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Wie der erste Sonnenstrahl nach Regen

Drei Romane in einem eBook: »Der etwas andere Himmel«, »Die helle Seite der Nacht« und »Weit weg ist ganz nah«

©2023 1129 Seiten

Zusammenfassung

Die Hoffnung, die im Dunkeln erstrahlt: Der Sammelband »Wie der erste Sonnenstrahl nach Regen« von Annegrit Arens jetzt als eBook bei dotbooks.

Als würde ein Gewitter über sie hinwegrollen, schlägt das Schicksal zu ... Julia führt ein wundervolles Leben mit ihrer Familie. Doch dann gerät ihr Mann Ron in einen Unfall und stirbt. Wie soll Julia allein weitermachen? Mutig wagt sie einen Neuanfang ... Die ungleichen Schwestern Lisa und Hanna wurden von einem dramatischen Erlebnis in ihrer Kindheit entzweit. Werden sie es schaffen, die Vergangenheit zu überwinden und Frieden zu schließen? Und schließlich ist da auch noch das Model Sandra, die glaubt, ihr Glück gefunden zu haben, als sie mit dem charmanten Fotografen Andy zusammenkommt. Aber liebt er nur ihre Schönheit – und was ist, wenn sie diese einzubüßen droht?

Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der Sammelband »Wie der erste Sonnenstrahl nach Regen« enthält die dramatischen Liebesromane »Der etwas andere Himmel«, »Die helle Seite der Nacht« und »Weit weg ist ganz nah« von Annegrit Arens wird die Fans von Gaby Hauptmann begeistern. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Über dieses Buch:

Als würde ein Gewitter über sie hinwegrollen, schlägt das Schicksal zu ... Julia führt ein wundervolles Leben mit ihrer Familie. Doch dann gerät ihr Mann Ron in einen Unfall und stirbt. Wie soll Julia allein weitermachen? Mutig wagt sie einen Neuanfang ... Die ungleichen Schwestern Lisa und Hanna wurden von einem dramatischen Erlebnis in ihrer Kindheit entzweit. Werden sie es schaffen, die Vergangenheit zu überwinden und Frieden zu schließen? Und schließlich ist da auch noch das Model Sandra, die glaubt, ihr Glück gefunden zu haben, als sie mit dem charmanten Fotografen Andy zusammenkommt. Aber liebt er nur ihre Schönheit – und was ist, wenn sie diese einzubüßen droht?

Über die Autorin:

Annegrit Arens hat Psychologie, Männer und das Leben in all seiner Vielfalt studiert und wird deshalb von der Presse immer wieder zur Beziehungsexpertin gekürt. Seit 1993 schreibt die Kölner Bestsellerautorin Romane, Kurzgeschichten und Drehbücher. Zahlreiche ihrer Werke wurden für die ARD und das ZDF verfilmt.

Annegrit Arens veröffentlichte bei dotbooks bereits die Romane »Der Therapeut auf meiner Couch«, »Die Macht der Küchenfee«, »Aus lauter Liebe zu dir«, »Die Schokoladenkönigin«, »Die helle Seite der Nacht«, »Ich liebe alle meine Männer«, »Wenn die Liebe Falten wirft«, »Bella Rosa«, »Weit weg ist ganz nah«, »Der etwas andere Himmel«, »Der geteilte Liebhaber«, »Wer hat Hänsel wachgeküsst«, »Venus trifft Mars«, »Süße Zitronen«, »Karrieregeflüster«, »Wer liebt schon seinen Ehemann?«, »Suche Hose, biete Rock«, »Kussecht muss er sein«, »Mittwochsküsse«, »Liebe im Doppelpack«, »Lea lernt fliegen«, »Lea küsst wie keine andere«, »Väter und andere Helden«, »Herz oder Knete«, »Verlieben für Anfänger«, »Liebesgöttin zum halben Preis«, »Schmusekatze auf Abwegen«, »Katzenjammer deluxe«, »Ein Pinguin zum Verlieben«, »Absoluter Affentanz« und »Rosarote Hundstage«.

Außerdem veröffentlichte sie die Jugendbücher »Die Liebesformel: Ann-Sophie und der Schokoladenmann«, »Die Liebesformel: Anja und der Grüntee-Prinz«, »Die Liebesformel: Tamara und der Mann mit der Peitsche«, »Die Liebesformel: Susan und der Gentleman mit dem Veilchen«, »Die Liebesformel: Antonia und der Mode-Zar« und »Die Liebesformel: Ann-Sophie und il grande amore«.

Die Website der Autorin: www.annegritarens.de

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Sammelband-Originalausgabe Februar 2023

Copyright © der Sammelband-Originalausgabe 2022 dotbooks GmbH, München

Eine Übersicht über die Copyrights der einzelnen Romane finden Sie am Ende dieses eBooks.

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Kristin Pang, unter Verwendung von Motiven von shutterstock.com (TWINS DESIGN STUDIO, KuLouKu)

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (ae)

ISBN 978-3-98690-133-2

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Annegrit Arens

Wie der erste Sonnenstrahl nach Regen

Drei Romane in einem eBook

dotbooks.

Annegrit Arens

Der etwas andere Himmel

Julia ist überzeugt: Ihr Leben ist wie im Paradies! Ihr Mann Ron liebt sie über alles, ihre Kinder führen ein glückliches Leben und sie hat ein wunderschönes Haus. Doch eines Tages kostet sie vom Apfel der Erkenntnis – offenbar hat Ron eine Affäre! Bevor sie ihn zur Rede stellen kann, gerät Ron in einen schweren Unfall und stirbt. Für Julia bricht die Welt gleich doppelt zusammen: Nichts ist mehr wie vorher und das Vorher ist plötzlich auch ganz anders.
Julia nimmt all ihren Mut zusammen und versucht, mehr über die geheimnisvolle Fremde herauszufinden. Dabei erlebt sie mehr als eine Überraschung.

