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Das Haus der dunklen Spiegel

Drei Romane in einem eBook: »Das Haus des Schweigens«, »Das dunkle Herz der Villa« und »Die Frauen von Maidenwood«

von Barbara Michaels (Autor:in) Iris Foerster (Übersetzung) Hilde Linnert (Übersetzung)
©2022 1092 Seiten

Zusammenfassung

Schicksalhafte Familiengeheimnisse: Der Sammelband »Das Haus der dunklen Spiegel« von Bestsellerautorin Barbara Michaels jetzt als eBook bei dotbooks.

Drei Frauen, die all ihren Mut aufbringen müssen, um den Schatten der Vergangenheit zu entkommen … Als die junge Haskell erfährt, dass ihr Leben eine einzige Lüge ist, macht sie sich schon bald auf die Suche nach ihren wahren Eltern. Die Spuren führen sie zu einem alten Museum in einem idyllischen Vorort von Chicago, das ihren Namen trägt – und zu dem charmanten Archäologen Dave, der mehr zu wissen scheint, als er zuzugeben bereit ist … Auch die Studentin Julie muss begreifen, dass ihre Familie seit Generationen ein folgenschweres Geheimnis hütet, als in ihrer Heimatstadt das rätselhafte Grab einer Mutter und ihres kleinen Kindes entdeckt wird … Die junge Meg hingegen möchte in einer abgelegenen, rosenumrankten Villa endlich ihrer schmerzhaften Vergangenheit entfliehen. Dort wird sie jedoch von dunklen Träumen über eine ihrer Vorfahrinnen heimgesucht, die erschreckend real scheinen …

»Barbara Michaels ist eine unübertreffliche Erzählerin.« Bestsellerautorin Mary Higgins Clark

Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der fesselnde Sammelband »Das Haus der dunklen Spiegel« von Barbara Michaels vereint die Familiengeheimnisromane »Das Haus des Schweigens«, »Das dunkle Herz der Villa« und »Die Frauen von Maidenwood«. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Über dieses Buch:

Drei Frauen, die all ihren Mut aufbringen müssen, um den Schatten der Vergangenheit zu entkommen … Als die junge Haskell erfährt, dass ihr Leben eine einzige Lüge ist, macht sie sich schon bald auf die Suche nach ihren wahren Eltern. Die Spuren führen sie zu einem alten Museum in einem idyllischen Vorort von Chicago, das ihren Namen trägt – und zu dem charmanten Archäologen Dave, der mehr zu wissen scheint, als er zuzugeben bereit ist … Auch die Studentin Julie muss begreifen, dass ihre Familie seit Generationen ein folgenschweres Geheimnis hütet, als in ihrer Heimatstadt das rätselhafte Grab einer Mutter und ihres kleinen Kindes entdeckt wird … Die junge Meg hingegen möchte in einer abgelegenen, rosenumrankten Villa endlich ihrer schmerzhaften Vergangenheit entfliehen. Dort wird sie jedoch von dunklen Träumen über eine ihrer Vorfahrinnen heimgesucht, die erschreckend real scheinen …

Über die Autorin:

Hinter der US-amerikanischen Bestsellerautorin Barbara Michaels steht Barbara Louise Gross Mertz (1927–2013), die auch unter dem Pseudonym Elizabeth Peters erfolgreich Kriminalromane schrieb. Die Autorin promovierte an der University of Chicago in Ägyptologie. So haben auch ihre Romane, für die sie zahlreiche Preise gewann, meist einen historischen Hintergrund.

Barbara Michaels veröffentlichte bei dotbooks auch ihre Familiengeheimnisromane:

»Der Mond über Georgetown«

»Das Geheimnis von Marshall Manor«

»Das Haus des Schweigens«

»Die Töchter von King’s Island«

»Das Geheimnis von Tregella Castle«

»Die Villa der Schatten«

»Das Geheimnis der Juwelenvilla«

Die letzten drei Romane sind auch im Sammelband »Das Haus des Schweigens« erhältlich.

Außerdem erschienen bei dotboooks ihre historischen Liebesromane:

»Abbey Manor – Gefangene der Liebe«

»Wilde Manor – Im Sturm der Zeit«

»Villa Tarconti – Lied der Leidenschaft«

»Grayhaven Manor – Das Leuchten der Sehnsucht«

Unter Elizabeth Peters erschienen bei dotbooks ihre Romane:

»Der siebte Sünder – Der erste Fall für Jacqueline Kirby«

»Der letzte Maskenball – Der zweite Fall für Jacqueline Kirby«

»Ein preisgekrönter Mord – Der dritte Fall für Jacqueline Kirby«

»Ein todsicherer Bestseller – Der vierte Fall für Jacqueline Kirby«

»Vicky Bliss und der geheimnisvolle Schrein«

»Vicky Bliss und die Straße der fünf Monde«

»Vicky Bliss und der blutrote Schatten«

»Vicky Bliss und der versunkene Schatz«

»Vicky Bliss und die Hand des Pharaos«

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Sammelband-Originalausgabe Oktober 2022

Copyright © der Sammelband-Originalausgabe 2022 dotbooks GmbH, München

Einen Hinweis auf die Copyrights der einzelnen Romane finden Sie am Ende dieses eBooks.

