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Rote Sonne, wildes Land

Zwei Australiensagas in einem Band: »Das Lied von Australien« und »Der Stern von Australien«

von Nancy Cato (Autor:in) Martin Schulte (Übersetzung) Willy Thaler (Übersetzung)
©2022 1830 Seiten

Zusammenfassung

Das wilde Lied des Outbacks: Der große Australien-Sammelband »Rote Sonne, wildes Land« von Nancy Cato jetzt als eBook bei dotbooks.

Zwei außergewöhnliche Frauen in den Stürmen der Zeit … Durch ein furchtbares Unglück verliert die junge Engländerin Delie auf der Überfahrt nach Australien alles, was sie liebt. Unter der brennend roten Sonne muss sie fortan jeden Tag aufs Neue dafür kämpfen, um als Frau ein selbstbestimmtes Leben führen zu können. Einzig in den kostbaren Minuten, die sie auf dem Schiff des charismatischen Flusskapitäns Brenton verbringt, wagt sie es, wieder zu träumen – aber kann es dafür eine Zukunft geben? Mutig entschließt sich auch Alix zu einem Schritt, der für eine junge Lady wie sie unmöglich scheint: Sie lässt allen Wohlstand ihrer Familie hinter sich, um als Krankenschwester in die entlegensten Winkel des Outbacks zu reisen. Dort knüpft sie ein zartes Band zu Farmern wie Ureinwohnern, aber als die Schatten des Krieges heraufziehen, muss Alix sich entscheiden, welchen Preis sie für ihr neues Leben zu zahlen bereit ist …

Erleben Sie zwei fesselnde Frauensagas, die über 1.800 Seiten pures Australienabenteuer bieten!

Jetzt als eBook kaufen und genießen: »Rote Sonne, wildes Land« von Nancy Cato vereint die epischen Familiensagas »Das Lied von Australien« und »Der Stern von Australien« und wird alle Fans von Elizabeth Haran und Patricia Shaw begeistern. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Über dieses Buch:

Zwei außergewöhnliche Frauen in den Stürmen der Zeit … Durch ein furchtbares Unglück verliert die junge Engländerin Delie auf der Überfahrt nach Australien alles, was sie liebt. Unter der brennend roten Sonne muss sie fortan jeden Tag aufs Neue dafür kämpfen, um als Frau ein selbstbestimmtes Leben führen zu können. Einzig in den kostbaren Minuten, die sie auf dem Schiff des charismatischen Flusskapitäns Brenton verbringt, wagt sie es, wieder zu träumen – aber kann es dafür eine Zukunft geben? Mutig entschließt sich auch Alix zu einem Schritt, der für eine junge Lady wie sie unmöglich scheint: Sie lässt allen Wohlstand ihrer Familie hinter sich, um als Krankenschwester in die entlegensten Winkel des Outbacks zu reisen. Dort knüpft sie ein zartes Band zu Farmern wie Ureinwohnern, aber als die Schatten des Krieges heraufziehen, muss Alix sich entscheiden, welchen Preis sie für ihr neues Leben zu zahlen bereit ist …

Über die Autorin:

Nancy Cato (1917–2000) gehörte zu den bedeutendsten und erfolgreichsten Autorinnen Australiens im 20. Jahrhundert. Über 40 Jahre lang beschäftigte sie sich in ihren Romanen und Erzählungen mit der Geschichte des Roten Kontinents, war u. a. Vizepräsidentin der Vereinigung australischer Schriftsteller und engagierte sich für den Erhalt und Schutz des Naturerbes. Ihre Familiensaga »Das Lied von Australien« wurde unter dem Titel »Alle Flüsse fließen ins Meer« für das Fernsehen verfilmt.

Bei dotbooks veröffentlichte Nancy Cato auch ihre große Familiensaga »Das Herz von Australien«.

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Sammelband-Originalausgabe Dezember 2022

Copyright © der Sammelband-Originalausgabe 2022 dotbooks GmbH, München. Dieses Werk wurde im Auftrag von St. Martin’s Publishing Group durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover, vermittelt.

Die englische Originalausgabe von »Das Lied von Australien« erschien erstmals 1958 unter dem Originaltitel »All the Rivers Run« bei St. Martin’s Press, New York; Copyright © 1958, 1959, 1962 by Nancy Cato. Die deutsche Erstausgabe erschien 1985 unter dem Titel »Delie und Brenton – Alle Flüsse fließen ins Meer« bei Goldmann; Copyright © 1985 Wilhelm Goldmann Verlag, München. Copyright © der Neuausgabe 2021 dotbooks GmbH, München

Die englische Originalausgabe von »Der Stern von Australien « erschien erstmals 1989 unter dem Originaltitel »The Heart of the Continent« bei St. Martin’s Press, New York; Copyright © der englischen Originalausgabe 1989 by Nancy Cato. Die deutsche Erstausgabe erschien 1995 unter dem Titel »Jedes Herz hat seine Welt« bei Goldmann; Copyright © 1995 Wilhelm Goldmann Verlag, München. Copyright © der Neuausgabe 2021 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von Shutterstock/OskarWells, Jackson Stock Photography und AdobeStock/Daniel Thornsberg

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (rb)

ISBN 978-3-98690-127-1

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In diesem eBook begegnen Sie möglicherweise Begrifflichkeiten, Weltanschauungen und Verhaltensweisen, die wir heute als unzeitgemäß oder diskriminierend verstehen. Bei diesem Roman handelt es sich um ein rein fiktives Werk, das vor dem Hintergrund einer bestimmten Zeit spielt oder geschrieben wurde – und als solches Dokument seiner Zeit von uns ohne nachträgliche Eingriffe neu veröffentlicht wird. Diese Fiktion spiegelt nicht unbedingt die Überzeugungen des Verlags wider.

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Nancy Cato

Rote Sonne, wildes Land

Zwei Australiensagas in einem Band

dotbooks.

Das Lied von Australien

Aus dem Englischen von Willy Thaler

Ende des 19. Jahrhunderts: Nur knapp überlebt die junge Engländerin Delie den Schiffbruch, der ihre Eltern vor der Küste Australiens das Leben kostet. Fortan wächst sie bei Verwandten im Outback auf – ein hartes Leben, das ihr alles abverlangt. Erst, als sie dem charismatischen Flusskapitän Brenton begegnet, wagt sie von einer anderen Zukunft zu träumen: voller Abenteuer und Leidenschaft. Doch jeder Traum hat seinen Preis ... und die Stürme des Lebens stellen Brentons und Delies Liebe immer wieder auf eine harte Probe. Als das Schicksal sie auseinanderreißt, muss Delie sich schließlich entscheiden, ob sie bereit ist, das Undenkbare zu wagen – und selbst das Schiff über die Fluten der wilden australischen Flüsse zu lenken ...

»Der würdige Nachfolger von ›Dornenvögel‹ – noch lebendiger und mitreißender!«, urteilt Publishers Weekly

Prolog

Hoch oben in den Australischen Alpen rinnt ein kleiner, noch junger Bach kaum sichtbar unter dem Schnee entlang –, hin und wieder tritt er aus eisblauen Löchern unter schmelzenden Schneebrücken hervor. In seinem Lauf schon bald breiter und tiefer geworden, wirbelt er in Strudeln um Felsblöcke, schäumt reißend durch Engstellen und stürzt über Wasserfälle in die Tiefe, bis er schließlich als träger, mächtiger Fluß durch die Ebene ins Meer hinausströmt.

Inzwischen haben ihn die Nebenflüsse aus verschiedenen Himmelsrichtungen mit ihren Wassern gespeist, so daß ein gewaltiges Stromgebiet entstanden ist. Angeblich können Spuren von sämtlichen mineralischen und organischen Substanzen der Welt im Wasser des Murray nachgewiesen werden: Gold und Ton, Kohle und Kalkstein, ertrunkene Menschen und tote Fische, umgestürzte Bäume und verrottete Boote – all das trägt dieser friedliche Strom in gelöster Form oder als Treibgut mit sich.