Kapitel 1
Etwas ist anders

Als Julia wach wurde, ging es schon auf neun Uhr zu. Dabei hatte sie den Wecker wie immer auf halb sieben gestellt, um pünktlich das Frühstück richten zu können. Ron, dachte sie, er musste der Übeltäter oder vielmehr Wohltäter gewesen sein. Warum schläfst du nicht mal länger, wenn niemand mehr zu wecken und abzufüttern ist? Das war am Vorabend gewesen, sie hatte protestiert, denn schließlich war Ron kein Niemand. Und nun hatte er sie ausgetrickst und sogar schon für sie das Frühstück vorbereitet. Er hatte eine gelbe Tasse auf eine grüne Untertasse gestellt, dazu einen Teller in leuchtendem Orange. Merkwürdig! Denn auch wenn dieses Geschirr, wie Julias Tochter erst unlängst mit leisem Spott festgestellt hatte, das Geschirr der unbegrenzten Möglichkeiten war, bei dem jedes Familienmitglied zumindest farblich beliebig kombinieren konnte, bekam Julia sonst immer nur Vanillegelb. Weil das am besten zu ihr passte, deckte sie auch selbst für sich so ein. Eine Pastellfarbe, die mit allem harmonierte, dezent und freundlich.

Oder fad?

Julia nahm die unschuldige Tasse, goss Kaffee hinein und befahl sich, auf der Stelle mit diesem Unsinn aufzuhören. Alle hatten ihr prophezeit, dass die Umstellung auf einen weitgehend kinderlosen Haushalt ihr anfangs Probleme bereiten würde. Sie sah das anders. In Zukunft würde sie mehr Zeit für Ron und für ihre Arbeit und für all das haben, was das Leben sonst noch für sie beide bereithalten mochte, darauf freute sie sich wie eine Schneekönigin. Punktum. Ohne weiter nachzudenken, griff sie nach der Zuckerdose, gab drei gehäufte Löffel in ihren Kaffee, begann zu rühren und hielt abrupt inne. Es knirschte, das war der Zucker. Viel zu viel Zucker. Wenn sie so weitermachte, bedurfte es keiner Kaffeesatzleserei, um herauszufinden, was die nächsten Jahre ihr brachten. Ein Pölsterchen hier und ein Pölsterchen dort, bis sie wieder dort anlangte, wo sie als Teenager gestartet war.

Im Gegensatz zu ihrer Tochter war sie damals weder schlank noch hübsch gewesen, sie hatte sich ihre heutige Figur wie so vieles andere mühsam erarbeiten müssen. Diese plötzliche Gier auf Süßes war mordsgefährlich. Wehret den Anfängen! Sie kippte den Inhalt der Tasse in die Spüle und griff erneut nach der Warmhaltekanne, doch diese war so gut wie leer. Lediglich eine Pfütze bildete sich in ihrer Tasse, was aber auch Vorteile hatte, denn ohne Kaffee schmeckten ihr selbst frische Brötchen nur halb so gut.

Julia begnügte sich mit einer Hälfte, die sie obendrein aushöhlte und lediglich mit einem Teelöffel voll körnigem Frischkäse bestrich. Sie kaute bewusst langsam und ging zur Strafe für die gottlob nur beinahe erfolgte zuckersüße Entgleisung eine ganze statt einer halben Stunde aufs Laufband. Hinterher fühlte sie sich gleich viel besser, zumindest bis sie auf die Uhr sah. Der Vormittag war schon halb um, und sie hatte noch nicht mal mit ihrer Arbeit begonnen. Dabei musste die Brosche für Emilie Brodesser-Beck bis Freitag fertig sein. Den Auftrag hatte deren Mann, ein neuer Kollege von Ron am Oberlandesgericht Düsseldorf, Julia erteilt. Die Brosche sollte eine Überraschung zum Hochzeitstag werden. Und den Haushalt erledigen und einkaufen musste sie auch noch, für das erste Abendessen zu zweit wollte sie etwas Besonderes vorbereiten. Etwas, das Ron besonders gern aß.

Julias Werkstatt befand sich im ehemaligen Schuppen am Ende des Gartens, der schmal wie ein gefaltetes Handtuch hinterm Haus lag. Es war das kleinste Haus im ganzen Viertel, alles hier war klein, seltsam verwinkelt und vielleicht gerade deshalb so anheimelnd. Nicht im Traum wäre einer von ihnen auf die Idee gekommen, wie die Nachbarn radikal zu modernisieren oder gar woandershin zu ziehen. Die Ehrenwirts liebten ihr Knusperhaus, so wie es war, auch wenn Julias Sohn schon seit Jahren automatisch den Kopf einzog, bevor er durch eine Tür ging.

Wie jedes Mal wurde Julia ganz warm ums Herz, als sie am frühen Nachmittag endlich die Glasröhre passierte, die Ron vor ein paar Jahren eigenhändig gebaut hatte, damit sie nicht länger bei Wind und Wetter über die Wiese zu ihrer Werkstatt stapfen musste. Sie hatten diese Röhre in einem feierlichen Familienakt »Wintergarten« getauft, was die Besitzer richtiger Wintergärten ringsum ebenso wurmen mochte wie die Rostbeule mitten auf dem Rasen der Ehrenwirts, die nichts anderes als das zum Denkmal erhobene erste Auto von Julia und Ron war. Außer Dienst gestellt, hatte das verwitterte und halb zugewachsene Gefährt den beiden Kindern noch jahrelang als Klettergerüst und Spielhaus gedient. Mittlerweile war es nur noch eine weitere schöne Erinnerung.

Aber wer weiß, vielleicht turnte hier in ein paar Jahren schon das erste Enkelkind herum? Julia blieb kurz stehen und betrachtete versonnen den R4, für den alles Ersparte und Erpumptes obendrein draufgegangen war. Ron hatte studiert, sie selbst hatte gerade ihr BWL-Studium abgebrochen und eine Ausbildung zur Goldschmiedin begonnen, und von ihren Eltern annehmen wollten sie beide nichts. Also hatten sie jeden Pfennig zusammengekratzt und sich die noch fehlenden achthundert Mark bei Freunden geliehen. Der R4 war ein Vorführwagen und praktisch noch nagelneu gewesen, solch eine Gelegenheit kam so rasch nicht wieder, und sie hatten den Kauf nie bereut. Mit diesem Auto waren sie zu Feten und zum Baden an den Baggersee und bis nach Rom gefahren, darin hatten sie sogar noch ihr erstes Kind transportiert, vorschriftsmäßig zuerst in einer Babyschale und später im »Römer-Peggy«, wie dieser ebenso praktische wie hässliche Autokindersitz in Orange und Schwarz hieß. Erst unmittelbar vor Julias zweiter Niederkunft machte der R4 schlapp, zur Entbindung von Max hatten sie deshalb mit dem Taxi fahren müssen. Ron war ganz grün um die Nase gewesen, was wohl auch der Grund dafür war, dass der Taxifahrer zunächst ihn für den Patienten hielt.