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Wildes Blut – Atelier für Gestaltung Stephanie Weischer unter Verwendung mehrerer Bildmotive von © shutterstock

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (rb)

ISBN 978-3-98690-119-6

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Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: info@dotbooks.de. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags

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Barbara Michaels

Das Haus der dunklen Spiegel

Drei Romane in einem eBook

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Das Haus des Schweigens

Aus dem Amerikanischen von Hilde Linnert

Als Waise aufgewachsen, hütet die junge Haskell das wenige, was sie über ihre Eltern weiß, wie einen Schatz. Doch als bei ihr eine seltene Erbkrankheit festgestellt wird, muss Haskell erkennen, dass ihr Leben eine einzige Lüge ist: Der Mann, den sie bisher für ihren Vater gehalten hat, kann es unmöglich sein. Sie muss um jeden Preis die Wahrheit herausfinden – aber sie ist nicht auf die Abgründe vorbereitet, die hinter der Idylle ihrer Heimatstadt zum Vorschein kommen. Ist ihre Mutter etwa gar nicht bei einem Unfall gestorben? Und welche Verbindung gibt es zu dem ägyptischen Museum, das Haskells Namen trägt? Einzig der charmante Archäologe Dave scheint ihr helfen zu wollen – doch womöglich weiß er auch mehr über die dunkle Vergangenheit von Haskells Familie, als es den Anschein hat …

Kapitel 1

Neunzehnfünfundsechzig war nicht das schlechteste Jahr, um zur Welt zu kommen, aber bestimmt auch nicht das beste. In diesem Jahr fuhr Martin Luther King nach Alabama; sie empfingen ihn mit Tränengas und Hunden. In Chicago empfingen sie ihn mit Gummiknüppeln. Aber 1965 wurde die Wahlrechtsakte zum Gesetz erhoben. Das muß man positiv werten.

Es war das Jahr des ›Great Society‹-Programms, das die Armut in Amerika beseitigen sollte. Eine großartige Idee – wenn sie geklappt hätte. Auf dem Unterhaltungssektor landeten die Rolling Stones einen Hit mit dem Titel ›I Can'T Get No Satisfaction‹, und Simon und Garfunkel kamen mit ›The Sounds of Silence‹ in die Hitparade. Die glücklichen Amerikaner lernten Diät-Pepsi kennen; und im Dezember, meinem Geburtsmonat, hob Mary Quant den Minirock aus der Taufe.

Auf der Minusseite stand die kleine, weit entfernte Militäraktion in Vietnam. Ende 1965 hatten US-Flugzeuge begonnen, den Norden zu bombardieren, und über 400 000 amerikanische Soldaten kämpften, bluteten und starben bei Einsätzen, die nie als Krieg bezeichnet wurden. Einer von jenen, die starben, war ein Junge namens Kevin Maloney. Über zwanzig Jahre lang glaubte ich, daß er mein Vater sei.

Ich kann mich nicht daran erinnern, wie ich vom Arzt nach Hause gekommen bin. Überhaupt nicht. Ich habe bestimmt eine Fahrkarte gekauft und bin bei der Station Dreißigste Straße eingestiegen. Ich bin bestimmt wie üblich in Wayne ausgestiegen und nach Hause gegangen. Das Haus ist nur eineinhalb Kilometer von der Station entfernt, und es war ein schöner Frühlingstag. An das Wetter erinnere ich mich. Teilweise deshalb, weil der Sonnenschein und die zarten Blüten in solch bizarrem Gegensatz zu meiner Stimmung standen, teils, weil Pooch infolge der blaßrosa Blütenblätter in seinem schwarzen Fell so komisch aussah – wie die bemalte Porzellanfigur eines Katers.

Er schoß unter den Azaleen im Vorgarten heraus, stieß an meine Knöchel und miaute zur Begrüßung. Ich mußte reagieren – es wäre unhöflich gewesen, wenn ich nicht darauf eingegangen wäre – und die Verpflichtung, den Gruß eines Freundes zu erwidern, rüttelte mich aus meiner Betäubung auf. Ich entdeckte, daß ich den Schlüssel zur Eingangstür in der Hand hielt. Ich steckte ihn in das Schlüsselloch, öffnete die Tür und trat leichtfüßig zur Seite, um Pooch hineinzulassen. Es war eine reine Reflexhandlung, wie alles, was ich in den letzten Stunden getan hatte. Pooch wiegt neun Kilo, und von gutem Benehmen kann bei ihm keine Rede sein. Wenn man ihm nicht ausweicht, rennt er einen über den Haufen.

Er marschierte in die Küche. Ich blieb stehen, sah mich im vertrauten Vorraum um und fragte mich, warum er mir so fremd vorkam. Ich kannte jeden Gegenstand darin; ich hätte mich sogar im Dunkeln zurechtgefunden. Neunzehn meiner zweiundzwanzig Lebensjahre hatte ich hier verbracht. Alles war gleich geblieben – nur ich nicht.