Wie ein Sinnbild des in der Zeit aufgelösten Lebens: Immer hinweggeschwemmt, erscheint er doch unaufhörlich erneuert; immerfort sich verändernd, bleibt er doch ewig der gleiche. Der Fluß, der immer Vielfältigeres in sich birgt, je weiter er seinem Lauf folgt, ist schon kraftlos und träge, wenn er sich dem Meer nähert. Er strömt kaum mehr, sondern windet sich vielmehr durch große Seen und versandete Kanäle hin zu dem Goolwa Beach, wo die kilometerlangen Sturzwellen des Indischen Ozeans als Brecher an den Strand schlagen.

Die kleine Stadt Goolwa entstand an der letzten Krümmung des breiten, trägen, müden Flusses. Die alten Gebäude aus dem Kalkstein der Umgebung sind zur gleichen Farbe verwittert wie die niedrigen, sonnenverbrannten Hügel dahinter. Vor ihnen zieht sich der Fluß an dem zerfallenen, verlassenen Landeplatz vorbei. Ein paar alte Raddampfer liegen als Hausboote dort vertäut oder stecken in einer bizarren Schräglage im Schlamm.

Man kann Goolwa oftmals besuchen, ohne auch nur zu ahnen, daß sich das Meer oder die Mündung des sich in einem Labyrinth von Sandhügeln verlierenden Murray in der Nähe befinden. An einem Tag mit Südwind oder in einer ruhigen Hochsommernacht wird man vielleicht ein schwaches Donnern, ein leise dröhnendes, gerade noch hörbares Geräusch vernehmen können: die Stimme des Meeres.

Der Fluß mag ruhig in friedlicher Stille dahinfließen und dabei das helle Kreuz des Südens in seinem dunklen Wasser widerspiegeln; doch immer wieder bricht das Donnern der Brandung durch die Stille und übertönt mit seinem Rauschen die endlose Ruhe.

Nun hat sich alles zu einem zusammengefunden, das feine Rinnsal unter dem Schnee, der hohe Wasserfall, der reißende Gebirgsbach und der dahingleitende Strom; und der Fluß, nun kurz vor dem Meer, scheint zu sagen: »Es gibt keinen Tod: In meinem Ende liegt bereits mein Wiederbeginn.«

Erstes Buch:
Ein noch nicht gezähmter Fluß

Sterne wandern und fragen nicht. Das genügt, Damit Leben und Tod, Freude und Leid fortdauern;

Und Ursache und Wirkung, und der Lauf der Zeit,

Und der unaufhörliche Strom des Seins, Der immer wechselnd dahinströmt, Wie ein in sich geschlossener Fluß ...

Edward Arnold: Das Licht Asiens

Kapitel 1

Weißer Rauch stieg auf und verlor sich in der Weite des zarten und blassen Blaus. Wie Weihrauch, dachte sie. Das mußte der Himmel sein, diese unendliche Bläue.

Dennoch glaubte sie, ihren Körper zu verspüren. Etwas tat weh – das Innere ihrer Nase und ihres Halses –, und sie erinnerte sich, daß jemand – war sie es überhaupt selbst? – hustete und würgte. Ihre Brust schmerzte.

Sie wandte den Kopf, und ein Mann geriet in ihr Gesichtsfeld, wie ein Riese, der zum Himmel aufragte. Er trug einen Bart, sah aber dennoch nicht aus wie Gott. Sein rundes, rotes, freundliches Gesicht war von seinem dunklen, aber bereits graumelierten Backenbart verdunkelt. Auch seine Brust oberhalb der abgetragenen blauen, bis zu den Knien hochgerollten Arbeitshose war mit Haaren bedeckt.

»Fühlst du dich schon besser, Liebes?« Das rote Gesicht beugte sich über sie und lächelte, wobei fleckige, abgebrochene Zähne zum Vorschein kamen.

Sie versuchte, sein Lächeln zu erwidern. »Ja, danke.« Als sie ihre eigene Stimme hörte, fegte die Erinnerung an ihr Erlebnis wie eine eisige Welle über sie hinweg, wie die Welle, die sie ins Meer geschwemmt hatte.

Sie war sehr früh aufgestanden, vor Morgengrauen, weil es ihre letzte Nacht an Bord war. Morgen würden sie Melbourne erreichen und zum ersten Mal in einem australischen Hafen an Land gehen. Sie sehnte sich schon danach, das Land zu sehen, von dem ihr Vater so viel erzählt hatte und in dem die Schwester ihrer Mutter bereits seit Jahren lebte.

Gestern hatte sie seine Küstenlinie im Nordwesten erblickt, und sie schien ihr niedrig, blau und geheimnisvoll zu sein. Sie hatte am Abend den schwachen, warmen, würzigen Duft der Brise vom Land her wahrgenommen, den Duft, von dem ihr der Vater immer erzählt hatte, daß der Wind nach den Bäumen, den Eukalyptusgehölzen roch.

Sie war an diesem Morgen zeitig erwacht und hatte sich leise angezogen, um allein auf Deck zu gehen und zum letzten Mal zu spüren, wie sich das Schiff unter ihren Füßen über die langgestreckte Dünung des Südens erhob wie ein großes, tapferes Pferd, das über die Weiten des Meeres galoppiert.

Es war noch so dunkel, daß sie nur den weißen Gischt sehen konnte, der an der Bordwand entlangzischte, und ein paar Sterne, die jedoch rasch von einer Wolkenbank verdunkelt wurden, die lautlos und unbeirrt über den Himmel zog. Die vollen Segel blähten sich über ihr, während der Wind in der Takelage heulte.

Im geisterhaften Licht der Lampe im Kompaßhaus konnte sie den Rudergänger sehen und hinter ihm den wachhabenden Offizier. Außer dem Ausguckmann am Bug befand sich sonst niemand an Deck.

Auf der dunklen Meeresfläche leuchteten weiße Linien auf, wenn die anschwellenden Wellenkämme in die Höhe stiegen. Plötzlich kam ein wilder Schrei vom Ausguck: »Brecher! Brecher voraus!«

Während der Offizier noch einen Befehl brüllte und der Rudergänger das Steuerrad herumriß, lief das Schiff auch schon mit dem Getöse von zersplitterndem Holz auf. Die Masten neigten sich wie Bäume im Sturm, und die Stags rissen mit einem lauten Krach. Eine mächtige, schaumgekrönte Woge erhob sich achtern und fiel über dem schwer havarierten Schiff zusammen.

Und sie, Delie Gordon, der einzige Passagier an Deck, wurde tief unter den eiskalten Wassermassen begraben und über Bord gespült.

Kapitel 2

Der Dampf zischte aus dem Ventil, und der kurze Zug hielt mit einem Ruck in der finsteren Station. Nur sehr langsam war er einen halben Tag lang und noch einen Teil der Nacht rumpelnd dahingetuckert, bis er endlich sein Ziel erreicht hatte. Nun stand er keuchend, aber anscheinend zufrieden mit seiner Leistung, still, denn die Bahnlinie endete hier. Der Schaffner riß die Tür auf. Als wäre der einzige, unauffällige Fahrgast, der bis zur Endstation geblieben war, ein ganzes Abteil voller Passagiere, schrie er: »Cooma! Cooma! Umsteigen in die Kutsche ins Gebirge!«

Sie begann ihre verstreuten Besitztümer einzusammeln: ihre Handschuhe, die ausgebeulte Reisetasche mit den Ersatzstrümpfen und -taschentüchern, den Unterröcken und dem zweiten Paar Schuhe, den Obstkorb und das Ladies’ Home Journal. Schließlich setzte sie den neuen Strohhut mit den schwarzen Bändern auf, den ihr der freundliche Anwalt, ein ihr bisher Wildfremder, in Melbourne gekauft hatte. »Schon gut, meine Liebe, Sie können es mir ja, wenn Sie unbedingt wollen, von dem Erbe Ihres Vaters zurückzahlen, sobald Ihre Angelegenheiten geregelt sind«, und er hatte dann noch ein Paar Handschuhe und Schuhe hinzugelegt.

Alle waren so freundlich, so wunderbar hilfsbereit gewesen. Da war sie also mit einer Reisetasche voller Habseligkeiten, die ihr Mrs. Brownlow aufgedrängt hatte, die Dame, in deren Begleitung sie bis Goulbourn gereist war, wo sie umsteigen mußte. Sogar eines ihrer viel zu langen Kleider und einen Reisewecker hatte Mrs. Brownlow ihr aufgedrängt, deren Fürsorge zwar gut gemeint war, sich aber zu besitzergreifend äußerte. Sie war froh, endlich allein zu sein. Nun wurde sie allmählich aber etwas nervös, denn alles war finster und fremd, und sie hoffte, daß ihr Onkel sie an der Bahnstation erwarten würde.