Seltsam, dass das schon neunzehn Jahre her sein sollte. Jetzt absolvierte das Baby von einst mit einem Gardemaß von einem Meter zweiundneunzig seinen Militärdienst. Julia hätte nie gedacht, dass es ausgerechnet ihren großen Kleinen mit den dunklen Locken und warmen Kulleraugen zum Dienst an der Waffe drängen würde, irgendwie passte das nicht zu ihm, fand sie. Nicht zu ihm und nicht zum Klima in diesem Haus, trotzdem waren Ron und sie sich darin einig gewesen, ihrem Sohn nicht dreinzureden. Sie vertrauten ihm ebenso, wie sie einander vertrauten, ein gutes Gefühl, irgendwann würde auch Lucie aufhören, ständig zu sticheln und sich in seltsamen Andeutungen zu ergehen.

Mein Bruderherz wird schon wissen, warum es einen Ballermann zum Scharfschießen braucht, bei uns nennt man so was Kompensation. Dieses »bei uns« bezog sich auf Lucies Studium der Psychologie, sie hatte gerade erst angefangen, ließ aber trotzdem keine Gelegenheit aus, um ihre jüngsten Erkenntnisse über menschliche Verhaltensmuster und deren Wurzeln auf Teufel komm raus auf Familienmitglieder zu übertragen. Ein Spiel, eines von vielen.

Lucie liebte es, in eine Rolle zu schlüpfen und sich damit so sehr zu identifizieren, dass man sich mitunter fragte, welches denn nun die echte Lucie war. Das kokette Weibchen, die Schirmherrin ausgesetzter Haustiere oder die scharfzüngig Analysierende, möglicherweise wusste Lucie das selbst noch nicht so genau. So oder so fühlte sie sich sichtlich wohl in ihrer Haut, sie strotzte nur so vor Selbstbewusstsein. Davon hätte ich in ihrem Alter gern eine Scheibe abgehabt, dachte Julia und fragte sich, während sie durchlüftete und ihr Arbeitsmaterial bereitlegte, welchen Weg sie wohl eingeschlagen hätte, wenn sie sich in Lucies Alter nicht ständig selbst infrage gestellt und deshalb ins Liebsein geflüchtet hätte.

Mein Gott, wie sehr hatte sie, Julia, als junges Mädchen ihren zwei Jahre jüngeren Bruder beneidet, der sich schon lange vor dem Abitur bei Familienfeiern und Familienurlauben ausklinkte, lieber mit seinen Freunden loszog und sich immer weiter vom Elternhaus entfernte. Rucksacktourismus, Interrail, von überall kamen Postkarten, manchmal kam auch wochenlang gar kein Lebenszeichen, dann herrschte eine Grabesstimmung in Julias Elternhaus. Düstere Drohungen wurden ausgestoßen. So geht das nicht weiter mit dem Jungen, dann muss er eben in ein Internat. Aber wenn Andy dann tatsächlich wieder auftauchte, braun gebrannt und siegessicher und übersprudelnd, waren sie alle sofort wieder seinem Charme erlegen. Und sie, Julia, hatte unbeachtet im Zimmer gesessen, als ob es sie gar nicht gäbe.

Hallo, Julia, was ist mit dir los? Freust du dich gar nicht, dass ich heil wieder da bin? Sie war aufgeschreckt, als Andy sich irgendwann auf sie besann und so fragte, aber noch ehe sie antworten konnte, war ihre Mutter ihr zuvorgekommen. Deine Schwester träumt wieder mal ins Blaue, womöglich hat sie noch gar nicht mitbekommen, wie sehr wir uns um dich gesorgt haben. Eine kleine Spitze gegen Andy, die er überging, so wie er das noch heute tat, wenn ein Thema ihm lästig war. Er war aus dem Zimmer gerannt und mit einem Stein zurückgekehrt, das war sein Mitbringsel für seine »kleine große Schwester« gewesen. Ein grauer Stein mit weißen Adern, der sich kaum von den Kieseln am Rhein unterschied. Doch Andy beharrte darauf, dass es sich um einen magischen Stein handele.

Wenn du ihn reibst, bringt er dir Glück und vielleicht sogar deinen Romeo.

In gewisser Weise stimmte das. Bis zum heutigen Tag war Julia davon überzeugt, dass Ron ohne diesen Stein niemals auf sie aufmerksam geworden wäre. Sie hatte in der Mensa am Essensschalter angestanden, sie war noch immer dort essen gegangen, obwohl sie sehr zum Ärger ihrer Eltern und vielleicht gerade deshalb schon wieder exmatrikuliert war. Für die russischen Eier in der Mensa hätte sie sterben mögen, so etwas Gutes gab es bei ihnen zu Hause nie. Der Stein war ihr aus der Jackentasche geglitten, als sie ihr Tablett in Empfang nahm. Sie hatte sich zu weit vorgebeugt und eine Lawine ausgelöst. An jenem Tag hatte es gebackene Scholle, Kopfsalat, Püree und Götterspeise mit Vanillecreme gegeben. Alle waren beiseite gesprungen, was für eine Schweinerei, konnte sie denn nicht aufpassen? Nur dieser fremde, leicht linkische junge Mann war ihrem davonkullernden Stein gefolgt, hatte sich danach gebückt, ihn aufgehoben und ihr zurückgebracht. Du hast da was verloren.