Jessie war noch nicht von der Arbeit nach Hause gekommen. Sie hatte mich von klein auf großgezogen; sie war meine Tante, die Schwester meiner Mutter. Das hatte ich jedenfalls immer angenommen ... Wir hatten gemeinsam Höhen und Tiefen erlebt – eine Menge Tiefen in den ersten Jahren, und dann später wieder, als ich in die Pubertätsschizophrenie verfiel, wie Jessie es ausdrückte. Ich war ein Scheusal von einem Kind gewesen. Das behauptete jedenfalls Jessie; es war zum Stichwort in einem unserer Standarddialoge geworden. »Mein Gott, warst du ein Scheusal, Haskell.« Dann widersprach ich: »Unmöglich. Wie könnte sich ein Scheusal zu einem so vollkommenen menschlichen Wesen entwickeln?« Und Jessie mußte darauf antworten: »Das ist ganz allein mein Verdienst. Es hatte eine Menge Nörgelei und Prügel gebraucht, um aus einem Scheusal ein vollkommenes menschliches Wesen zu machen.«

Sie hatte genörgelt – zumindest hätte ich es damals so bezeichnet. Aber sie hatte mich nie angerührt. Obwohl sie unverheiratet war, ihren Beruf liebte und für Kinder bestenfalls lauwarme Gefühle aufbrachte, war sie einmaliger Mutterersatz gewesen. Ich betete sie an. Falls sie mich nicht ebenfalls anbetete, war sie die großartigste Schauspielerin der Welt. Wie hatte sie mich nur belügen können? Sie mußte es gewußt haben. Ausgerechnet sie ...

Aus der Küche kam Poochs erbärmlich klagendes Miauen. Wahrscheinlich war seine Futterschüssel leer. Statt hinzustürzen und seine Wünsche zu erfüllen, wie ich es sonst tat, ging ich die Treppe hinauf. Meine Füße wichen automatisch der abgenützten Stelle aus, die Jessie immer ausbessern wollte. In diesem Haus wurde nie eine Tür versperrt. Ihre Tür stand offen. Ich betrat ihr Zimmer.

Es war ein asketisches Schlafzimmer, beinahe klösterlich, weil der gesamte weibliche Firlefanz fehlte. Bevor sie zur Arbeit ging, machte sie immer das Bett; die einfache weiße Decke war faltenlos glatt gestrichen und wurde nur durch die hartnäckig auf ihr haftenden Katzenhaare verunziert. Auf der Frisierkommode lagen Kamm und Bürste; neben ihnen stand ein Foto von mir. Der Schreibtisch war genauso effizient gestaltet; in einem Ordner mit Unterteilungen bewahrte sie Rechnungen und unbeantwortete Briefe auf. Ich setzte mich und öffnete die oberste Schublade.

Ich wußte nicht, was ich suchte, aber ich suchte immer noch danach, als ich hörte, wie Jessie eintraf – das Scharren des Schlüssels im Schloß, die zugeschlagene Tür, ein Plumps, als sie etwas fallen ließ, und ein lautes »Verdammt«. Sie war körperlich genauso ungeschickt wie sie geistig beweglich war; sie ließ immer etwas fallen und stieß mit den Schienbeinen an die Möbel.

Ich hatte meine Handtasche auf dem Tisch im Vorraum liegenlassen. Jessie hatte sie wahrscheinlich gesehen, denn sie brüllte: »He, Haskell, ich bin da«, und dann im gleichen Atemzug: »Schon gut, du verdammter, zudringlicher Kater, kannst du nicht warten?«

Ich durchsuchte weiterhin die Schubladen. Die unterste links war doppelt so tief wie die übrigen und enthielt Mappen mit Dokumenten. Ich blätterte sie systematisch durch – Versicherungsformulare, Wagenpapiere, Steuererklärungen, bezahlte Rechnungen. Unten klapperten Jessies Schritte von Raum zu Raum, und dazu klapperten die Utensilien, während sie Pooch fütterte, und sich ihren abendlichen Martini mixte. Als sie begann, die Treppe hinaufzugehen, rief sie wieder: »Wo bist du, Haskell? Kommst du herunter? Willst du etwas trinken?«

Ungeduldig wie immer wartete sie die Antwort nicht ab. Sie ging zuerst zu meinem Zimmer. Ihres lag weiter hinten im Korridor, weiter weg vom Ende der Treppe. Ich sah gerade den Ordner mit der Aufschrift ›Amtliche Papiere‹ durch, als sie in die offene Tür trat.

»Was tust du da?« fragte sie.

Ihre Stimme klang eher neugierig als empört, obwohl sie das Recht gehabt hätte, zornig zu sein. Jede von uns respektierte die Privatsphäre der anderen; seit meinem dreizehnten Lebensjahr hatte sie keine Schublade oder Schranktür in meinem Zimmer geöffnet.