Der Schaffner bemerkte das zarte, blasse Gesicht seines letzten Fahrgastes, legte den amtlichen Tonfall ab und wurde geradezu väterlich. »Gib mir deine Fahrkarte, Kleine«, forderte er sie auf, »und reiche mir die Reisetasche. War das alles? Hast du auch noch unter dem Sitz nachgesehen? In Ordnung.«

Sie folgte ihm in den eisigen Wind hinaus. Der kleine Bahnhof wurde von zwei Straßenlampen nur schwach erleuchtet. Ein hochgewachsener Mann mit herunterhängendem Schnurrbart und einem dunklen Vollbart trat auf sie zu. Er trug einen Mantel, der ihm fast bis zu den Fersen reichte, und einen breitkrempigen Filzhut.

»Ist das Miss Philadelphia Gordon?« fragte er.

»Sind Sie ihr Onkel?« fragte der Schaffner zurück. »Mir wurde aufgetragen, ich solle sie einem Mr. Charles Jamieson aus Kiandra übergeben.«

»Stimmt. Da – nehmen Sie, besten Dank.« Der Schaffner nahm unauffällig etwas in der Hand entgegen.

»Wie geht es dir, Kind?« Der große Mann beugte sich hinunter zu ihr und küßte sie auf die Wange, wobei sein Bart sie kitzelte. Sie lächelte ihn schüchtern an. Er war zwar nur ein angeheirateter Onkel, aber er war der erste Verwandte, den sie kennenlernte, fast ihr einziger Verwandter in diesem neuen, fremden Land.

Er sah ein wenig verwundert auf sie herab. »Du bist also Philadelphia! Ich hatte eigentlich ein – ein kleines Mädchen erwartet.« Er deutete eine Größe an, nicht viel über seinem Knie.

»Ach, Onkel, ich bin doch schon fast dreizehn! Und für mein Alter recht groß gewachsen! Mutter sagt –« Sie zögerte, während die Tränen, die sie wegen ihrer Aufregung bisher zurückgehalten hatte, in ihren Augen brannten. »M-mutter hat immer gesagt, daß ich zu rasch in die Höhe geschossen bin.«

Er stellte die Tasche hin, zog ihre Hand unter seinen Arm und tätschelte sie mit der freien Hand. »Ich hoffe, daß Tante Hester eine neue Mutter für dich werden wird, meine Liebe. Ich – wir haben uns sehr darauf gefreut, dich bei uns zu haben. Wir werden dich aber ein wenig aufpäppeln müssen. Deine Tante ist übrigens eine sehr gute Köchin.«

Sie war froh, daß er den Schiffbruch nicht erwähnte –, ein Thema, über das sie noch nicht sprechen konnte, ohne nicht in Tränen auszubrechen. Während sie zum Hotel gingen, erzählte sie ihm von der Fahrt mit dem Planwagen von der Südküste nach Melbourne und von ihrem Freund, dem Seemann, der sie, den einzigen Passagier, gerettet hatte. Sie erwähnte jedoch nicht die schrecklichen Tage, die sie am Strand verbracht hatten, und auch nicht die dunklen Körper, die willenlos in den Wellen umhergespült wurden und die sie immer noch in ihren Träumen vor sich sah.

Als sie aus dem schützenden Bahnhof traten, brach der Wind über sie herein. Die Luft war schneidend kalt und trocken und drang ungehemmt durch ihren geliehenen Mantel. Das Hotel hieß »The Australian Arms«, und die fremdartige Bezeichnung entzückte sie.

»Wir sollten gleich schlafen gehen, denn die Kutsche nach Adaminaby geht morgen um sechs Uhr früh ab«, schlug ihr Onkel vor.

Sie wurde geweckt, als es noch dunkel war, und zog sich noch schlaftrunken beim Schein einer Kerze an. Das Frühstück bestand aus Tee, der zu heiß war, als daß sie ihn trinken konnte, und aus verbranntem Toast mit großen Stücken harter gesalzener Butter. Sie schlief noch halb, als sie zu der leicht beladenen Kutsche hinausgingen.

Am bewölkten Himmel standen ein paar wenige Sterne. Riesige dunkle Schatten schienen sich ringsum am Horizont zu erheben. Im Freien verspürte man ein Gefühl von Höhe, und die unbewegte Luft war schneidend kalt.

Die Kutsche fuhr mit einem Ruck an. Die kalte, frische Luft machte sie munter, und sie spürte plötzlich, wie Erregung in ihrer Kehle emporstieg. Sie liebte es sehr, in dem geheimnisvollen Licht des Morgens irgendwohin, mit welchem Ziel auch immer, aufzubrechen.

»Erzähl mir von deiner Goldmine, Onkel Charles.« Sie wollte sich umgänglich zeigen.

»Alsooo ...« Er betrachtete argwöhnisch die drei anderen Passagiere, Männer mit groben Zügen und wilden Bärten, die in unförmigen Kleidungsstücken steckten. Dann sagte er laut: »Man kann es kaum eine Mine nennen. Ich stöbere nur in der alten Kiandra-Ader herum. Alles brauchbare Erz wurde schon vor Jahren geschürft, so daß ich nur dann und wann ein paar Körnchen finde, aber es lohnt nicht einmal die Zeit, die ich dafür aufwende.« Dann wandte er sich an sie und zwinkerte ihr lange und vorsichtig zu.

Sie wußte nicht recht, wie sie sein Verhalten deuten sollte, und sagte deshalb: »Wie steht es mit den Bergen? Gibt es hier so riesig hohe, schneebedeckte Gipfel wie in der Schweiz?«

»Ja, warst du denn schon in der Schweiz?«

»Nein. Aber Vater schickte mir eine Ansichtskarte von der Jungfrau, nachdem er auf ihren Gipfel geklettert war. Sie ist 4158 Meter hoch. Mein Vater machte sogar Kletterpartien mit uns im Norden von England. Er versprach, uns mitzunehmen ...« Sie stockte, und Tränen traten ihr in die Augen. Es gab kein »uns« mehr; sie war von jetzt an ganz allein.

Er tätschelte ihre Hand. »Ich werde dich einmal auf einen Berg mitnehmen, aber von Kiandra ist es ziemlich weit ins Gebirge – bei uns gibt es nur Hügel, obwohl es fünfzehnhundert Meter hoch liegt. Aber heute morgen wirst du den Mount Kosciusko sehen.«

Sie drückte ihm die Hand in stummer Dankbarkeit dafür, daß er nicht versucht hatte, ihr sein Beileid für ihren Verlust auszusprechen. Er sah prüfend auf sie hinunter. »Ich hatte gestern abend keine Gelegenheit, dich richtig anzusehen. Blaue Augen und schwarzes Haar! Genau das kleine Mädchen, das ich mir immer gewünscht habe.«

»Es ist nicht wirklich schwarz, es ist nur sehr dunkelbraun. Hast du keine eigenen Töchter?«

»Nein, wir haben nur einen Jungen, und er ist beinahe fünfzehn. Ich – wir wollten immer ein Mädchen, aber wir bekamen keines. Deine Tante ist nicht ganz gesund, wie dir deine Mutter wohl schon erzählt hat. Ich habe mich jedenfalls sehr gefreut, als ich hörte, daß du zu uns kommst, Philadelphia.«

»Ich – ich werde für gewöhnlich Delie genannt, weißt du. Mein Name ist so endlos lang.« (Ihre Mutter hatte sie nur als Strafe bei ihrem vollen Namen genannt, wenn sie ungezogen gewesen war.)

