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Die Tempelritter-Saga - Band 3: Löwe und Schlange

Sechs historische Romane in einem eBook: „Die Teufel von Paris“ und „Die Liebe im Schatten“ von Peter DeCella, „Der Ritter des Todes“ und „Der falsche Mönch“ von Jean LeMaittre, „Der Kampf mit dem Drachen“ von Elias Aimery, „Das Grab des Heiligen“ von Matthias Gerwald

©2023 1769 Seiten

Zusammenfassung

Erleben Sie die Welt des Mittelalters: Der historische Sammelband »DIE TEMPELRITTER-SAGA – Löwe und Schlange« als eBook bei dotbooks.

Am Mittsommertag des Jahres 1318 will Henri de Roslin endlich Zuflucht finden im nordfranzösischen Notre-Dame – doch dann wird der auch hier als »Königsmörder« verunglimpfte Tempelritter erkannt und muss auf seiner halsbrecherischen Flucht alles riskieren. Sein treuer Gefährte, der Muslim Uthman, gerät indes in ganz andere Gefahr: Seine Liebe zur schönen Christin Madeline droht, sie beide ins Verderben zu stürzen. Und schon kurze Zeit später müssen sich die Freunde gemeinsam einer Herausforderung stellen, die all die heimtückischen Mönche, hinterhältigen Prediger der Apokalypse und mörderischen Geheimnisse rund um ein verlorenes Evangelium in den Schatten zu stellen droht – denn mitten in Frankreich soll es einen leibhaftigen Drachen geben, der Menschen und Vieh verschlingt. Oder steckt doch etwas ganz anderes hinter der Bestie?

Ein fesselndes Lesevergnügen mit über 1.700 Seiten – dieser dritte monumentale Sammelband vereint sechs Abenteuerromane der TEMPELRITTER-SAGA: »Die Teufel von Paris« und »Die Liebe im Schatten« von Peter deCella, »Der Ritter des Todes« und »Der falsche Mönch« von Jean LeMaittre, »Der Kampf mit dem Drachen« von Elias Aimery und »Das Grab des Heiligen« von Matthias Gerwald.

Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der Abenteuer-Sammelband »DIE TEMPELRITTER-SAGA: Löwe und Schlange« kann unabhängig von seinen beiden Vorgängern gelesen werden und beinhaltet fundiert recherchierte Nachwörter zu jedem Einzelband mit vielen spannenden Informationen über die Tempelritter und das Leben im 14. Jahrhundert. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Über dieses Buch:

Am Mittsommertag des Jahres 1318 will Henri de Roslin endlich Zuflucht finden im nordfranzösischen Notre-Dame – doch dann wird der auch hier als »Königsmörder« verunglimpfte Tempelritter erkannt und muss auf seiner halsbrecherischen Flucht alles riskieren. Sein treuer Gefährte, der Muslim Uthman, gerät indes in ganz andere Gefahr: Seine Liebe zur schönen Christin Madeline droht, sie beide ins Verderben zu stürzen. Und schon kurze Zeit später müssen sich die Freunde gemeinsam einer Herausforderung stellen, die all die heimtückischen Mönche, hinterhältigen Prediger der Apokalypse und mörderischen Geheimnisse rund um ein verlorenes Evangelium in den Schatten zu stellen droht – denn mitten in Frankreich soll es einen leibhaftigen Drachen geben, der Menschen und Vieh verschlingt. Oder steckt doch etwas ganz anderes hinter der Bestie?

Ein fesselndes Lesevergnügen mit über 1.700 Seiten – dieser dritte monumentale Sammelband vereint sechs Abenteuerromane der TEMPELRITTER-SAGA: »Die Teufel von Paris« und »Die Liebe im Schatten« von Peter deCella, »Der Ritter des Todes« und »Der falsche Mönch« von Jean LeMaittre, »Der Kampf mit dem Drachen« von Elias Aimery und »Das Grab des Heiligen« von Matthias Gerwald.