Sie hatte den Stein wortlos an sich genommen und war aus der Mensa gestürmt, sie hätte in den Erdboden versinken mögen. Wieder und wieder hatte sie diese Szene vor sich gesehen und sogar davon geträumt. Und wie in einem Film kam zum Schluss regelmäßig die Nahaufnahme von zwei Schuhen, wie sie sonst nur ältere Männer trugen, blank polierte schwarze Schuhe mit Budapester Lochmuster, die sich leicht nach außen gestellt auf sie zu bewegten, und dann hob sich der wirre Wuschelkopf des Trägers und gab den Blick in ein Paar braune Augen frei. Du hast da was verloren!

Sie hatte fast drei Wochen warten müssen, bis sie ihn wieder sah. Zunächst hatte sie gehofft, ihn mittags in der Mensa zu treffen, doch er kam nicht, jedenfalls nicht zur gewohnten Zeit. Sie hatte alle möglichen Ausreden erfunden, um ihren Ausbildungsplatz immer wieder kurz verlassen zu können. Ihre Mutter war erkrankt. Sie selbst hatte Zahnschmerzen. Sie vermisste ihre Geldbörse. Sie war Augenzeugin eines Einbruchs geworden. Später, als sie Ron davon erzählte, hatte er sie mit ihrer »kriminellen Energie« aufgezogen und angedroht, sie als angehender Richter persönlich unter seine Fittiche zu nehmen. Eine Art Schutzhaft, hatte er augenzwinkernd gemeint.

Ohne den Stein von Andy und ohne ihre Ausdauer damals wäre es vermutlich nie so weit gekommen. Es war schon spät, über zwei Stunden nach der Ausgabe des Mittagessens, die Putzkolonne rückte gerade mit ihrem Wagen an, da sah sie genau zwanzig Tage nach ihrer ersten Begegnung durch den Treppenschacht zwei Stockwerke tiefer seine Schuhe aufblitzen. Schuhe mit Budapester Lochmuster. Sie war ihm nachgerannt.

»Hallo, ich würde mich gerne bei dir bedanken. Wie wär's mit einem Kaffee?«

»Ich trinke keinen Kaffee.« Nicht unfreundlich, eher leicht verwirrt, so als ob er überlegen müsse, woher er sie kannte, was nicht weiter erstaunlich war. Sie war nun mal eine von den jungen Frauen, die man leicht übersah, und außerdem nicht mal mehr immatrikuliert.

»Dann einen Tee? Oder eine Cola?«

»Ich trinke auch keinen Tee und keine Cola.«

»Und was trinkst du dann? Irgendwas musst du doch trinken.« Sie war für ihre Verhältnisse unglaublich hartnäckig geblieben. Glücklicherweise. Sie hatte dem Stein vertraut, der plötzlich zu leben schien. Da, das ist er! Das ist dein Romeo!

»Ich trinke Milch und, wenn's sein muss, noch Wasser.«

»Ich kenne sonst niemanden, der das tut. Oder es zugibt.«

»Dann kennst du halt keine Burschen vom Land.«

»Doch. Jetzt schon.« Sie waren wieder in die Mensa gegangen, die meisten Tische waren leer, es roch nach Putzmittel, und die Milch war homogenisiert und schmeckte seltsam künstlich, warm war sie außerdem auch noch. Sie hatten kaum etwas geredet, nach höchstens einer Viertelstunde war Andy aufgestanden. Na dann! Danke! Sie war sitzen geblieben und hatte auf seine Füße gestarrt. Du bist mutig, hatte sie gesagt. Darauf er: Du auch, alle anderen gucken schnell wieder weg, wenn sie meine Gehwerkzeuge sichten. Dann hatte er sie zu einer Milch eingeladen, die noch nach glücklichen Kühen schmeckte und zu seinem Budapester Lochmuster passte, so waren sie zusammengekommen. Er war ihr erster Mann gewesen und sie seine erste Frau. Sie hätte nicht gedacht, dass es so etwas noch gab. Und es gab sie noch immer, diese wunderbare Liebe, es gab sie seit mehr als einem Vierteljahrhundert.

Braver Stein, murmelte sie und nahm ihn wie jeden Tag, bevor sie sich an die Arbeit machte, in die Hand, massierte ihn zärtlich.

Ganz glatt war er im Lauf der Zeit geworden, auch heller. Damit sie ihn nicht verlor und stets bei sich tragen konnte, hatte sie ein Loch hineingebohrt und trug ihn nun an einer dünnen Kette um den Hals. Sie steckte ihn wieder unter ihr T-Shirt zurück, um nicht bei der Arbeit behindert zu werden, außerdem sollte ihr Talisman nicht mit ansehen müssen, wie sie an etwas arbeitete, was so protzig wie diese Brosche war. Rons Kollege hatte auf seinem Entwurf beharrt, Anzahl und Anordnung der Steine hatte er ebenso festgelegt wie deren Gewicht. Sie hätte Ron gern gefragt, ob sein Beisitzer im dritten Senat bei der Aufarbeitung eines Falls ähnlich festgelegt war, doch sie wusste, dass Ron lieber selbst entschied, wann er was sagte. Außerdem war Ron ausgesprochen loyal und bis zum Beweis des Gegenteils bereit, in jedem Menschen zunächst einmal das Gute zu sehen. Er muss ja auch keinen Kitsch produzieren, dachte sie.

***

Das Telefon klingelte sechsmal, dann schaltete sich der Anrufbeantworter ein. Julia hielt kurz in ihrer Arbeit inne, um zu hören, wer da anrief, sie hatte auf Lautsprecher gestellt. Die Anruferin nannte ihren Namen nicht, das war auch nicht nötig. Überhaupt war ihre Mutter seit jeher der Meinung, von jedem blind erkannt werden zu müssen, das galt erst recht für ihre einzige Tochter. Es ging wie fast immer mit Klagen los. Etwas stimmte nicht mit der Bewässerungsanlage, aber man konnte doch nicht wegen jeder Kleinigkeit den Installateur kommen lassen, wer sollte das denn bezahlen? Ob Julia letzten Sonntag den neuen Seidenschal eingesteckt habe, es folgte eine detaillierte Beschreibung inklusive Preisangabe. Die Kohlrabi mittags waren strohig gewesen ...