Mit dem Glas in der Hand starrte sie mich von der Tür aus an. Sie war um zwei Zentimeter kleiner als ich, genau einen Meter zweiundsechzig; und bis vor ein paar Jahren hatten wir die gleiche Körpergröße getragen. Seit einiger Zeit nahm sie zu. Ihr graumeliertes Haar war naturgewellt. Es war kurz geschnitten, nicht um damit etwas auszusagen, sondern um Zeit zu sparen. Das graue Nadelstreifenkostüm und die maßgeschneiderte weiße Bluse paßten zu ihrer Stellung als Chefeinkäuferin eines großen Kaufhauses in Philadelphia. Ich erwiderte ihren Blick, als wäre sie eine Fremde.

Sie legte die Nase in Falten und kniff die Augen zusammen. Sie wurde kurzsichtig und trug beim Autofahren eine Brille. Aber sie kannte mich so gut, daß sie merkte, wie verzweifelt ich war.

»Was ist los?«

»Ich war heute beim Arzt.«

»Das habe ich angenommen, weil du mir heute früh erzählt hast, daß die voreheliche Untersuchung für heute angesetzt ist.«

Diese kühle Reaktion war für Jessie typisch; aber die Falten um ihre Augen vertieften sich, und die Eiswürfel in ihrem Glas klirrten verräterisch – ein Ersatz für die aufgeregten Fragen, die jede andere gestellt hätte. Ich hörte geradezu die Ängste, die ihr durch den Kopf schossen. Eine peinliche Geschlechtskrankheit? Oder noch gräßlichere, gefährlichere Symptome?

Ich sprach es aus. »Ich habe es. Tay-Sachs.«

»Was, zum Teufel, ist ... ach, du meinst diese exotische Krankheit, auf die du dich auf Wunsch deiner zukünftigen Schwiegermutter unbedingt testen lassen mußtest?« Jessies volle Wangen röteten sich, als an die Stelle der Besorgnis Erleichterung und aufwallender Zorn traten. »Was willst du mir einreden, Haskell? Du kannst gar nicht Tay-Sachs haben. Wenn du es hättest, wärst du tot – schon seit Jahren. Säuglinge, die diese Krankheit bekommen, werden nicht älter als zwei oder drei Jahre.«

»Du hast es nachgeschlagen.«

Jessie zuckte die Schultern.

»Ich habe von der verdammten Krankheit zum erstenmal gehört, als Mrs. Feldman sie erwähnte. Natürlich habe ich sie nachgeschlagen, und das tut mir heute noch leid; eine schreckliche, grauenhafte Krankheit ... und es gibt keine Heilung.«

Ich hätte mir denken können, daß Jessie es ›nachschlagen‹ würde. Das war eine ihrer bewundernswertesten Eigenschaften – das Bedürfnis, die Wahrheit zu erfahren, die Tatsachen herauszufinden, wenn sie auch noch so schwer verdaulich waren, und sich ihnen zu stellen. Ich hoffte, daß es auch für mich typisch war. Ich hatte ebenfalls nachgeschlagen.

»Fünfundachtzig Prozent der Tay-Sachs-Opfer sind Kinder osteuropäischer Juden«, erklärte ich ausdruckslos. »In den siebziger Jahren begann die jüdische Gemeinde, ihre Mitglieder darauf zu untersuchen; daher tritt die Krankheit heute wesentlich seltener auf. Mrs. Feldman hatte recht, als sie darauf bestand, daß wir uns beide testen lassen; es ist eine Erbkrankheit, die in anderen Bevölkerungsgruppen nur selten vorkommt. Eine schreckliche Krankheit – keine Heilung, keine Behandlung. Erblindung, Lähmung, geistiger Verfall, Tod zwei bis vier Jahre nach der Geburt.«

»Ich weiß«, bestätigte Jessie. »Das heißt doch nicht ... du bist ein Krankheitsträger?«

»Ja.«

»Und was ist mit Jon?«

»Er ist keiner.«

Jessie atmete erleichtert auf.

»Dann ist ja alles in Ordnung. Es ist ein rezessives Gen: wenn nur ein Elternteil Krankheitsträger ist, besteht keine Gefahr für die Kinder.« Ihr Gesicht hatte sich aufgehellt, aber sie ärgerte sich immer noch über mich. Sie warf einen Blick auf ihr Glas und erklärte mürrisch: »Inzwischen besteht mein verdammter Drink zur Hälfte aus Wasser. Ich muß ihn wegschütten und von vorn beginnen. Komm mit hinunter und sprich mit mir.«

»Woher habe ich es?«

»Was soll das heißen, woher du es hast? Du hast genügend Biologie gelernt, um diese Frage selbst zu beantworten. Die Kinder erben ihre Gene von ihren Eltern, die sie von ihren Eltern erben, und so weiter ad infinitum.«

»Die meisten Krankheitsträger sind osteuropäische Juden. Aschkenasim.«

Meine Tante, die wie meine Mutter von Holländern abstammte, betrachtete mich. Mein Vater hatte Maloney geheißen. So stand es zumindest in meiner Geburtsurkunde.