Die Autoren dieses Sammelbandes:

Peter deCella studierte Geschichte und Archäologie und vertiefte in zahlreichen Reisen nach Norditalien sein Wissen über die Stadtrepubliken des Spätmittelalters. In seiner Heimat Sachsen-Anhalt erforschte er außerdem die weit verstreuten Zeugnisse des Wirkens der Tempelritter im Raum Elbe-Saale. Der Autor lebt inzwischen in Italien.

Jean LeMaittre forschte lange Zeit über die europäischen Wandermönche und ist ein Spezialist für das Alltagsleben von Musikanten, Gauklern, Huren und Vaganten im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit. Der Autor lebte auf einem Herrensitz nahe Nantes und verstarb im Jahr 2013.

Elias Aimery machte sich mit seinen Forschungen zur Geschichte des Judentums im spätmittelalterlichen europäischen Raum einen Namen. In seinem Templer-Roman spürt man die große Liebe zum historischen Oberitalien, zu seinen Sagen und Mythen. Elias Aimery lebt in einem Benediktiner-Kloster bei Brescia.

Mattias Gerwald ist das Pseudonym des Erfolgsautors Berndt Schulz. Er wurde 1942 in Berlin geboren und veröffentlichte zahlreiche Kriminalromane und Sachbücher. Außerdem ist Schulz unter dem Pseudonym Mattias Gerwald als Autor historischer Romane erfolgreich. Er lebt in Nordhessen und Frankfurt am Main. Bei dotbooks erschien Berndt Schulz‘ Krimi-Reihe rund um Kriminalkommissar Martin Velsmann, die folgende Bände umfasst: »Novembermord: Martin Velsmann ermittelt – Der erste Fall«, »Engelmord: Martin Velsmann ermittelt – Der zweite Fall«, »Regenmord: Martin Velsmann ermittelt – Der dritte Fall«, »Frühjahrsmord: Martin Velsmann ermittelt – Der vierte Fall«, »Klostermord: Martin Velsmann ermittelt – Der fünfte Fall«. Außerdem erschienen bei dotbooks Berndt Schulz‘ Kriminalromane »Wildwuchs« und »Moderholz«, der Roman »Eine Liebe im Krieg« sowie der Kinderkriminalroman »Das Geheimnis des Falkengottes«.  Unter dem Namen Matthias Gerwald veröffentlichte Berndt Schulz bei dotbooks die historischen Romane »Die Geliebte des Propheten«, »Das Geheimnis des Ketzers«, »Die Entdecker«, »Die Sternenburg«, »Die Gottkönigin«, »Die Gesandten des Kaisers« und »Die Hetzjagd«.

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Sammelband-Originalausgabe Februar 2023

Copyright © der Sammelband-Originalausgabe 2022 dotbooks GmbH, München

»Der Teufel von Paris« von Peter deCella erschien erstmals 2006 unter dem Titel »Henri de Roslin und die Teufel von Notre Dame« im Pabel Moewig Verlag. Copyright © der Originalausgabe 2006 by Pabel-Moewig Verlag KG, Rastatt; Copyright © der Neuausgabe 2015 bei dotbooks GmbH, München.

»Die Liebe im Schatten« von Peter deCella erschien erstmals 2006 unter dem Titel »Liebe in Zeiten des Hasses« im Pabel Moewig Verlag. Copyright © der Originalausgabe 2006 by Pabel-Moewig Verlag KG, Rastatt; Copyright © der Neuausgabe 2015 bei dotbooks GmbH, München

»Der Ritter des Todes« von Jean LeMaittre erschien erstmals 2006 unter dem Titel »Henri de Roslin und das Ende der Welt« im Pabel Moewig Verlag. Copyright © der Originalausgabe 2006 by Pabel-Moewig Verlag KG, Rastatt; Copyright © der Neuausgabe 2015 bei dotbooks GmbH, München

»Der falsche Mönch« von Jean LeMaittre erschien erstmals 2006 unter dem Titel »Henri de Roslin und der falsche Mönch« im Pabel-Moewig Verlag. Copyright © der Originalausgabe 2006 by Pabel-Moewig Verlag KG, Rastatt; Copyright © der Neuausgabe 2015 bei dotbooks GmbH, München

Copyright © der Originalausgabe 2006 von »Der Kampf mit dem Drachen« von Elias Aimery by Pabel-Moewig Verlag KG, Rastatt.