Julia seufzte. Ihre Eltern hatten eine neue Zugehfrau, die auch für die beiden kochte. Im Gegensatz zu ihrer Vorgängerin legte sie weder die Gurken schon am Vortag in Salzwasser ein, noch zerkochte sie das Gemüse, und mit der Diät für den Hausherrn nahm sie es auch genau. Hoffentlich, dachte Julia, ekelt meine Mutter Barbara nicht genauso aus dem Haus wie Manila und all die anderen und glorifiziert sie dann später wieder. Keine war wie ..., und überall klang durch, dass sie selbst noch immer die Größte war und ihre Tochter ihr nicht das Wasser reichen konnte. Du verstehst das sowieso nicht, Julia!

Warum regte sie sich nur jedes Mal aufs Neue über ihre Mutter auf? Weil sie noch immer das Gefühl hatte, in deren Schatten zu stehen? Weil es reichte, ihre Stimme zu hören, um wieder eine graue Maus mit schlechtem Geschmack und Speckröllchen zu werden? Eine, die einen vom Land mit Budapester Lochmuster geheiratet hatte. Was war Angelika Lüderscheid wohl übler aufgestoßen? Dass Ron von einer, wie sie sich ausdrückte, Bauernklitsche stammte und bis heute in sein zu den Mahlzeiten gereichtes Baguette hineinbiss, statt vorschriftsmäßig Stück für Stück davon abzubrechen, oder dass er der jüngste Richter gewesen war, der jemals zum Oberlandesgericht berufen wurde? Ausgerechnet Ron! Ihre Mutter konnte Ron nicht ausstehen, so viel stand fest, trotzdem schaffte sie es nicht, seinem ungekünstelten Charme bei den sonntäglichen Besuchen völlig zu widerstehen. Hinzu kam, dass Ron wiederholt in der Zeitung zitiert wurde und prominent war.

»Dein Vater hat Alzheimer!«

Was? Mitten hinein in die Aufzählung aller möglichen Bagatellen, denen Julia mit ihren eigenen Gedanken hatte entgehen wollen, knallte dieser Satz. Wie kam ihre Mutter dazu, so etwas zu sagen? Carl Lüderscheid hatte Diabetes, Herzrhythmusstörungen und Probleme mit seinen Knochen, aber was sein Gedächtnis betraf, konnte er mit manch Jüngerem mithalten. Wenn er von einem Gang mit den Hunden in den nahen Stadtpark erzählte oder wie schon wieder der Parkplatz der Firma aussah, die einmal seine eigene gewesen war, könnte man meinen, er sei als Protokollführer unterwegs gewesen. Der Weg hinterm Bootsverleih war nicht geharkt, überall spross Unkraut. Derselbe Müll lag seit drei Tagen herum. Die Rosenbüsche in der Anlage waren noch immer nicht beschnitten. Jemand fütterte schon wieder verbotswidrig die Tauben. Sogar die Klettergeräte waren voller Kot. Die Rutsche war noch immer nicht repariert. Er vergaß kein noch so nebensächliches Detail, ohne indes Ärger über das Beobachtete zu zeigen. Julias Mutter reagierte ausgesprochen allergisch auf solche »Protokolle«. Wie um ihn zu bestrafen, bog sie das Gespräch unweigerlich auf seine Krankengymnastik und die Massagen dreimal die Woche ab. Darüber berichtete er nie. Wenn Julias Mutter davon anfing, flüchtete er sich in ein Nickerchen oder legte eine Hand hinters Ohr und gab vor, sie nicht zu verstehen. Wohl weil er nicht daran erinnert werden wollte, dass die Zeit auch vor einem Carl Lüderscheid nicht Halt machte, zumindest soweit es seinen Körper anging.

Dein Vater hat Alzheimer! Nein und nochmals nein, warum musste sie sich nur ständig etwas Neues ausdenken?

Julia nahm ihre Schutzbrille ab, legte die fertige Fassung und die Pinzette mit dem Saphir beiseite und griff zum Telefon. Sie betätigte die Rückruftaste, ihre Mutter meldete sich sofort.

»Das dachte ich mir, dass du reagierst, wenn es um deinen Vater geht.«

»Du hast das also nur so gesagt?«

»Ich sage nie etwas nur so. Ich habe ihn gebeten, mir meine Stola zu bringen, und er kam mit einem Hundeknochen an.«

»Ich habe auch schon eine Ananas geschält und die Schale in die Schüssel und die Frucht in den Mülleimer getan.«

»Ja du.«

»Habe ich jetzt auch Alzheimer?«

»Ich wollte nur, dass du informiert bist.« Klick. Angelika Lüderscheid hatte aufgelegt.

Julia wusste, dass sie sich nicht aufregen sollte. Und erst recht gab es keinen Grund, über das Gesagte ernsthaft nachzudenken. Gerede. Sand ins Getriebe. Am besten arbeitete sie einfach weiter. Andererseits wäre es nicht verkehrt, schon einmal mit den Vorbereitungen fürs Abendessen zu beginnen, und wenn Ron dann kam, würde sie sich bei einem Glas Wein alles von der Seele reden und schon beim Reden merken, wie unsinnig ihre Ängste waren. Sie neigte nun mal dazu, sich in etwas hineinzusteigern, Ron wusste das. Dann würden sie den Abend zu zweit genießen und Pläne schmieden, beispielsweise für die nächsten Gerichtsferien, die weitgehend deckungsgleich mit den Schulferien waren. Bis vor kurzem war das wichtig gewesen. Nun zählten andere Dinge. Sie reisten beide für ihr Leben gern, und sie wollten schon seit langem nach Island. Zum ersten Mal brauchten sie keine Rücksicht auf die Wünsche ihrer Kinder zu nehmen, die beiden wollten immer nur in die Sonne, sie hatten sich mit Händen und Füßen gegen eine Reise nach Island gewehrt. In diesem Jahr würde Lucie ihren neuen Freund über die Ostertage nach Wien begleiten, wo seine Familie lebte, von dort sollte es weiter nach Budapest gehen. Ob es dort um Ostern herum so warm war, wie ihre Tochter das erwartete? Wie auch immer, das war allein Lucies Problem. Und Max war sowieso noch im Grunddienst. Während Julia den Wirsing und das Hackfleisch für die Füllung vorbereitete – ein Gericht, mit dem man die Kinder jagen konnte – und auch schon einmal die Tomaten für die Soße häutete und würfelte, sah sie sich bereits Hand in Hand mit Ron diese Insel erkunden, die es ihnen beiden seit langem angetan hatte. Geheimnisvoll, voller Gegensätze, ein echtes Abenteuer nur für sie beide.