Sie wußte, worauf ich hinauswollte, stellte sich jedoch dumm. Sie wich meinem Blick aus und antwortete trotzig: »›Die meisten‹ bedeutet nicht alle. Es gibt Ausnahmen. Sie sind in dem Buch erwähnt, in dem ich nachgeschlagen habe. Eine Gruppe in Neuschottland –«

»Es geht nicht nur darum. Sieh mich an. Sieh sie an.« Ich deutete blödsinnigerweise auf eine Fotografie, die sich nicht einmal in diesem Zimmer befand, sondern seit Jahren auf dem Flügel im Wohnzimmer stand. Ein Hochzeitsbild in Farbe. Die blonde, blauäugige Leah Emig, deren kräftiges Kinn durch die zarten Spitzen verschleiert wurde, die ihr Gesicht umrahmten; Kevin Maloney, schlank und sportlich in Ausgehuniform, dessen widerspenstiges rotes Haar leuchtete und dessen grüne Augen lachten. In dem Spiegel, der an der Wand hing, konnte ich mich sehen, falls der Vergleich noch notwendig gewesen wäre – Augen, die so dunkel waren, daß sie schwarz wirkten, olivenfarbene Haut, ein herzförmiges Gesicht, dichte, schwarze Locken.

Jessie seufzte. »Fängst du schon wieder damit an?«

»Du sagst es, als würde ich jede Woche auf das Thema zurückkommen. Ich habe es seit Jahren nicht mehr erwähnt.«

»Das stimmt, du hast es überwunden. Eine Menge Kinder, vor allem früh verwaiste, denken sich fantastische Geschichten über ihre ›wirklichen‹ Eltern aus. Sie glauben, daß sie die lang gesuchten Erben des französischen Königs oder etwas Ähnliches sind. Du hast diesen Unsinn vergessen –«

»Du und Doktor Whitaker habt mich so lange einer Gehirnwäsche unterzogen, bis ich es vergessen habe. Vielleicht hat sie wirklich geglaubt, daß es sich um typische pubertäre Fantastereien handelt, aber du hast die Wahrheit gekannt. Nein, unterbrich mich nicht, laß mich zu Ende sprechen. Ich weiß genau, daß Statistiken nicht auf Einzelpersonen angewendet werden können. Mir ist auch klar, daß zwei blauäugige Menschen ein dunkeläugiges Kind haben können, auch wenn es selten vorkommt. Ich weiß, daß Tay-Sachs zwar bei osteuropäischen Juden hundertmal häufiger vorkommt, daß es sich aber bei mir um eine der seltenen Ausnahmen handeln könnte. Ich kenne alle diese faszinierenden Tatsachen; was ich nicht kenne, ist der Name meines wirklichen Vaters.«

Jessie öffnete den Mund, sprach aber nicht.

»Ich muß es wissen«, fuhr ich fort. »Sie war deine Schwester. Meine Mutter. Oder ist das auch eine Lüge? Bin ich das zufällige, unbequeme Souvenir einer kurzen Leidenschaft – ihrer ... deiner ...«

Jessie reagierte rasch und ohne ihre übliche Ungeschicklichkeit: Sie trat einen Schritt vor und schlug mich ins Gesicht.

Wir starrten einander verblüfft an. Sie war bestimmt genauso überrascht und entsetzt wie ich.

»Du bist hysterisch, ich bin nur sehr verwirrt.«

Ich ließ die Lade mit den Dokumenten offenstehen, stand auf und verließ das Zimmer.

Im Lauf der Jahre war mein Zimmer einige Male umgestaltet worden. Drucke von Schneewittchen und dem Froschkönig waren durch Poster von Rockstars ersetzt worden, an deren Stelle irgendwann Kopien von Degas-Tänzerinnen und Monet-Seerosen getreten waren. Ich war in diesem Zimmer aufgewachsen – hatte die Kissen mit den bitteren Tränen der enttäuschten Jugendliebe durchweicht, hatte mit Freundinnen gekichert und geflüstert, hatte während der obligaten Kinderkrankheiten Kräutertee getrunken und Hühnersuppe gelöffelt, hatte hier gespielt, gelernt und geträumt.

Der Raum war von guten und schlechten Erinnerungen erfüllt. Aber hauptsächlich von guten.

Das Kätzchen unter dem Bett. Ich war acht Jahre alt. Jessie hatte mir nie ein Haustier bewilligen wollen. Ich war zu jung gewesen, um ihre Begründung zu verstehen. »Wir sind den ganzen Tag nicht da, ich arbeite, und du bist in der Schule oder beim Babysitter; es wäre dem Tier gegenüber nicht fair.« Als mir das hungrige, durchnäßte Kätzchen an diesem Tag nachlief, mußte ich nicht lang überlegen. Ich hielt es beinahe vierundzwanzig Stunden versteckt, bis Jessie es entdeckte. Ich hätte wissen müssen, daß sie sich fragen würde, warum ich an einem sonnigen Samstag soviel Zeit in meinem Zimmer verbrachte. Sie befürchtete, daß ich krank oder unglücklich war. Als sie hereinkam, saß das Kätzchen auf meinem Schoß. Sie schrie vor Überraschung laut auf, und das genauso überraschte Kätzchen durchnäßte prompt meine Jeans. Ich kreischte, das Kätzchen verlor die Kontrolle über eine weitere lebenswichtige Körperfunktion, und Jessie brach in einem Stuhl zusammen und lachte Tränen. Seither gehörte Pooch zur Familie und Jessie sagte oft, sie wisse nicht, wie wir es ohne ihn ausgehalten hatten. »Aber dein Gesichtsausdruck, Haskell, als er auf deinen Schoß pinkelte ...« Wir haben seither oft darüber gelacht.