»Das Grab des Heiligen« von Matthias Gerwald erschien erstmals 2006 unter dem Titel »Das neue Evangelium« im Pabel-Moewig Verlag. Copyright © der Originalausgabe 2006 by Pabel-Moewig Verlag KG, Rastatt; Copyright © der Neuausgabe 2015 bei dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design, Memmingen, unter Verwendung verschiedener Bildmotive von Shutterstock/SergeyKlopotov, Abrastror, Smiltena

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (ts)

ISBN 978-3-98690-135-6

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Peter deCella, Jean LeMaittre, Elias Aimery und Matthias Gerwald

DIE TEMPELRITTER-SAGA: Löwe und Schlange

Sechs historische Romane in einem eBook

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Peter deCella
DIE TEUFEL VON PARIS

Im nordfranzösischen Notre-Dame wollen sich der Tempelritter Henri de Roslin und seine Gefährten von den vergangenen Strapazen erholen. Das von Flüssen umgebene Idyll scheint dafür wie geschaffen. Dann aber geschieht etwas völlig Unerwartetes: Ein ehemaliger Soldat erkennt Henri, den Königsmörder, und zeigt ihn an. Erneut wird der Templer zum Gejagten. Doch diesmal ist eine Flucht unmöglich – Unwetter haben die Flüsse unüberwindbar anschwellen lassen. So wird aus der beschaulichen Zuflucht eine tödliche Falle …

Kapitel 1

Juni 1318. Mittsommernacht

Die Nacht begann sich aufzulösen. Wie durch Zauberkraft wurde es am Fluss immer heller. Ohne dass Sonne oder Mond Helligkeit spendeten, legte sich ein geheimnisvolles Licht über den verwunschenen Wald von Notre-Dame, irgendwo im Norden der Normandie.

Die Natur bot ein Schauspiel, das alle Menschen, die es erblickten, faszinierte. Es lag etwas in der Luft, das nicht zu fassen war. Es knisterte. Es zuckte. Es leuchtete. Überall schienen sich unsichtbare Erdgeister zu regen, und derjenige, der ganz genau hinsah, konnte sie mit etwas Glück vielleicht sogar sehen.

Es war die kürzeste Nacht des Jahres. Sie schien dem Licht die Herrschaft zu überlassen. Dieses Ereignis wurde gefeiert.

Henri de Roslin, Uthman ibn Umar, Joshua ben Shimon und Sean of Ardchatten blickten von einer Anhöhe auf das fließende Wasser hinab, über dem Nebel hingen und an dessen Ufer Feuer brannten. Der Fluss strömte dahin, und im Plätschern der Wellen nahmen die Gefährten die Rufe von Menschen wahr, fröhliche Gesänge und Frauengelächter. Darunter mischte sich Nachtigallengezwitscher, das wie eine von fernen Flöten gespielte Melodie herüberklang. Am deutlichsten aber war der strenge Schlag der kleinen Trommeln zu vernehmen, zu dessen Rhythmus Männer Fackeln am Flussufer entlangtrugen. Die Trommeln und. die Fackeln erhöhten die Spannung. Schließlich stürzten sich nackte Frauen, die im Dunkeln gelauert hatten, auf die in gespannter Erwartung auf dieses Ereignis harrenden jungen Männer.

Nackte rekelten sich in dieser Nacht überall und badeten im Fluss, der sich auf vielfache Weise um Notre-Dame teilte.

Genau hier, an dieser Stelle, hatte sich einst ein Wasserwunder ereignet. Die Jungfrau Maria war erschienen und hatte eine heilende Quelle zum Sprudeln gebracht. Die Bewohner von Notre-Dame feierten in dieser Nacht der Nächte vor allem auch dieses Ereignis, sie feierten die Jungfrau, das Wasser und das Licht, mit ihrer Nacktheit, ihren Waschungen und ihren Fackeln. Sie waren getaufte Christen, deren Gemeinde ein gestrenger Priester vorstand, und dennoch beteten sie nach altem Ritual die Natur an.