»Also, dann Delie. Hast du deinen Namen nach der Stadt in Amerika bekommen? Adam hat den seinen natürlich aus der Bibel.«

»Ja. Vater hatte immer schon die Absicht gehabt, in die Staaten auszuwandern, bevor er überhaupt an Australien dachte. Ist Adam für sein Alter groß? Ist er sehr gescheit? Ich bin in Mathematik nicht gut.«

»Ja, er ist ein großer Junge. Er bekommt ganz gute Noten, aber sie sagen alle, er könnte besser sein, wenn er sich nur Mühe gäbe. Er neigt dazu, ein wenig verträumt und zerstreut zu sein; und er hat seine Nase immerfort in einem Buch stecken.«

»Mir sagt man genau das gleiche nach.« Unter den regelmäßigen Brauen blitzten ihm lustig ihre tiefblauen Augen entgegen, die groß, ja fast zu groß waren für die zarte Blässe ihres Gesichtes mit den feingeschnittenen, sensiblen Zügen. Sie drehte sich darauf von ihm ab und blickte aus dem beschlagenen Kutschenfenster, das sie zuvor mit ihren Handschuhen abgewischt hatte. Hinter ihnen erleuchtete die hellgelbe Sonne, die soeben aus einer indigofarbenen Wolkenwand hervorgetreten war, den Himmel. Der Sonnenschein fiel kalt und klar auf eine große, dunkelblaue Weite von Bergen, deren Höhenzüge sich nach Norden und Osten erstreckten. Nahe der Straße stiegen Hügel an, und dahinter tauchte ein schneebedeckter Berg auf.

»Der Kosciusko! Dort ist er!« rief Onkel Charles, als würde er einen alten Freund begrüßen.

Sie schaute schweigend und verzaubert hinüber, bis der Berg wieder hinter den aneinandergereihten Hügeln verschwunden war. Das klare, goldene Licht am Horizont, das Dunkelblau der fernen Bergketten, ihre welligen, rhythmischen Formen, das alles erfüllte sie mit herrlicher Unrast, dem undeutlichen Verlangen, etwas zu schaffen ... etwas, sie wußte aber noch nicht, was; und in ihr wallte plötzlich ungestüme Freude auf.

Es war spät am Tag, als sie Adaminaby erreichten. Im Gasthaus verschlang sie sofort das Abendessen, das aus dicker Kartoffelsuppe, geschmortem Steak mit Zwiebeln, Roastbeef und einem Dessert bestand. Dann lehnte sie sich zurück und strahlte ihren Onkel an, der sie mit vorgetäuschter Verwunderung betrachtete.

»Na so was«, meinte er, »das hätte ich ja nie geglaubt, selbst wenn man es mir erzählt hätte. Wenn man gesagt hätte: ›Charles, dieses schlanke, kleine, feenhafte Wesen kann essen wie ein Scheunendrescher‹, hätte ich wahrscheinlich geantwortet: ›Unsinn – sie lebt allein von Honigtau und Eicheln.‹ Aber wenn man es gesehen hat, muß man es wohl glauben. Fühlst du dich nun besser?«

»Ich fühle mich herrlich, Onkel Charles! Hoffentlich glaubst du nicht, daß ich gefräßig bin. Es ist das erste Mal seit unendlich langer Zeit, daß ich richtig Hunger hatte.«

Er lächelte. »Ich sehe es gern, wenn es dir schmeckt, meine Liebe. Wollen wir uns jetzt noch ein wenig ans Feuer setzen? Und was hältst du von einem Likör zum Abschluß?«

»Oh – ja, gerne«, sagte sie, ohne genau zu wissen, was eigentlich ein »Likör« war.

»Gut. Nur erzähle es deiner Tante nicht«, riet er ihr und zwinkerte vertraulich. Onkel Charles gab ihr ein Gläschen in die Hand, in dem eine smaragdfarbene Flüssigkeit leuchtete.

»O danke!« sagte sie, und im gleichen Augenblick spielte sich in ihrem Geist eine stumme Romanszene ab:

O danke, sagte sie und nahm den Kristallkelch aus Sir Mordreds Hand entgegen. Auf Lady Delie, sagte der Ritter, blickte ihr tief in die Augen und leerte sein Glas, um es alsbald auf den Boden zu werfen, wo es in tausend Splitter zersprang...

Das Feuer glühte warm und rot. Das Getränk war warm und grün, leuchtend wie ein Smaragd. Sie fühlte sich rundum behaglich, innen und außen. Innen... in einem warmen Nest aus...

»Oh!« erschrak sie, denn das leere Glas war ihr aus den Fingern geglitten und rollte auf den Teppich, während ihr Nacken schmerzhaft zuckte. »Ich bin eingeschlafen.«

Onkel Charles’ schläfrige, matte Augen, die allzu eng bei seiner großen, kräftigen Nase standen, blickten sie betrübt an. »Ja, geh jetzt nur zu Bett. Iß, trink und schlafe, denn morgen – fahren wir nach Hause! Dann wird es für uns beide zum Frühstück, Mittag und Tee ›Zungenpastete‹ geben.«

Danny, der Postkutscher, kam aus der Bar und glühte vor Rum und guter Laune. »Sieht so aus, als wäre es die letzte Fahrt in dieser Jahreszeit, Chas«, meinte er. »Es kommt noch mehr Schnee.«

Der leichte offene Pferdewagen, die einzige Fahrgelegenheit nach Kiandra, wartete vor den Stufen des Postamtes von Adaminaby. Er war mit Nahrungsmitteln vollgeladen, die dem Außenposten der Goldgräber für den ganzen Winter reichen mußten, denn wenn einmal die Straßen durch Schneeverwehungen unpassierbar waren, würde Kiandra von der übrigen Welt vollkommen abgeschnitten sein.

Danny warf den Postsack hinein, kletterte auf den Kutschbock und ergriff die Zügel. »Die Post geht ab!« schrie er. »Alles einsteigen!« Er ließ die Peitsche über den Rücken der Pferde knallen, und dann ging es bergauf.

Die frühe Morgensonne schien von dem klaren blauen Himmel auf Adaminaby herab. Sie überquerten den Kamm, und Delie sprang mit einem Schrei des Erstaunens auf, der sogar jene Fahrgäste erwachen ließ, die vorher am meisten dem Rum zugesprochen hatten. Neben der Straße tat sich ein tiefes Tal auf und führte auf der anderen Seite zu niedrigen Hügeln empor, die mit braunem Gras bedeckt waren. Dahinter lag eine Kette blauer Berge, die Schneestreifen und -adern aufwiesen und deren Gipfel weiß waren. In der klaren Atmosphäre wirkten sie ganz nahe und zugleich doch unerreichbar fern.

»Die Snowy Mountains«, erklärte ihr Onkel.

Delie starrte sie wortlos an, bis sie in einen Wald von hohen Eschen kamen und die Berge außer Sicht gerieten.

Sie unterbrachen die Fahrt, aßen zum Lunch, was sie mithatten, ließen die Pferde ausruhen und fuhren dann weiter durch immer tieferen Schnee. Am Spätnachmittag erreichten sie Kiandra, den Rest einer alten Goldgräberstadt mit der unwirtlichen, bedrückenden Stimmung, die durch Häuser ohne Dächer und Schornsteine ohne Rauch entsteht.

Ihr Onkel nahm den Postsack von Danny entgegen und half der frierenden, steifgliedrigen Delie hinunter in den Schnee. Er führte sie zu einem kleinen Holzhaus – eigentlich nur einer Hütte, dachte Delie –, das sich hinter einem Lattenzaun erhob. Er stieß die Eingangstür auf und stellte den Postsack und Delies Reisetasche drinnen ab. »Hester!« rief er. »Wir sind da!«

Einen Augenblick später kam eine Frau mittleren Alters in dicken, dunklen Röcken rasch durch den Korridor, der das Haus in zwei Hälften teilte.

»Hast du nicht gehört, daß die Kutsche gekommen ist?« fragte Charles beinahe beleidigt.

»Na und? Selbst wenn ich sie gehört habe, kann ich doch das Essen nicht anbrennen lassen, oder? Und das Kind ist sicherlich halb verhungert.«

Er gab ihr einen eher kühlen Kuß auf die Wange. »Deine Nichte«, stellte er sie förmlich vor. »Miss Philadelphia Gordon.«

»Philadelphia! Wie Charlotte auf einen so seltsamen Namen verfallen konnte, verstehe ich nicht –«

»Mein Vater ist darauf verfallen!«

»– aber jedenfalls willkommen in Kiandra, meine Liebe, wenn es auch ein eiskalter, erbärmlicher, unter Alkohol stehender Ort ist!« Sie beugte sich vor und küßte Delie auf die Wange. Ihre Nasenspitze war kalt und hart.