Die Kohlrouladen waren ebenso fertig wie das selbst gemachte Kartoffelpüree, als erneut das Telefon läutete. Julia zögerte. Sie überlegte, ob sie drangehen sollte. Ron musste jeden Augenblick heimkommen, er war immer extrem pünktlich, und wenn ihm doch einmal etwas dazwischenkam, rief er stets so rechtzeitig an, dass sie mit dem Essen umdisponieren konnte. Julia hatte absolut keine Lust, schon wieder mit ihrer Mutter zu telefonieren. Andererseits, wenn es doch Ron war ... Sie wartete zu lange, der Anrufbeantworter trat in Aktion. Nur ganz kurz. Ron würde sich verspäten.

***

Etwas war anders. Julia wusste nicht sofort, was das war. Sie hatte sich aufs Sofa gesetzt und eine CD von Joe Cocker aufgelegt. Sie mochte diese rauchige Stimme, die diffuse Sehnsüchte weckte und sie dann gegen den Strich bürstete. Mit dem Essen wollte sie warten, bis Ron kam. Er hatte entgegen seiner sonstigen Gewohnheit keine präzise Uhrzeit für seine verspätete Heimkehr genannt. Sie war eingeschlafen, die Musik war längst verstummt, das Geräusch des Schlüssels und das Schleifen der ewig verzogenen Haustür mussten sie geweckt haben. Sie richtete sich noch leicht benommen auf und sah Ron näher kommen, sein Gang war noch immer derselbe wie damals, leicht linkisch, die Füße übertrieben nach außen gestellt, was daran liegen mochte, dass seine Schuhgröße – er trug Größe siebenundvierzig – in keiner Relation zu seiner Körpergröße stand. Mit seinen knapp ein Meter achtzig war er fast einen ganzen Kopf kleiner als sein Sohn.

»Ist etwas passiert?«, fragte sie.

»Es passiert immer etwas. Wenn nichts mehr passiert, ist man tot.« Es war eine seltsame Antwort. Erst recht zur Begrüßung.

Julia wusste nicht genau, wie sie darauf reagieren sollte. Sie zeigte auf seine Füße, jetzt wusste sie, was anders war. Diese konservativen Schuhe mit dem Lochmuster, denen er, solange sie ihn kannte, die Treue hielt, waren ziemlich auffälligen Slippern gewichen, die wie Fremdkörper an ihm wirkten.

»Was ist mit deinen Schuhen passiert?«

»Ich war in Köln und habe mir gedacht ... ob du es glaubst oder nicht, in Köln gibt es, zumindest was uns Männer angeht, viel bessere Geschäfte als in Düsseldorf« Ron beugte sich über sie und küsste sie wie immer zuerst auf die Stirn und danach auf die geschlossenen Augenlider, dann wollte er sich wieder aufrichten, aber Julia umschlang seinen Nacken mit ihren Händen und zog ihn zu sich herab.

»Du hast was vergessen.«

»Verzeih.« Er küsste sie auch noch auf die Nasenspitze und zuletzt auf die Lippen, dann rückte sein Gesicht ein Stück zurück, und er sah ihr in die Augen. »Verzeihst du mir?«

»Ich verzeih dir alles. Aber jetzt lass uns endlich essen, ich bin halb verhungert. Es gibt dein Lieblingsgericht. Machst du uns einen Wein auf? Ich backe nur kurz etwas Brot auf, du darfst auch abbeißen. Meine Mutter hat sich übrigens schon wieder etwas Neues ausgedacht, wie sie mich in Panik versetzen kann.«

»Panik ist immer der falsche Weg.«

»Ich weiß, aber du kennst sie doch. Und mich. Wenn du nicht da bist, schafft sie es immer wieder. Sie oder Lucie, manchmal denke ich, die beiden zusammen kriegen es noch hin, dass ich über Nacht wieder eine Tonne werde, die trotzdem keiner sieht, weil sie nichts hat, was man sich angucken muss oder will. Hättest du lieber Ciabatta oder Zwiebelbrot? Zu Kohlrouladen passt Zwiebelbrot eigentlich besser, ich habe sogar an Griebenschmalz gedacht, bin ich nicht gut?« Julia wartete seine Antwort nicht ab, was sollte er auf solch ein konfuses Gestammel auch sagen? Sie lief in die Küche, zog die Kasserolle aus dem Backofen und schaltete für das Brot auf zweihundert Grad hoch. Ron war ihr gefolgt, sie hielt ihm die beiden Brote hin.

»Also nun sag schon, was du lieber hast?«

»Dich.« Diesmal vergaß Ron nichts, als er sie in den Arm nahm.

Keiner küsste wie er, seine Küsse bauten sich langsam auf, er piekste auch. Sein Bartwuchs war beachtlich, sogar das liebte sie an ihm. Er hörte gar nicht mehr auf mit Küssen und Drücken.

»Ich liebe dich«, brummte er in die Kuhle über ihrem Schlüsselbein.

»Ich liebe dich auch«, keuchte sie, »aber wenn du so weitermachst, werden uns die Kinder am Wochenende als armselige Skelette am Küchenboden finden.«

»Max darf noch gar nicht kommen«, erinnerte Ron und bückte sich nach den Broten, die sie einfach hatte fallen lassen.

Zehn Minuten später saßen sie an dem liebevoll gedeckten Tisch einander gegenüber. Julia hatte viel dazugelernt, sogar wie man Servietten kunstvoll faltete. Sie hatte das gute Porzellan und das Silberbesteck aufgelegt und ein paar Blütenblätter auf dem Tischtuch verteilt, der Kerzenleuchter unterstrich die festliche Atmosphäre. Ihre Mutter, auch das schoss ihr durch den Kopf, würde weißen Damast und echtes Silber zu Kohlrouladen allerdings als glatten Stilbruch werten. Sie würde niemals verstehen, dass gerade die Stolperstellen das Leben interessant machten. So wie damals in der Mensa ...