Ich saß auf dem Rand des Bettes und hörte, wie Jessie mit raschen, schwerfälligen Schritten die Treppe hinunterging. Ich wußte, daß sie auf sich böse war und den impulsiven Schlag bitter bereute. Ich nahm ihn ihr nicht übel. Es war kein heftiger, überlegter Schlag gewesen. Sie ging leicht in die Luft und hatte mir ein paarmal gründlich die Meinung gesagt, als ich jünger war, aber sie hatte mich nie ins Gesicht geschlagen. Ich war nichtzornig; ich war nur vollkommen verwirrt. Ich konnte mich nicht an meine Eltern erinnern, denn ich hatte beide sehr früh verloren – meine Mutter durch einen Autounfall, meinen ›Vater‹ im Krieg. Aber am schlimmsten war, daß ich mich selbst verloren hatte. Ich wußte nicht, wer ich war.

Seit ich mich erinnern konnte, hingen die Fotografien zu beiden Seiten des Frisiertisches an der Wand – sie waren das erste, das ich am Morgen erblickte, und das letzte, das ich am Abend sah, bevor ich das Licht löschte. Das Foto meiner Mutter war ein Studioporträt, das an ihrem einundzwanzigsten Geburtstag aufgenommen worden war. Ich hatte ihr junges, noch ungeprägtes Gesicht immer wieder betrachtet und versucht, eine Ähnlichkeit mit mir zu entdecken. Bis auf den annähernd gleichen Schwung der lächelnden Lippen konnte ich jedoch nichts finden. Ihr Haar leuchtete im Schein einer Lichtquelle, die hinter ihr stand; auf dem Schwarz-Weiß-Foto sah es silbern aus. Ich hatte sie nie hübsch gefunden, aber ich mochte ihr Gesicht. In ihm lagen Stärke und Humor und ein Hauch von Melancholie. Oder hatte ich sie vielleicht in romantischem Licht gesehen, weil ich wußte, daß das blonde Haar nie silbern sein und nie Runzeln die glatten Wangen verunstalten würden?

Kelvin Maloneys Gesicht war aus einem Schnappschuß vergrößert worden, deshalb war es ein wenig unscharf, aber im Ausdruck wesentlich besser als ein gestelltes Studioporträt. Er hatte den Kopf lachend zurückgeworfen, so daß man das kantige Kinn und die gleichmäßigen, weißen Zähne sah. Ein hübsches Gesicht, herzzerbrechend jung und glücklich; auf jedem seiner Fotos, die ich kannte, lächelte oder lachte er. Unterhalb des Bildes lag auf schwarzem Samt seine Tapferkeitsmedaille, die ihm posthum verliehen worden war. Wie sehr hatte ich dieses Gesicht und den tapferen jungen Mann idealisiert, der die höchste Auszeichnung seines Landes dafür erhalten hatte, daß er sein Leben für andere gab.

Mein Gesicht war tränenüberströmt. Ich hörte Schritte und griff nach einem Taschentuch.

Jessie zögerte kurz und setzte sich dann auf den Bettrand – nicht zu nahe, in angemessener Entfernung von mir. »Es tut mir leid«, murmelte sie.

»Das weiß ich.«

»Möchtest du etwas trinken?« Wie ein junger Hund, der seinen Lieblingsknochen anbietet, holte sie hinter ihrem Rücken ein Glas Weißwein hervor. Als sie meinen Gesichtsausdruck sah, fuhr sie fort: »Oder eine Tasse Tee? Oder –«

»Nein, danke.«

Jessie sah das Glas erstaunt an, als wäre es gerade in ihrer Hand materialisiert, hob es dann an die Lippen und leerte es in einem Zug.

Ich begann zu lachen. Ich glaubte jedenfalls, daß ich lachte, bis mein Lachen rauh und häßlich wurde und die Tränen dunkle Flecken auf meinem Rock hinterließen.

»Kind – das darfst du nicht ...« Sie streckte die Hand nach mir aus.

»Es ist schon in Ordnung. Der letzte Schauer.« Ich schneuzte mich und stellte fest, daß es stimmte; wie bei einem vorüberziehenden Gewitter waren die Tränen versiegt.