Ich mag sie nicht, dachte Delie sofort. Wenn sie lächelt, zeigt sie die ganze Innenseite ihrer Lippen, und ihre Nase mit der kalten, feuchten Spitze ist schrecklich.

Dieser Blick ihrer Tante aus kleinen, stechenden, schwarzen Augen – konnte das wirklich die Schwester ihrer blonden, hübschen Mutter sein? Delie suchte vergeblich nach einer Familienähnlichkeit und merkte an der Stille, daß sie jetzt etwas sagen mußte.

»Danke, Tante Hester. Es ist sehr lieb von euch, daß ihr mich aufnehmt. Ich werde versuchen –«, und dann brach sie zu ihrer eigenen Überraschung in Tränen aus.

»Schon gut, Kind; du bist übermüdet. Komm nur herein zum Kamin.«

Nach dem Abendessen ging Delie auf ihr Zimmer, eine kleine Kammer neben der Küche, um ihre Habseligkeiten einzuräumen. Ein schmales Bett war mit makellos sauberen Laken bezogen, auf denen eine weiße Waffeldecke lag. In einer Ecke stand eine Kommode mit Schubladen, über die verschämt ein kleiner, wegen der Feuchtigkeit stellenweise matter Spiegel ragte.

Beim Anblick ihres Spiegelbildes riß Delie entsetzt die Augen auf. Es hatte in kurzer Zeit zu viele Veränderungen gegeben. War das Mädchen im Spiegel mit den großen, umschatteten Augen wirklich sie selbst, Philadelphia Gordon –, irgendwo in den hohen Bergen in einem fremden Land?

Die trotz ihres gewöhnlich eher scharfen Tones, doch irgendwie frische, fröhliche Stimme ihrer Tante rief sie in die Gegenwart zurück.

»Zweifellos warst du etwas Besseres gewöhnt als unsere bescheidene Behausung«, stellte Hester fest, die mit einem in Flanell gewikkelten, heißen Ziegelstein hereinkam, um das Bett anzuwärmen. »Du brauchst mir nicht zu sagen, daß Lottie reicher geheiratet hat als ich. Mit meiner Arbeit im Postamt verdiene ich das Schulgeld für den Jungen; wenn es nach seinem Vater ginge – der nur nach Gold sucht, obwohl doch gar keines da ist –, würden wir alle verhungern.«

Diese Rede schloß mit einem scharfen Schniefen, das den feuchten Tropfen entfernte, der sich am Ende ihrer geröteten Nase gebildet hatte. Auch ihre Wangen waren rot und von einem Netz feiner, roter Äderchen durchzogen. Delie war körperlich erleichtert, als die metallische Stimme verstummte.

Ihre Tante fuhr in sanfterem Ton fort: »Die arme Lottie! Und du, armes Kind – eine Waise, und erst zwölf Jahre alt! Mein Liebes, sie schlafen in Jesu Armen. Das dürfen wir nicht vergessen und deshalb auch nicht traurig sein.«

Delie zog sich ein wenig vor dem knochigen Arm zurück, der um ihre Schultern lag. Ihre Mutter ruhte in der kalten, grünen See; ihr Vater und alle ihre Brüder und Schwestern waren auf einem einsamen Kliff begraben, wo sie für immer das Geräusch des Meeres in den Schlaf wiegte. Wie sollte sie da nicht traurig sein? Und alle Passagiere und selbst der nette Kapitän Johannsen und ihr Freund, der Bootsmann, waren wie Ratten in einem Faß ertrunken.

Sie antwortete nicht. Sie rückte von Tante Hester etwas ab, nahm den Strohhut mit den schwarzen Bändern vom Bett und legte ihn auf die Kommode.

»Schade, daß dein Kleid braun ist, mein Liebes, aber du konntest ja nicht ahnen, daß du ein schwarzes brauchen würdest. Nun ja, du kannst vorläufig einen Trauerflor am Arm tragen, denn du kannst natürlich die Trauer noch nicht ablegen.«

»Du hast doch eben gesagt, wir sollten nicht traurig sein, Tante Hester?«

Tante Hester blickte sie scharf an.

»Sei nicht vorlaut, Kind. Für nahe Verwandte muß man immer Trauer tragen, das weißt du doch sicherlich. – Jetzt möchte ich aber etwas anderes von dir erfahren.«

Sie machte eine Pause und sah Delie forschend an. »Äh – ihr beide wart doch allein, du und dieser – dieser Matrose, ihr habt, wie ich aus dem Brief entnommen habe, den ich von der Bank deines Vaters erhielt, als einzige den Schiffbruch überlebt. Ihr wart zwei Tage lang an einem Strand von der Außenwelt abgeschnitten. Äh – wo habt ihr denn da geschlafen?«

»In einer Höhle. Weißt du, es gab eine Höhle auf halber Höhe der Klippen –«

»In derselben Höhle?«

»Natürlich. Es gab doch nur eine.« Delie sah sie verlegen an. Ihr wäre lieber gewesen, wenn ihre Tante nicht weitergesprochen hätte.

»Hm.« Tante Hester wischte ein unsichtbares Staubkörnchen von der Kommode. Ohne Delie direkt anzublicken, betrachtete sie aufmerksam die Oberfläche der Kommode und fragte: »Hat dieser Mann – hab keine Angst, mein Liebes, du kannst es mir ruhig erzählen – hat er dich irgendwie belästigt?«

»Belästigt?« wiederholte sie verständnislos, ehe die Verlegenheit ihrer Tante ihr einen Hinweis bot. Ihr Vater war ein Arzt mit fortschrittlichen Ideen über die Erziehung von Mädchen gewesen, und sie besaß einige Kenntnisse über biologische Tatsachen. »Tom war der netteste Mensch, Tante Hester... er war schrecklich gut zu mir, so freundlich wie nur möglich und ein wirklicher Gentleman. Er sah zwar schlimm aus mit seinem großen, schwarzen Bart, den abgebrochenen Zähnen und Tätowierungen und allem. Aber er war sanft wie ein Lamm. Wenn er nicht gewesen wäre, wäre ich jetzt auch tot.«

Ihre Lippen begannen wieder zu zittern. Sie biß sie heftig zusammen.

Hester antwortete lebhaft. »Das ist eine ziemliche Erleichterung für mich. Und ich kann nur sagen, daß du Glück gehabt hast, daß er so war. Manche Männer–«, fügte sie finster hinzu. »Jetzt lasse ich dich lieber zu Bett gehen. Der Nachttopf steht hier unten, wenn du ihn brauchst. Wenn du hinten hinausgehen willst, mußt du die Gummistiefel verwenden, die bei der Hintertür stehen.«

»Danke, Tantchen, gute Nacht.«

Sie ging hinaus, und Delie setzte sich, überwältigt von der Einsamkeit und der fremden Umgebung, auf den Bettrand. Wenn nur ihr Vetter Adam zu Hause gewesen wäre! Wenn nur einer ihrer Brüder und Schwestern, nur ein einziger verschont worden wäre, um dieses seltsame, neue Leben mit ihr zu teilen! Sie wollte versuchen, sehr brav zu sein, damit ihre Tante sie liebgewann. Sie wußte, daß sie in Onkel Charles einen Verbündeten hatte.

Kapitel 3

Krach!

»Philadelphia! Was hast du jetzt wieder zerbrochen?«

»Nur eine – nur diese alte, gelbe Rührschüssel, Tante.«

Hester kam durch den Korridor gelaufen, der zum Postamt führte, und ihre schwarzen Augen funkelten zornig. »Das ist das dritte Stück, das du diese Woche zerbrochen hast, Miss. Die weiße Tasse mitsamt der Untertasse und nun meine Lieblingsschüssel. Muß das denn sein?!«

»Das zweite Stück, Tante Hester. Was soll das dritte sein?«

»Die Tasse und der Teller und die Rührschüssel. Eine Tasse und ein Teller sind zwei Dinge.« Wage bloß nicht, mir zu widersprechen, sagte ihr Blick. »Diese Schüssel hatte ich seit meiner Hochzeit.«

»Es tut mir schrecklich leid. Meine Hände waren naß, und da schien sie einfach von selbst herunterzurutschen.«

»Alles ›rutscht dir einfach‹ aus den Händen. Ich habe noch nie eine so ungeschickte Person gesehen. In Zukunft solltest du das Geschirrspülen sein lassen; du kannst mir dafür mehr beim Kochen helfen.«

Delie war entzückt. Sie mochte das Geschirrspülen sowieso nicht, und Kochen erschien ihr interessanter. Ihre Tante war eine wunderbare Köchin, sie verwendete selbst eingefrorenes Fleisch und Gemüse dazu, um wohlschmeckende Mahlzeiten zuzubereiten und gelegentlich ein Kaninchenragout auf den Tisch zu bringen. Delie hatte einmal völlig arglos gefragt, warum sie noch nie Zungenpastete gehabt hatten, und sich gewundert, als der Onkel ihr wütend zuzwinkerte und den Kopf schüttelte, während Tante Hester scharf fragte, woher ihrer Meinung nach wohl eine Ochsenzunge komme!