»Weißt du noch?« Sie hob ihr Glas und sah ihn an.

Er wusste sofort, was sie meinte. »Ich werde nichts von alldem vergessen. Niemals.« Wie er das sagte und sie dabei anschaute, hatte beinahe etwas Theatralisches.

»Außer du bekämst Alzheimer. Stell dir vor, meine Mutter behauptet ernsthaft, mein Vater sei an Alzheimer erkrankt, nur weil er ihr einen Hundeknochen statt ihrer Stola gebracht hat.« Julia redete sich alles von der Seele, das tat gut. Zwischendurch aß sie, ein paar Mal redete sie wohl auch mit vollem Mund weiter, und die sämige Tomatensoße stippte sie mit dem Brot auf, danach leckte sie sich die Finger ab.

»Jetzt bist du dran. Hat sich etwas Neues im Fall Rosenfeld ergeben? Warst du deshalb in Köln?«

»Ja«, sagte er, »das war wohl der Auslöser.« Nicht mehr, und Julia fragte auch nicht weiter nach, das war eine stillschweigende Vereinbarung zwischen ihnen. Trotzdem überlegte sie, ob er eine neue Spur verfolgte. Ron begnügte sich nicht damit, andere recherchieren zu lassen, er war für seine unorthodoxen Methoden bekannt. Manche fanden das unpassend, doch der Erfolg gab ihm in aller Regel Recht. Die Dreistigkeit dieses Kölner Unternehmers, der in jüngster Zeit auffällig oft seinen Wohnsitz verlagerte, ging ihm besonders unter die Haut. Ein Mann, der nach außen hin stets Wohlanständigkeit und Erfolg verkörpert hatte ...

»Magst du noch einen Nachtisch?«Julia wusste, dass Ron nicht viel an einem süßen Finale lag, deshalb hatte sie auch keinen Pudding oder derlei vorbereitet. Immerhin barg die Tiefkühltruhe genügend Eissorten, und sie hatten auch noch einen Rumtopf.

»Ich will nur noch ins Bett. Kommst du?«

Der Rest der Woche brachte wenig Spektakuläres. Es sei denn, man hielte die Mitteilung, dass Julias Vater eigenhändig vier Säcke Katzenfutter gekauft hatte, für besonders bemerkenswert. Diesmal hatte Barbara, die Zugehfrau, bei Julia angerufen. Am besten, Sie kommen selbst vorbei, hatte sie gemeint. Ihre Mutter ist völlig außer sich. Dann hatte sie aufgelegt, im Hintergrund war noch die Stimme von Angelika Lüderscheid zu hören. Nicht besonders laut, sie wurde niemals laut, wenn sie wütend war, aber dafür umso durchdringender. Deine Mutter hat eine Stimme, mit der man Granit schneiden kann, pflegte Carl Lüderscheid zu sagen und handelte sich dafür regelmäßig einen Blick ein, der mit jedem Laserstrahl mithalten konnte.

Julia hatte also ihre Arbeit ruhen lassen und war auf der Stelle losgefahren. Voller Sorge um ihren Vater, denn seitdem dieser in den Ruhestand übergewechselt war, spiegelten sich die Stimmungen von Julias Mutter in der Befindlichkeit des Vaters. Sie war selten zufrieden oder gar glücklich. Er aß zu viel oder zu wenig, bewegte sich falsch oder nie, fütterte die beiden Hunde heimlich oder ließ seine Tabletten verschwinden, selbst das verstärkte Zittern seiner Gliedmaßen bei Meinungsverschiedenheiten wurde ihm gern als Absicht ausgelegt.

Es war, als ob er auf seine alten Tage noch lernen sollte, wie es war, ständig in Anspannung zu sein. Früher in seiner Firma war es genau umgekehrt gegangen; soweit Julia sich erinnerte, war er ein ziemlicher Patriarch gewesen, das galt auch für seine seltenen Gastspiele daheim. In den letzten Jahren war er anders geworden. Altersweise, dachte Julia, nicht resigniert, das nicht, obwohl sie es verstanden hätte. Er war ihr näher gerückt. Die Vergangenheit verblasste immer mehr.

Eine knappe halbe Stunde später stand Julia vor dem Corpus Delicti. Vier schwere Säcke, von denen sie je ein zufriedenes Katzengesicht ansah, dahinter der Sessel mit dem ausklappbaren Fußteil, in dem ihr Vater lag und friedlich schlief.

»Wie geht es ihm?« Julia umrundete das Katzenfutter und trat neben ihren Vater, beugte sich über ihn, aber er rührte sich nicht. Nur ein Augenlid zuckte ab und an, die Füße zuckten auch, das war der Parkinson.

»Wie es halt jemandem geht, der ohne Massagen und all die anderen teuren Behandlungen keinen Schritt mehr tun, geschweige denn etwas tragen kann und sich dann plötzlich klammheimlich ins Auto setzt und in die Stadt fährt und mit diesem Zeug da zurückkommt. Die Hunde haben es unter der Terrasse hinter dem Kaminholz aufgespürt. Royal Canin. Die teuerste Marke. Ich verabscheue Katzen.«

»Vielleicht hat er das Katzenfutter mit dem Hundefutter verwechselt.«

»Mir hätte klar sein sollen, dass du ihn auch noch verteidigst.«

»Es ist doch weiter nichts passiert, Mutter. Nur ein dummer Irrtum. Wenn du willst, tausche ich das Futter um, und alles ist wieder in Ordnung.«

»Und das glaubst du wirklich?« Plötzlich standen Tränen in den Augen ihrer Mutter.

Julia konnte sich nicht erinnern, wann zuletzt sie ihre Mutter hatte weinen sehen. Ein beängstigender Anblick.