Inmitten dieses wilden Treibens erschien plötzlich ein Priester, genau an der Stelle im Wald, wo die Nebelschleier am dichtesten aufstiegen. Der in ein knöchellanges, schneeweißes Ornat gehüllte Mann wuchs über die Büsche vor der Lichtung empor, und als er die Arme gen Himmel reckte, wirkte er fast so groß wie die Bäume. Als er näher kam, erkannte man, dass er auf den Schultern kräftiger Träger stand. Unter leichtem Schwanken ließ er sich von ihnen zu einem Feuer tragen, in dem Kräuterbündel verbrannt wurden, die einen betörenden Duft verströmten.

Wie die Gefährten von der anderen Seite des Flusses aus beobachten konnten, wurden kurz darauf Flöße zu Wasser gelassen, auf denen kleine Strohpuppen auf Scheiterhaufen brannten. Während diese immer kräftiger aufloderten, trieben die Flöße durch Reihen von badenden Männern und Frauen, die bis zum Bauch in den Fluten standen. Sie empfingen die flammenden Flöße mit Getöse und leiteten sie vorsichtig durch das Spalier menschlicher Leiber hindurch. Dabei schwenkten sie funkenstiebende Fackeln, deren Licht sich mit dem Feuerschein der Scheiterhaufen verband. In der Ferne galoppierten drei Falben von Ufer zu Ufer, und die weißen Funken des Wassers spritzten im Licht der Feuer hoch empor.

Die weit gereisten Gefährten, die erst am Vorabend in Notre-Dame eingetroffen waren, verstanden den Sinn dieser Zeremonie nicht, aber sie konnten sich ihrem Zauber auch nicht entziehen. Henri, der als Christ jedes heidnische Tun mit besonderem Argwohn betrachtete, wusste, dass die strengen Priester in der Dorfkirche dieses zügellose Treiben mit den Worten verdammten: »Feuer wird fallen vom Himmel, bis ihr in eurem Fett bratet!« Er selbst allerdings, der die Liebe des Fleisches ohne Seele mit Keuschheit zu beantworten trachtete, beurteilte das lüsterne Treiben zu dieser Mittsommernacht nachsichtig. Die Menschen, dachte er, leben ohnehin im Fegefeuer. Seuchen, Plagen und Katastrophen suchen sie heim, ja, selbst der Unheil verkündende Komet soll wieder gesichtet worden sein. Er kehrte sicher mit finsteren Absichten zurück, da würde es bald kaum mehr Grund zum Feiern geben.

Sollen sie also feiern, dachte Henri. Und als er in die Gesichter seiner Gefährten blickte, erkannte er, dass sie ebenso dachten.

»Es ist kaum zu glauben, dass man in diesem vom göttlichen Wunder berührten Dorf nackte Jungfrauen zu sehen bekommt«, sagte Sean. »Und diese Frauen sind nicht nur jung, sie sind schön und gesund mit ihren weißen und festen Gliedern. Nach all dem Verfall, den wir in der Bretagne erlebt haben, kommen mir ihr Anblick und dieses ganze Fest hier wie ein Wunder vor.«

»Genau das aber ist das Leben«, sagte Uthman, »ein Wunder.«

»Und wir müssen es bewahren, in all seinen Formen«, ergänzte Joshua. Er sprach langsam und gedämpft, denn er war noch recht schwach nach der langen Reise – die Zeit in Quimper hatte ihre Spuren hinterlassen.

»Wir sollten uns allerdings darauf vorbereiten, dass in Notre-Dame nicht jeden Tag nackte Frauen zu sehen sein werden«, warf Henri schmunzelnd ein. »Wir haben Mittsommernacht, und da sind die üblichen Sitten und Gebräuche außer Kraft gesetzt.«

»Es gibt übrigens auch nackte Männer unter den Feiernden«, warf Uthman ein.