Eines Abends brachte ihr Onkel einige hübsche gelbe, rote und orangefarbene Steine mit, die er beim Schürfen nach Gold aus dem Lehm hervorgeholt hatte. Es waren sogenannte »Kreidesteine«, und sie waren weich genug, um mit ihnen zu zeichnen. Nachdem der Küchentisch abgeräumt war, bat sie Hester um einen Bogen braunes Packpapier und begann, einen prächtigen Sonnenuntergang zu zeichnen. Sie war von ihrer Tätigkeit vollkommen in Anspruch genommen; die anderen saßen drinnen am Kamin, aber hier im Raum war es noch warm vom Herd. Das Papier reichte für ihren Entwurf nicht aus, und so drehte sie es daher um und begann auf der Rückseite weiterzuzeichnen, wobei manchmal die Steine über den Rand des Papiers hinausglitten und einen Strich auf dem weißen Holztisch hinterließen. Eine Zeitlang fühlte sie sich vollkommen glücklich.

Der Sturm, der am Morgen über sie hereinbrach, kam ganz unerwartet. Hester war fuchsteufelswild, als sie den »schrecklichen Zustand« sah, in dem sich ihr Tisch befand, dessen schneeweiße Farbe der Stolz ihrer Küche war. Delie schrubbte und rieb mit gesenktem Kopf an den Farbstrichen. Sie konnte nicht im mindesten begreifen, warum um diese Angelegenheit soviel Aufhebens gemacht wurde, aber sie war ebenfalls außer sich. Sie konnte es nicht ertragen, wenn jemand böse auf sie war, und sie tat offensichtlich immer wieder etwas, das ihrer Tante gegen den Strich ging.

Der Pferdewagendienst von Adaminaby war eingestellt worden. Statt dessen kam Danny einmal die Woche auf Skiern, mit rundem, fröhlichem Gesicht unter der Wollmütze und brachte den Postsack mit dem roten Wachssiegel zum Kaminfeuer, wo er auftaute, bevor sie die Schnur aufknüpfen und das steifgefrorene Leinen öffnen konnte.

In dem gefrorenen Sack kam in der Mitte des Schulhalbjahres ein Brief von Adam. Hester schien sichtlich aufzutauen, während sie ihn las, so wie es dem Sack beim Feuer ergangen war, als seine hartgefrorenen Zipfel weich geworden und er in sich zusammengesunken war.

Liebe Mutter,

Es geht mir recht gut, und in der Schule ist es auch immer das gleiche. Wir hatten etwas Hagel, und morgens ist es sehr kalt, aber zu unserem Leidwesen gibt es keinen Schnee! Ist bei Euch schon viel Schnee gefallen? Ich sehe die weißen, glatten Hänge beim Haus im Geiste vor mir, und wie Vater die Skier herausholt und sie wachst ... Übrigens, laßt meine neue Kusine nicht meine besten Skier benutzen, sie würde sie sicherlich zerbrechen ...

»Er schreibt einen so hübschen Brief«, schwärmte seine Mutter liebevoll, wobei sie Delies finsteren Blick geflissentlich übersah, als sie die wenig schmeichelhafte Bemerkung über die »neue Kusine« vorlas.

Delie war entschlossen, wieder zur Schule zu gehen; sobald sie ihr Erbe antrat, würde sie unabhängig sein, auch wenn sie noch nicht volljährig war. Sie baute schon Luftschlösser und sah sich bereits in der Großstadt Sydney, wo sie alle mit ihren Fähigkeiten verblüffen würde: Ob als große Tänzerin oder als Tragödin stand zwar noch nicht fest, aber sie verbrachte viel Zeit damit, vor dem stockfleckigen Spiegel zu posieren und herumzuwirbeln.

Sie sah sich deutlich in diesen prunkvollen Szenen, während sie durch den Schnee stapfte, um den Eimer mit dem Spülwasser auszuleeren. Wenn sie nur wenigstens auf den Hügeln Ski laufen könnte! Sie ging zu ihrem Onkel und fragte ihn danach.

Charles strich sich über den Schnurrbart. »Weißt du was, ich werde dir ein Paar Skier anfertigen. Ich habe hier gut abgelagertes Holz. Nächste Woche mache ich mich gleich an die Arbeit.«

»Danke, lieber Onkel Charles.« Sie faltete mit einer dramatischen Geste die Hände unter dem Kinn, dann drehte sie eine Pirouette, wobei sie mit der Hüfte an die Tischkante stieß.

Aber als die nächste Woche gekommen war, verschob Charles die Herstellung der Skier auf die darauffolgende Woche, denn er neigte stets dazu, Vorhaben aufzuschieben. Hester mußte erst zornig werden, damit er die Brennholzkiste rechtzeitig nachfüllte.

»Nächste Woche reicht auch noch«, beschwichtigte er sie sanft, als sie ihm vorschlug, er solle Brennholz aus den Hügeln holen.

»Nächste Woche reicht nicht!« fuhr ihn seine Frau vom Kamin her an, wo sie den großen schwarzen Kessel über das Feuer hängte. Er blätterte hastig die Seite des Gazetteer of the World um, in dem er einen Holzschnitt von einigen polynesischen Schönheiten betrachtet hatte, die nichts weiter als ein Grasröckchen trugen.

»Also gut, ich werde mich heute nachmittag auf den Weg machen. Delie kann mich dorthin begleiten.«

»Delie soll mir beim Zubereiten des Abendessens helfen«, widersprach Hester sofort. Sie hatte schon längst bemerkt, daß Charles das Kind wohlgefällig musterte – natürlich war sie nur ein Kind, aber sie würde, sobald sich ihr Körper rundete, mit ihrer hellen, zarten Haut und den tiefblauen Augen, die einen scharfen Gegensatz zu ihrem dunklen Haar bildeten, eine richtige Schönheit werden. Um ihre vollen Lippen lag eine Andeutung von Sinnlichkeit, und die gleichmäßigen dunklen Brauen wiesen auf eine Zielstrebigkeit hin, die Hester in Unruhe versetzte. Vielleicht war es gar nicht so gut, daß Adam zu den Frühjahrsferien nach Hause kam.

Adam würde mit der ersten Kutsche kommen, die nach der Winterpause eintrifft, und mit ihm alle Güter, die in der Stadt langsam knapp geworden waren: frisches Gemüse, Wachskerzen, Brennöl, Streichhölzer mit roten Köpfen, Strickwolle, Nadeln, Ballen von Flanell- und Wollstoffen, neue Spitzhacken und Schaufeln – es war jedes Jahr, als würde ein Belagerungszustand aufgehoben.

Mit Delies Hilfe begann Hester, das Zimmer ihres Sohnes auszuräumen. Es lag dem Wohnzimmer gegenüber auf der anderen Seite des mittleren Korridors. Die beiden vorderen Räume nahmen das Elternschlafzimmer und das Postamt ein. Auf der Hinterseite kam man von der Küche in Delies kleines Zimmer und ins Bad, wo einmal in der Woche heißes Wasser für die Bäder der einzelnen Familienangehörigen in den engen Zuber gefüllt wurde.

In ihren Tagträumen von ihrem Vetter behandelte sie ihn zurückhaltend und geringschätzig, während er von ihrer Klugheit und Anmut hingerissen war. Denn sie hatte sich ein bestimmtes Bild von ihm als männliche Variante von Tante Hester gemacht – hoffnungslos banal aussehend, mit drahtigem schwarzem Haar und rötlichem Teint, reizlosen Gesichtszügen und einer unangenhmen Stimme.