»Mutter, wenn da etwas ist, das ich wissen sollte ... wenn der Arzt etwas gesagt hat ... ich meine, wenn da noch mehr ist als die Sache mit dem Hundeknochen und der Stola oder jetzt mit dem Futter ...? Es gibt inzwischen sehr gute Diagnosemöglichkeiten bei einem Verdacht auf Alzheimer, und in der Therapie ist man ebenfalls nicht stehen geblieben, ich habe extra im Internet nachgeschaut ...«

Julia stockte. Ihre Mutter hatte ihr den Rücken zugedreht und ging hinaus. Ohne sonderliche Hast, die schwere Schleiflacktür glitt mit einem vornehmen leisen Klicklaut hinter ihr ins Schloss. Sie vergaß niemals, die Klinke bis zuletzt festzuhalten, das hatte sie auch, solange Julia zurückdenken konnte, von ihren Kindern erwartet, als diese in das Alter kamen, in dem man die Musik gern etwas lauter aufdreht und die klassischen Ruhezeiten vergisst. Meine Nerven! Die Nachbarn! Kein unnötiges Toben und Lärmen und vor allem keine Überraschungen, derlei vertrug Julias Mutter nicht, noch nie. So war sie. Sie würde sich niemals ändern. Ihr Verhalten tötete jeden Anflug von Mitgefühl bei Julia.

***

Der Fall Rosenfeld musste Ron noch mehr beschäftigen, als Julia angenommen hatte. Ron schaffte es in dieser Woche an keinem einzigen Abend, pünktlich heimzukommen, und in der kurzen Zeit, die er anwesend war, blieb er ausgesprochen wortkarg und zerstreut. Sie hätte gern ausführlich mit ihm über den jüngsten Zwischenfall bei ihren Eltern gesprochen, doch sie tat es nicht, weil sie sich sagte, dass er auch so genug im Kopf hatte. Was war fälschlich gekauftes Katzenfutter gegen Kindesmissbrauch. Denn darum ging es letztendlich bei diesem neuen Fall, so viel wusste sie immerhin schon.

Obwohl Ron den Kopf voll hatte, vergaß er jedoch nicht, jeden Morgen liebevoll das Frühstück für sie vorzubereiten. Er bestand auch weiter energisch darauf, dass sie etwas länger schlief. Du brauchst deine acht Stunden Schlaf, das weißt du doch. Wenn du ausgeschlafen bist, kann dich nichts umwerfen. Sie hatte scherzhaft erwidert, dass er bei dieser Einschätzung wohl die Brosche außer Acht ließ, die sie fristgerecht für die Frau seines Senatskollegen anfertigen sollte und die neben Rons später Heimkehr der Grund dafür war, dass sie abends so lange in ihrer Werkstatt blieb. Er hatte leise gelacht und sie in den Arm genommen. Du schaffst das schon!

Okay, sie hatte es geschafft. Endlich. Aber auch nur, weil sie am Donnerstag bis Mitternacht durchgearbeitet hatte. Sie war mit dem Gedanken eingeschlafen, dass auch Ron mehr Schlaf brauchte. Er trieb Raubbau mit seinen Kräften, das würde sie ihm gleich am nächsten Morgen sagen, dazu war sie fest entschlossen. Doch dazu kam es nicht. Diesmal machte ihre Tochter ihr einen Strich durch die Rechnung. Noch ehe Julias Wecker klingelte, stand plötzlich Lucie neben dem Bett. Sie sagte nichts, trotzdem spürte Julia, dass da jemand war und sie ansah. Kritisch, lauernd, völlig anders als Ron, wenn er sie gelegentlich vor dem Aufwachen betrachtete. Ron fand ihre Schlafstriemen und verstrubbelten Haare niedlich und mochte auch ihre Nachthemden, die zugegebenermaßen altmodisch, dafür aber mollig warm und in jedem Fall gemütlich waren.

Ausgesprochen vorsichtig und mit leisem Unbehagen öffnete Julia an diesem Freitagmorgen die Augen und sah direkt auf ein Paar endlos lange, schlanke Beine in Röhrenjeans.

»Lucie? Was machst du denn schon so früh hier?«

»Morgenstund hat Gold im Mund. Das sagt Oma Angelika auch immer. Wo hast du nur immer diese schrecklichen Nachthemden her?«

»Ehrlich gekauft.« Es wäre Julia lieber gewesen, unbeobachtet aus dem Bett steigen zu können. Andererseits sagte sie sich, dass so etwas absolut lächerlich war. Sie hatte keine Lust zu warten, bis Lucie sich nach draußen bequemte. War dieses Nachtkleid wirklich so grässlich? Sie schlug die Bettdecke zurück, hangelte mit den Zehen nach ihren Pantoffeln, die eigentlich Max gehörten, und stand auf. »Das sind die Pantoffeln von meinem Bruder, sie sind dir mindestens drei Nummern zu groß.«

»Das stört mich nicht.«

»Warum ziehst du nicht die Pantoletten an, die Oma dir geschenkt hat?«

»Weil ich morgens früh nicht gut auf so hohen Absätzchen laufen kann, deshalb. Ich knicke immer darin um.«

»Aber sie sind sexy.«

»Ich gehe jetzt unter die Dusche, okay? Und dann erzählst du mir beim Frühstück, warum du wirklich schon so früh gekommen bist.«

Beim Gang ins Bad fiel Julia ihr Training ein. Sie hatte sich fest vorgenommen, ab sofort jeden Morgen auf ihr Ergometer zu steigen, komme, was da wolle. Andererseits wollte sie wissen, was Lucie einen Tag früher als geplant heimkommen ließ. Versteckte sich hinter ihrer obercoolen Art möglicherweise so etwas wie Heimweh? In Berlin musste alles fremd für sie sein, und sie war noch nie zuvor ohne die Perspektive, spätestens in ein paar Wochen zurückzukehren, von zu Hause weg gewesen. Ihr Nörgeln besagte nicht viel, das war oft nur Fassade, so viel verstand auch Julia von Psychologie. Oder hatte Lucie nur keine saubere Wäsche mehr? Oder Probleme mit dem Bügeln? Oder war ihr das Geld ausgegangen? Oder, oder, oder, Julia beschloss, sich lieber zu beeilen, statt weiter herumzurätseln. Dafür verzichtete sie auch ausnahmsweise auf ihr Training.

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
2023
ISBN (eBook)
9783986901332
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2023 (Februar)
Schlagworte
Liebesroman Frauenunterhaltung Romantik Neuanfang Roman Trauer Roman Sammelband Barbara Leciejewski Neuerscheinung eBook
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Titel: Wie der erste Sonnenstrahl nach Regen