»Vor dem Hintergrund der Pest, die wir in Quimper erlebt haben, wird sich uns wohl in jedem gesunden Leib das Wunder der göttlichen Schöpfung offenbaren«, sagte Henri frohgemut. Und nach einer kurzen Pause fügte er nachdenklich hinzu: »Ich kann mir allerdings lebhaft vorstellen, dass sich die Priester gegen dieses unchristlich anmutende Fest ereifern werden.«

»Lass sie eifern, Henri!«, sagte Uthman kopfschüttelnd. »Sie haben nie geliebt.«

»Der Anblick nackter Frauen kann verzücken, aber er stellt auch eine Herausforderung dar«, sagte Henri. »Besonders für solche, die sich der Keuschheit verpflichtet haben, wie ich. Meine Vernunft sagt mir, es ist Sünde, eine Nackte anzuschauen; und es ist auch Sünde, sich nackt zu zeigen. Aber dann fühle ich, dass die Frauen unschuldig sind. Zwar locken und verführen sie, aber doch nur deshalb, weil der Herr ihnen die Sehnsucht nach Liebe eingepflanzt hat.«

»Schlecht sind allein jene Frauen, die ohne Liebessehnsucht sind und dennoch danach trachten, zu verführen«, meinte Uthman. »Sie tun es schamlos, um uns Männer willenlos zu machen und um für sich allein Vorteile zu erringen. Sie haben den göttlichen Ruf nicht vernommen, der ihnen sagt, dass ihre Schönheit ein Geschenk ist, mit dem man achtsam umgehen muss.«

»Ihr Sarazenen wisst, wovon ihr redet«, sagte Joshua matt. »Ihr habt das Problem der unkeuschen Frauen rigoros gelöst, indem ihr alle Weiber unter Schleier hüllt und hinter vergitterten Fenstern versteckt.«

»Wir Rechtgläubige mögen es eben nicht, wenn Frauen schamlos sind. Es gibt viele liebenswerte und schöne Frauen. Aber es gibt ebenso viele, deren Geist und Seele verkümmert sind. Sie wissen nicht, was sie anrichten, wenn sie Männer willenlos machen, oder, was noch schlimmer ist, sie empfinden tiefe Lust dabei und genießen ihre Macht. Diese Weiber muss man zügeln.«

»Aber ist es eine vernünftige Lösung, die Frauen zu verstecken?« Sean schaute ratlos. »Erscheinen sie den Männern dadurch nicht sogar noch reizvoller und begehrenswerter, und verzehren sie sich dann nicht noch weitaus sehnsüchtiger nach ihnen? Das wäre doch ein großer Schaden für uns Männer.«

»Mein Knappe ist ein richtiger Philosoph«, scherzte Henri. »Allerdings glaube auch ich, dass es besser ist, wenn wir die Frauen zu uns nehmen, anstatt sie zu verstecken. Sie gehören in unsere Mitte und sollten nicht weggesperrt werden wie kostbare Trophäen. Man muss mit Überzeugung auf die Weiber einwirken, nicht mit Verboten. Und wir Männer müssen ihnen Vorbilder sein.«

»Außerdem gibt es genügend kluge und sittsame Frauen«, wandte Joshua ein, »die mit ihrer von Gott geschenkten Schönheit zurückhaltend umgehen und damit uns Männer wahrlich erfreuen.«

»Diese Frauen helfen uns tatsächlich, Freude am Leben zu haben«, gab Uthman zu. »Schlimm ist es allerdings um jene bestellt, die immer nur vom Geschenk ihrer Schönheit zehren, ohne daran zu denken, dass dieses Geschenk vergänglich ist. Wenn sie nicht lernen, dass der Mensch mehr ist als nur Körper, werden sie äußerst unglücklich sein, wenn sie einmal alt werden.«

»Aber erhalten Frauen denn je eine Gelegenheit, andere Tugenden auszubilden?«, fragte Joshua.

»Vielleicht wollen sie es gar nicht!«, gab Uthman zur Antwort.

»Höre ich da etwa Töne von allzu großer Geringschätzung Frauen gegenüber heraus?«, fragte Henri.