»Ich verstehe dich nicht.« Jessie hatte den Versuch aufgegeben, mich an sich zu drücken; obwohl ich ruhig gesprochen hatte, war mein Ton so ablehnend gewesen, als wäre ich zurückgewichen. »Mein Gott, Haskell, bist du nicht ein bißchen melodramatisch? Du bist immer ein so ausgewogener Mensch gewesen.«

»Dank drei Jahren Behandlung bei einem Seelenklempner.«

Ich verwendete das Wort absichtlich, weil ich wußte, daß Jessie es nicht mochte, vor allem, wenn es auf ihre alte Freundin gemünzt war. Sie runzelte die Stirn. »Den meisten Leuten täten ein paar Jahre Beratung gut. Ein Kind, das beide Eltern verloren hat und von einer verknöcherten alten Jungfer aufgezogen wurde, muß Probleme haben. Normale Probleme.«

»Du bist nicht alt und verknöchert.«

»Danke für die Blumen. Wo ist eigentlich dein Sinn für Humor geblieben? Du hast mir von der komischen kleinen Stimme in deinem Kopf erzählt, die unfreundliche Bemerkungen macht, wenn du in Selbstmitleid schwelgst.«

»Ich habe sie umgebracht«, antwortete ich, ohne zu lächeln. »So wie Mark Twain sein Gewissen umgebracht hat. Jetzt weiß ich, wie ihm zumute gewesen ist, als er diese Geschichte schrieb. Es wäre so bequem, ohne eine nörgelnde innere Stimme zu leben, die dir nicht erlaubt, dich und deine Gefühle zu dramatisieren. Offenbar verfügen die wenigsten Menschen über ein solches Handicap.«

»Deine Mutter verfügte darüber.« Jessie sah mir in die Augen. »Sie war deine Mutter, Haskell. Sie hat während dieser neun Monate bei mir gelebt; ich habe zugesehen, wie sie runder wurde; ich habe gefühlt, wie du dich in ihrem Bauch bewegt hast. Ich habe sie ins Krankenhaus gefahren, als die Wehen einsetzten; ich saß im Wartezimmer, als die Hebamme dich herausbrachte.«

»Du warst die einzige, die dort saß.«

»Dein –« Sie zögerte, dann sprach sie entschlossen weiter. »Dein Vater war tot. Wir hatten erst ein paar Tage zuvor das Telegramm bekommen; ich habe geglaubt, daß es die Ursache für die Frühgeburt war.«

»Bis du mich gesehen hast – dick, dunkel und voll entwickelt.«

»Bitte, Haskell.«

»Entschuldige.«

»Du warst ein so schönes Baby.« Sie blickte auf ihre gefalteten Hände hinunter. »Ein vollkommenes, kleines Gesicht, ohne die fleckige Haut, die viele Neugeborene haben; dichte, schwarze Locken, und lange, dunkle Wimpern. Du hast mich angelächelt. Die Hebamme hat gesagt, daß es Blähungen sind, aber das stimmte nicht; es war ein echtes Lächeln.«

Sie hatte noch nie so mit mir gesprochen. Die Tatsachen waren mir bekannt, aber das Gefühl in ihrer Stimme war neu. Ich hätte sie am liebsten in die Arme geschlossen und sie an mich gedrückt, aber etwas hielt mich zurück – eine neue Besessenheit, die jedes Gefühl erstickte bis auf das verzweifelte Bedürfnis, die Wahrheit zu erfahren. Ich mußte die ganze Geschichte noch einmal hören, denn wenn sich eine unbestrittene Annahme als falsch herausgestellt hatte – wie viele weitere Annahmen waren dann Lügen und nicht Tatsachen?

»Meine Großeltern waren nicht dabei.«

»Das weißt du.«

»Erzähl es mir noch einmal.«

Jessie ergab sich in ihr Schicksal. »Deine ... Kevins Mutter war tot, und sein Vater hatte wieder geheiratet; er hatte mit der zweiten Frau Kinder und interessierte sich nicht sehr für dich. Es ging zu schnell, als daß meine Eltern kommen konnten. Außerdem hätten sie es ohnehin nicht getan. Papa hielt nichts von Ärzten, vor allem dann, wenn eine Frau nur das tat, wozu sie da war, wie er es ausgedrückt hätte.«

Das weiche Lächeln, das auf ihrem Gesicht gelegen hatte, als sie von mir sprach, war verschwunden, und sie hatte die Lippen zusammengepreßt. Sie hatte mir schon jetzt etwas für mich Neues erzählt. Wie sie wirklich zu ihrem Vater gestanden hatte. Sie hatte ihn kaum jemals erwähnt. Merkwürdigerweise war es mir nie aufgefallen.

»Und Großmutter?« fragte ich.