Vor seinem Eintreffen hielt ihr Hester eine Predigt über das Thema, daß sie »jetzt ein großes Mädchen wurde«. »Und vergiß nicht – du kannst dich nicht mehr beim Ofen für dein Bad ausziehen, wenn Adam nach Hause kommt.«

»Nein, Tante Hester.«

»Du wirst bald eine junge Dame sein; wir werden deine Röcke länger machen und dein Haar aufstecken müssen. Und denk daran, daß junge Damen sich gesittet und bescheiden benehmen müssen. Ich habe dich unlängst draußen auf die Fichten klettern sehen: Das tut nur ein Wildfang.«

»Aber Vater hat mich zum Klettern in die Berge mitgenommen –«

»Kein ›Aber‹, bitte, das ist etwas ganz anderes. Und noch etwas: Es wird bald eine Veränderung in deinem Leben vor sich gehen, eine gewisse Veränderung in deinem – äh – Körper.«

Das letzte Wort brachte sie nur mit Mühe heraus und begleitete es mit einem scharfen Schniefen. Delie merkte entsetzt, daß ihre Tante ganz verlegen war, und ihr wurde heiß.

»Diese Veränderung – ist nichts, worüber du erschrecken solltest, das machen alle Mädchen ungefähr in deinem Alter mit –«

»Tante Hester, willst du mir die Menstruation erklären?« In ihrem Bemühen, ihrer Tante die Mitteilung zu erleichtern, sprach sie laut und deutlich.

Hester zuckte sichtlich zusammen. »Wirklich, Philadelphia! Das ist nichts, was –«

»Aber ich weiß doch bereits alles darüber«, sprach sie leichthin weiter. »Vater hat mir seine medizinischen Bücher geliehen. Ich habe bei ihm Physiologie gelernt. Ich weiß alles über die weibliche Anatomie, den Uterus, das Becken, die Eierstöcke und alles. Er hat sogar an einer unserer Hündinnen, die immerzu Junge warf, die Eierstöcke entfernt und mich dabei zuschauen lassen. Und –«

»Philadelphia Gordon! Ich will nie wieder hören, daß du solche Dinge zur Sprache bringst!«

»Aber warum denn nicht, Tantchen? Vater war der Ansicht, daß ein Mädchen darüber aufgeklärt sein soll, was sie erwartet, je früher, desto besser. Er meinte, wenn die Natur vernünftiger gewesen wäre, hätte sie die Frauen Eier legen lassen wie Vögel, und –«

»Das genügt, Miss! Ich will diese gotteslästerlichen Ansichten deines Vaters nicht mehr hören, und ich wundere mich sehr darüber, daß Charlotte dir überhaupt erlaubt hat, solche schamlosen Worte in den Mund zu nehmen. Ein zwölfjähriges Mädchen! Nie in meinem Leben –!« Sie brach ab, als fände sie keine Worte. Aber auf ihren Wangen brannten zwei hellrote Flecke.

Delie preßte trotzig die Lippen zusammen. Sie hatte ihren Vater für den klügsten Mann auf der ganzen Welt gehalten; und auch ihre Mutter war, obwohl sie vorgab, von seiner Freizügigkeit befremdet zu sein, dieser Ansicht gewesen.

Den nächsten Tag verbrachte Hester damit, beim Kaminfeuer im Wohnzimmer zu liegen. Ihre »alten Beschwerden«, ein rätselhaftes Frauenleiden, waren wiedergekommen, und sie hatte den ganzen Vormittag über die Schmerzen in ihrem Rücken gestöhnt. Charles zündete für sie ein Feuer im Kamin an, legte einen Stoß Holz neben der Feuerstelle bereit und sagte, er würde zur Arbeit gehen und »sie in Ruhe lassen«.

»Ruhe! Als ob es in diesem abgelegenen Nest nicht ohnehin viel zu ruhig ist!« Ihre schrille Stimme klang noch eine Note höher. »Aber nimm nur keine Rücksicht auf mich! Du wirst mich noch bald genug ins Grab bringen, darauf hast du es ja bloß angelegt.«

»Hör zu, Hester, der Winter ist fast vorbei, und Adam wird bald nach Hause –«

»Es ist diese ständige, gräßliche Kälte ... Wenn wir nur irgendwo leben könnten, wo es warm ist.«

»Halte nur noch ein bißchen durch, meine Liebe. Ich bin im Augenblick bei einer guten Stelle mit Schwemmland gelandet und könnte jetzt jeden Tag Glück haben. Dieses Feld wurde seit Anbeginn des Goldgrabens noch nie richtig ausgebeutet, außer bei der Four Mile-Mine. Wenn ich fündig werde, verkaufe ich es in Bausch und Bogen, und dann ist Schluß mit dem Schürfen.«

Hester schniefte als Antwort. Delie hatte den Eindruck, als habe er schon viele Male das gleiche gesagt und glaube schon selbst nicht mehr so recht daran.

Es war ein schrecklich kalter Ort. Das Thermometer, das Hester als Teil ihrer täglichen Pflichten beim Postamt ablas, zeigte manchmal noch am späten Vormittag achtzehn Grad unter Null. Das einzige Hotel machte erhebliche Umsätze mit Rum, der von den Gästen getrunken wurde, »um die Kälte zu vertreiben«.

Abends zog sich Delie beim Herd in der warmen Küche aus, füllte eine große Steinkruke mit heißem Wasser und nahm sie mit, um das eiskalte Bett anzuwärmen. Am Morgen verwendete sie das Wasser dann zum Waschen, denn dasjenige in ihrem Wasserkrug war oft fest gefroren.

Als endlich die Skier angefertigt waren, fegte Delie den bereits sauberen Küchenboden, schnitt Zwiebeln und schälte Kartoffeln und Rüben, schrubbte den Küchentisch und machte sich dann mit ihrem Onkel auf den Weg zum Newchum Hill.

Sie trug eine scharlachrote Wollmütze mit einer Quaste, die Tante Hester nur ungern gestrickt hatte, weil es die einzige Wolle war, die sie besaß; eigentlich hätte sie schwarz sein sollen. Ihr dicker, blauer Pullover war ein eingelaufenes Kleidungsstück ihres Onkels, und der Hosenrock war aus Hesters altem, marineblauem Sergekostüm geschneidert worden. Darunter trug sie den roten Schlüpfer aus gerauhtem Köper, auf dem ihre Tante aus Gründen des Wärmens und des Anstandes bestanden hatte.

In ihrem Blau und Rot, das ihr Haar beinahe schwarz und ihre Augen noch blauer aussehen ließ, sah sie vor dem weißen Schnee wie ein bunter Bergpapagei aus. Charles lächelte sie an.

»Als ich damals auf dem Bahnhof in Cooma dich farbloses, kleines Geschöpf in deinem braunen Kleid mit den großen, dunklen Ringen unter den Augen erblickte, hätte ich nie gedacht, daß du so hübsch wie eine Prinzessin werden würdest.«

Delie strahlte. Hübsch wie eine Prinzessin, hübsch wie eine Prinzessin sang es in ihr, während sie zu dem abgeflachten, sanftwelligen Gelände jenseits der Stadt hinaufstapften. Alle Unebenheiten des Bodens waren durch den Schnee abgerundet und geglättet; die Hügel hatten sich in körperähnliche Gebilde verwandelt und wiesen Streifen und Ränder wie dunkles Haar dort auf, wo der Schnee pappig war. Der Himmel war blau, die Sonne strahlte durch flirrende Luft auf den glitzernden, gleißenden Schnee herunter.

Durch die Mittagssonne war der Schnee geschmolzen und nachts wieder gefroren und hatte an der Oberfläche fast die Festigkeit von Eis erreicht. Charles trug beide Paar Skier auf der Schulter. Oben angelangt, bückte er sich und schnallte Delie die ihren an; dann sagte er ihr, sie solle erst einmal herumgehen und ein Gefühl dafür bekommen, während er in weiten Bogenschwüngen zum Fuß des Hügels hinabglitt.

Zwei Stunden später folgte ihm Delie voller blauer Flecke atemlos und fast weinend zur Stadt zurück.