»Nein«, entgegnete Uthman lächelnd, »die hörst du nicht. Und bitte glaube nicht, dass wir uns gegen Frauen wenden, nur weil sie bei uns einen Schleier tragen. Das mag in den Augen von euch Christen so aussehen, doch der Schleier ist für die Frauen eigentlich nur von Vorteil, denn er dient ihnen als Schutz vor der Aufdringlichkeit lüsterner Männer. Mohammed – Friede sei mit ihm – war alles andere als ein Feind der Frauen.«

»Aber seine Nachfolger waren es«, meinte Henri. »Es fing schon bei Abu Bakr an, aber besonders Omar, der zweite Kalif, verachtete die Frauen, für ihn waren sie nichts als wild wuchernde, ungezähmte Natur. Und Ali, der große Führer der Schiiten, stand ebenfalls in dieser Tradition.«

»Das war das Problem der Exegeten«, gab Uthman zu. »Aber Mohammed – Friede sei mit ihm – wusste genau, welche Bedeutung die Frauen in unserem Leben haben. Und deshalb verachte auch ich sie in keiner Hinsicht. Im Gegenteil: Ich liebe die Frauen. Und sie lieben mich. Kann man gewisse Verhaltensweisen von Frauen nicht bemängeln, ohne gleich als ihr Feind dargestellt zu werden?«

»Du hast natürlich Recht«, gab Henri zu. »Wer das Verhalten von Männern kritisiert, ist auch nicht gleich ein Feind der Männer. Aber was ist mit diesen Menschen da hinten?« Henri wies mit dem Kinn auf die ohne Scham sich gebärenden Leute im Wald, im Wasser und auf der Lichtung. »Begreifen sie, wie sie sich gegenseitig ergänzen und welche Aufgabe ihnen dabei zukommt?«

»Nein, sie lassen sich von ihrer Lust leiten. Denn sie wissen, dass morgen schon alles vorbei sein kann«, sagte Uthman.

»Auch ich glaube nicht, dass sie wissen, was sie tun«, meinte Joshua. »Aber sie kennen die Gefahren, die ihnen tagtäglich drohen, deshalb verhalten sie sich in dieser besonderen Nacht so zügellos.«

»Christen sollten die Liebe segnen«, sagte Sean melancholisch. Die Gefährten wussten, dass er in Gedanken noch immer bei seiner geliebten Angelique war, die in Quimper an der Pest gestorben war.

»Ganz gleich, in welcher Form sie sich zeigt?«, fragte Henri zweifelnd.

»Der Liebe ist menschlicher als der Krieg«, erwiderte Sean. »Aber den Krieg segnen wir, während wir der Liebe misstrauen.«

»In diesem Punkt kann ich dir zum Teil Recht geben, mein Knappe«, sagte Henri. »Die Liebe ist ein Grundpfeiler der christlichen Lehre. Doch damit ist nicht die animalische Liebe gemeint, die nur die körperliche Gier befriedigt und die uns hier heute Abend überall umringt. – Trotzdem, lassen wir die Menschen in dieser Nacht feiern, wie sie es wollen.«

»Ja«, sagte Uthman. »Gehen wir in den Gasthof zurück. Hier draußen am Wasser wird es allmählich kalt.«

»In dieser Gegend fließt erstaunlich viel Wasser«, stellte Joshua nachdenklich fest. »Es ist seltsam, wie stark und schnell sich das Wasser fortbewegt, obwohl es gar kein Gefälle gibt.«

»Das stimmt«, sagte Uthman. »Jetzt, wo du es sagst, fällt es mir auch auf. Notre-Dame wird von zahlreichen Wasserarmen umflossen. Ein merkwürdiger Ort.«

»Als käme alles aus einer einzigen Quelle«, sagte Joshua nachdenklich. »Und als gäbe es jemanden, der es von irgendwoher in einer bestimmten Absicht steuerte.«

***

Da Uthman ein wenig heilkundliches Wissen besaß, hatte er sich bereit erklärt, den noch immer recht schwachen Joshua zu pflegen. Er hatte Kräuter gesammelt, die den Freund stärken sollten, darunter auch einige Giftpflanzen. Der Trank, den er daraus zubereitete, bestand aus blauem Eisenhut, Aronstab und Bilsenkraut, dazu kamen Tollkirsche und weißer Diptam; um die Wirkung zu mildern, hatte Uthman etwas roten Sonnenhut und Wasserdost hinzugefügt. Joshua, selbst ein Heilkundiger, war voller Vertrauen in die Künste Uthmans. Nach der langen Haft in Quimper war er glücklich über die Zuwendung, die er nun erhielt, und Uthman kümmerte sich rührend um ihn.

