wich ich ihrem Blick aus. Ich spürte, daß sie sich meine Zuneigung wünschte. Auch Nayana schien zu hoffen, wir würden uns gut verstehen.

»Oh, wie schön er ist«, sagte sie Nayana.

An solche Schmeicheleien war ich gewöhnt. Fast täglich bewunderten meine Kusinen und Großtanten meine Schönheit, kniffen mich in die Wangen und küßten ihre Fingerspitzen. Am schlimmsten führten sich meine Schwestern auf. Sie behandelten mich wie eine Lieblingspuppe, flochten Bänder in mein Haar und zogen mir Mädchenkleider an. Damit brachten sie mich manchmal in helle Wut.

»Sag ›Hallo‹ zu Tantchen«, befahl Nayana sanft.

»Hallo«, murmelte ich. Da schüttelte sie meine Hand. Ihre Handfläche fühlte sich feucht an, und sie betupfte sie mit einem winzigen Taschentuch. Hastig wischte ich mir die Finger an meinem Hemd ab.

Stumm und unsicher tauchten die anderen aus der Finsternis auf und wandten sich hilfesuchend Nayana zu. Er nannte ihre Namen, und die Frau lächelte alle an. »Wie geht es euch?« Aber sie antworteten nicht.

Statt dessen stieß Anjali ihre Schwester und ihre Kusine Sushila an und wisperte: »Habt ihr ihre Beine gesehen?«

Miss Victoria Greenes Beine waren unterhalb des Knies nackt. Schneeweiß leuchteten sie im abendlichen Dunkel. Die Füße steckten in Sandalen mit hohen Absätzen.

»Schämt sie sich nicht?« flüsterten Kaveri und Sushila. Soviel Bein zeigten nur Schulmädchen in ihren Uniformen. Die beiden hatten Telugu gesprochen.

»Verstehen sie nicht Englisch?« fragte Miss Victoria Greene unseren Vater.

Details

Seiten
Erscheinungsform
Neuausgabe
Jahr
2024
ISBN (eBook)
9783989521742
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2024 (August)
Schlagworte
Familien-Saga Indien-Roman Exotikroman Historischer Roman Landschaftsroman Palast der Winde Der Teepalast Tara Haigh Neuerscheinung eBooks

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