»Ich werde es niemals können!« jammerte sie. »Und es sieht doch so leicht aus.«

»Selbstverständlich wirst du es erlernen; du hast schließlich ein sicheres Gleichgewichtsgefühl, aber der Schnee ist derzeit sehr glatt. Auf weichem Schnee lernt man es viel leichter als auf diesem eisigen Harsch.«

In der darauffolgenden Woche fiel wieder Neuschnee in großen, weichen Flocken, die wie Federn liegenblieben und über bereits geräumten Wegen tiefe Verwehungen bildeten.

Bei ihrer nächsten Lektion lernte sie, wie man am Ende eines Hanges stehen bleibt, ohne sich hinzusetzen, und wie man die Richtung durch Gewichtsverlagerung ändert. Ein herrliches Gefühl von Kraft, Fröhlichkeit und Triumph durchströmte sie da am Ende einer sturzfreien Abfahrt.

Diesmal liefen sie gut gelaunt und in rascher, ununterbrochener Fahrt zum Haus zurück. Aus dem Schornstein des kleinen hölzernen Postamtes stieg heimeliger Rauch empor, gelbes Lampenlicht fiel einladend aus seinen Fenstern, und zum ersten Male betrachtete sie das Haus als ihr Zuhause.

Kapitel 4

Die Familie war um den Tisch im Wohnzimmer versammelt. Das sanfte, weiße Licht der Kerosin-Hängelampe fiel auf glänzendes Silberbesteck, Glas und schneeweißes Leinen, denn Hester bemühte sich, »in dieser unzivilisierten Gegend etwas von den kleinen Schönheiten des Lebens« zu erhalten. Es hatte Roastbeef und Yorkshire-Pudding gegeben, und nun waren es kleine Klöße, die in Sirup schwammen und so leicht waren, daß sie im Mund zergingen.

Delie konnte vor Aufregung kaum essen; sie konnte den Blick nicht von Adam auf der gegenüberliegenden Seite des Tisches wenden, dessen helles Haar im Lampenlicht glänzte. Wie war es den beiden gelungen, so einen Sohn zu bekommen, fragte sie sich immer wieder, wie war das mit den Vererbungstheorien vereinbar, die ihr Vater sie gelehrt hatte? Adam sah nämlich keinem Elternteil ähnlich.

Er war groß und kräftig, hatte hellbraune Haut, durch die das rote Blut in seinen Wangen durchschimmerte, goldbraune Augen und helles, dichtes Haar, das tief in die breite Stirn hineinwuchs. Das Weiße in seinen Augen sah klar und kraftvoll aus, und sein jungenhafter Mund ließ einen glauben, er könnte ebenso leicht schmollen wie lachen.

Im Augenblick lachte er und sah dabei äußerst anziehend aus.

»Komm, Del!« rief er. »Ißt du nicht noch einen Kloß? Sie sollte doch ein wenig zunehmen, nicht wahr, Mutter?«

Delie reichte ihm in Gedanken versunken ihren Teller. Adam beeindruckte sie durch sein unbekümmertes Aussehen und das Bewußtsein, daß sich alles im Haus nur um ihn drehte –, wie es in den nächsten vierzehn Tagen auch tatsächlich der Fall war.

Später am Abend holte sie mit ihm Holz aus dem angebauten Schuppen, um die Kiste neben dem Kamin aufzufüllen. Jeder von ihnen trug einen Armvoll. Delie blieb, zitternd vor Kälte, einen Augenblick stehen, um zu dem herrlichen Sternenhimmel emporzublicken. Fremde Sternbilder leuchteten über den Hügeln. Das Kreuz des Südens glitt zum Horizont hinab, und es wirkte größer und heller als vom Meer aus.

»In England kannst du das Kreuz nicht sehen, nicht wahr?« fragte Adam, der ihrem Blick folgte.

»Nein. Als ich es zum ersten Mal sah, war ich ein bißchen enttäuscht, aber heute nacht sieht es wunderschön aus.«

Sie gingen in die Küche und klopften den Schnee von ihren Schuhen. Adam bückte sich, um im Herd das Feuer für den Morgen herzurichten.

»Mutter hat mir erzählt, daß dein Schiff untergegangen ist.« Er stieß mit übertriebener Kraft Holz in den Herd, und Delie bemerkte, daß seine Ohren rosa waren. Sie erkannte, daß er ihr sein Beileid wegen des Verlustes ihrer Familie aussprechen wollte. Ihr Herz klopfte rasch, und wie stets stieg in ihr das unangenehme Gefühl von Panik auf, wenn sie merkte, daß jemand in die Privatsphäre ihres Kummers eindringen wollte.

»Ja, ich war – die einzige Überlebende außer einem Mann von der Besatzung«, bestätigte sie mühsam. »Aber ich möchte nicht darüber sprechen – verstehst du?«

»Ja, ich verstehe, Kleine.« Seine Stimme klang so sanft, daß sie den verwöhnten, hochnäsigen Jungen nicht wiedererkannte, den sie bei Tisch beobachtet hatte. Ihr Herz erwärmte sich für ihn, während er das restliche Holz aufnahm und ins Wohnzimmer trug.

Unter dem warmen Wind und dem klaren Sonnenschein des Vorfrühlings schmolz der Schnee langsam dahin. Zugleich wurde Hester zugänglicher, weniger bissig und anspruchsvoll; sie erlaubte Delie, mit Charles und Adam Ski laufen zu gehen, wobei Adam ihre Skier auf den Hügel hinauftrug.

Als er nach zehn Tagen nach Sydney zurückfuhr, erschien ihr das Haus dunkler und stiller. Delie und ihre Tante saßen im Lampenlicht beisammen; beide fühlten sich einsam, aber weniger feindselig.

Der Schnee verlor allmählich sein strahlendes Weiß und seinen durchscheinenden Glanz, wurde schwer und stumpf, während er in schattigen Ecken oder an der Südseite der Mauern zusammenklumpte. Schmeißfliegen tauchten aus dem Nichts auf, summten nachts aufreizend an der Decke herum und stießen bei Tag blindlings gegen die Fenster.

Charles war den ganzen Tag außer Haus, suchte die schwer auffindbaren Nuggets, die sich immer im nächsten Fleck Schwemmland versteckten. Die Rückseite seiner Arbeitshose zeigte lauter gelbe Lehmflecke, und seine Stiefel waren dick mit Erde verklebt. Er zog sie auf der Veranda aus und trottete in Socken durch die Küche, um sich warmes Wasser zum Waschen zu holen. Dann knöpfte er sein Flanellhemd auf und setzte sich zum Kaminfeuer, streckte die Beine aus und lehnte sich mit der Pfeife zwischen den bärtigen Lippen zurück, während der Dampf allmählich von seinen Socken aufstieg.

Manchmal ließ er Delie das kleine Gefäß mit Goldstaub halten, den er in vielen Monaten harter Arbeit herausgewaschen hatte, oder sein einziges, kleines Nugget, das nicht größer als ein kleiner Fingernagel war. Sein mattgelber Glanz bezauberte ihn wie das Lächeln einer Frau. Er war überzeugt, daß dort unter den Hügeln noch ein Vermögen verborgen lag.

Bevor der letzte Schnee verschwand, nahm er Delie auf die Hänge mit und zeigte ihr die kleinen Wasserläufe, die unterhalb der hohlen Schneebrücken dahinflossen.

»Überall auf den Bergen gibt es Hunderte von ihnen«, erklärte er, »sie strömen alle hinunter zu den größeren Bächen und den Flüssen wie dem Ovens und dem Tumut. Der Schnee, auf dem wir hier stehen, wird über den Murrumbidgee zum Murray hinunterfließen.«

»Der Murray?« Sie erinnerte sich undeutlich an den Namen aus den Geographiestunden über das Empire. »Das ist der größte Fluß Australiens, nicht wahr?«

»Stimmt. Groß genug, daß Raddampfer ihn befahren können, von der Mündung flußaufwärts bis nach New South Wales. Ich bin einmal auf einem von ihnen von Swan Hill nach Morgan gefahren, und der hatte etwas an sich ... Es war so warm und sonnig, daß sogar deine Tante zufrieden gewesen wäre.«

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
2022
ISBN (eBook)
9783986901271
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2022 (Dezember)
Schlagworte
Australien-Saga Australienroman Familiensaga Liebesroman Australien Historischer Roman Krankenschwester Patricia Shaw Elizabeth Haran Neuerscheinung eBooks

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Titel: Rote Sonne, wildes Land