»Er hätte ihr nicht erlaubt zu kommen.«

»Nicht erlaubt?«

»So war er eben. Und«, fügte sie bitter hinzu, »so war sie.«

Ich tastete mich weiter vor. »Aber du hast nach Mutters Tod zugelassen, daß sie mich zu sich nahmen.«

»Ich konnte sie nicht daran hindern. Er war bereit, vor Gericht zu gehen, und welche Chance hätte ich gegen sie gehabt – eine unverheiratete Karrierefrau, stahlhart, wahrscheinlich ›verschroben‹ – er hätte dieses Wort gebraucht –, und auf der anderen Seite ein Paar liebevoller, gottesfürchtiger, plätzchenbackender, idealer Großeltern? Er ist gestorben, als du drei Jahre alt warst, und ich habe dich zurückbekommen – aber nur, weil deine Großmutter nicht gegen mich gekämpft hat.« Jessie stand auf und begann, auf und ab zu gehen. »Ich möchte nicht über sie sprechen. Sie war deine Mutter, Haskell. Habe ich dich jemals angelogen?«

»Ich ... nein. Nein, niemals.« Bis auf den Weihnachtsmann und den Osterhasen und den Himmel, in dem meine Eltern auf mich warteten. Aber das waren keine Lügen, das waren kleine Bröckchen Trost, die ich verzweifelt brauchte, und die mir eine tapfere Frau gab, die nie an eines dieser Dinge geglaubt hatte. Aber sie war nie gezwungen gewesen, in bezug auf die Identität meiner Eltern zu lügen. Ich war nie auf die Idee gekommen zu fragen. »Also frage ich jetzt: Wer war mein Vater?«

Sie wurde blaß, zögerte aber nicht. »Ich habe nie etwas erfahren, das mich zu der Annahme veranlaßt hätte, daß es nicht Kevin Maloney war.«

Schon die Formulierung war ein Eingeständnis. Ich bohrte weiter. »Du hast es vielleicht nicht gewußt, aber du mußt es vermutet haben. Willst du mir einreden, daß du sie nie gefragt hast, daß sie es dir nie anvertraut hat?«

»Es ging mich nichts an.«

»Aber es geht mich etwas an. Die Hinweise häufen sich. Tay-Sachs, die Tatsache, daß ich keinem meiner angeblichen Elternteile ähnlich sehe, die Tatsache, daß ich ein Sieben-Monats-Kind war ...«

»Wo hast du das her?« unterbrach mich Jessie.

»Um Himmels willen, Jessie, ich kann bis zehn zählen – oder bis neun. Außerdem –« Ich runzelte die Stirn und erinnerte mich. »Ich habe den Ausdruck irgendwo, irgendwann gehört. Ich wußte damals nicht, was er bedeutet, aber er prägte sich mir durch die Art ein, wie er gesagt wurde.«

Jessie preßte die Lippen zusammen, gab aber keine Erklärung ab. »Angenommen, du hast recht. Na und? Spielt es eine Rolle?«

»Es spielt eine sehr große Rolle. Ich will wissen, wer ich bin.«

»Das wirst du herausfinden. Irgendwann. Es wird kaum damit zu tun haben, wer deine Eltern gewesen sind.«

»Aber klar, komm mir nur mit den abgedroschenen Redensarten. Ich bin, wer ich bin, ich bin Herr über mein Schicksal und Kapitän meiner Seele ... Aber die verdammten Gene zählen. Tay-Sachs beweist, daß sie zählen. Woher soll ich wissen, ob nicht noch andere tödliche Faktoren in meinem Blutkreislauf herumschwimmen?«

»Das ist nur eine Ausrede.«

»Vielleicht. Wahrscheinlich. Aber das ist mir gleichgütig. Ich will es wissen.«

»Und wenn du es nie erfährst?«

»Dann werde ich damit leben müssen. Aber falls eine Möglichkeit besteht –«

Das Telefon auf meinem Schreibtisch schrillte. Wir zuckten beide zusammen, und Jessie fluchte.

»Verdammt, da siehst du, was du mir antust. Willst du nicht abheben?«

»Nein.«

»Es ist wahrscheinlich für dich.«

»Ich will mit niemandem sprechen.«

»Verdammt noch mal ...« Jessie sprang auf und lief hinaus. Das Telefon klingelte weiter. Dann hörte das Klingeln plötzlich auf, und ich vernahm Jessies Stimme, die vom Anschluß in ihrem Zimmer aus sprach. Ich konnte die Worte nicht verstehen.

Als sie zurückkam, lag ich auf dem Bett und starrte zur Decke.

»Es war Jon«, berichtete sie.

»Das habe ich mir beinahe gedacht.«

»Er wollte mit dir sprechen. Ich habe ihm gesagt, daß du dich hingelegt hast.«

»Danke.«

»Ich habe ihm gesagt, daß er nach dem Abendessen kommen kann.«

»Noch einmal danke.« Ich richtete mich auf, obwohl ich das Gefühl hatte, daß ich einen 25-Kilo-Sack mit Erde hochstemmte. »Früher oder später muß ich es ihm ja doch sagen.«

»Ihm was sagen?«

»Daß die Hochzeit nicht stattfindet.«

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
2022
ISBN (eBook)
9783986901196
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2022 (Oktober)
Schlagworte
Familiengeheimnis-Roman Frauenunterhaltung Liebesroman Romantik Kate Morton Margot S. Baumann Felicity Whitmore Neuerscheinung eBooks

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Titel: Das Haus der dunklen Spiegel