Unterdessen versuchte Henri, seinen Knappen Sean von dessen Trauer abzulenken. Der Tod seiner Liebsten nahm ihn mehr mit, als er zugeben wollte; diese Wunde verheilte nur sehr langsam. Die beste Kur, das wusste Henri, war in diesem Fall intensive Beschäftigung. Daher ritt er am Morgen nach Johannis, als die Rauchschwaden von den Feierlichkeiten der vergangenen Nacht noch über dem Wald hingen und die Glut von Hunderten kleiner Feuer noch nicht ganz erloschen war, zusammen mit Sean in den Wald.

In den Baumwipfeln rauschten sanft die Blätter. Menschen waren nirgends zu sehen. Bald trat zwischen den dicht stehenden Stämmen die Nacht endgültig zurück, und feine Sonnenstrahlen brachen durch das undurchdringliche Geäst. Die tiefen Sandwege verschluckten jeden Tritt der Reitpferde.

Es ging in einem geschlossenen Waldstück mit einzelnen Kiefernhalden um Wegbiegungen, dann mit Felsblöcken übersäte Anhöhen hinauf. An der hohen Flanke wichen die verfilzten Kiefernstände einem Eichenwald, in dem vereinzelte knorrige und verwachsene Hutebuchen standen, die sich gegenseitig zu stützen schienen.

Henri lehrte seinen Knappen das Fährtenlesen. Jeder abgeknickte Zweig, jeder umgedrehte Stein, jede zerdrückte Wurzel hatten eine Bedeutung. Bei den Kämpfen im Heiligen Land war es oft darauf angekommen, Fährten zu erkennen und richtig zu deuten, häufig hatte das Leben davon abgehangen.

»Was ist das?«, fragte Henri und deutete auf eine bemooste Stelle am Waldboden, auf der ein deutlicher Abdruck zu erkennen war.

Sean ging in die Hocke. »Jemand ist darüber gelaufen«, meinte er.

»Und wer?«

»Willst du wissen, wie er hieß?«

»Dummkopf! War es ein Mensch oder ein Tier?«

»Wie soll ich das wissen, Herr Henri! Ich war doch nicht dabei.«

»Eben. Gerade, weil du nicht dabei warst, ist es wichtig, dass du dir die Spur genau anschaust. Wer Spuren richtig zu deuten vermag, erhält schnell ein klares Bild von den Umständen, die zu ihnen führten, du kannst dann beispielsweise recht genau erkennen, was kürzlich hier geschehen ist. Also?«

Sean beugte sich wieder über den Waldboden. »Es sieht aus, als stammte der Abdruck von einem Tier. Er ist klein, nicht sehr tief – und da sehe ich einen Eindruck, wie von einem Sporn.«

»Sehr gut«, lobte Henri. »Vielleicht war es ein Wildschwein?«

»Nein«, sagte Sean zögernd. »Wildschweine haben keinen Sporn am Huf. Eher war es ein hufloses Tier, vielleicht sogar ein Greifvogel, der eine Maus fing.«

»Hört, hört! Jetzt siehst du schon Einzelheiten! Gehen wir weiter.«

Sie erreichten eine Lichtung. Henri hielt an einem Busch an. Wieder deutete er auf eine Stelle, die auffällig gekennzeichnet war.

»Was ist hier geschehen?«, fragte er.

»Hier hat ein Tier Schutz gesucht.«

»Welches Tier? Beachte die niedergedrückten Zweige! Noch in Augenhöhe sind sie gebrochen.«

»Das Tier war. – ein Mensch!«

»Ein Mensch?«

»Vielleicht waren es sogar zwei!«

»Sie haben in diesem Busch Schutz gesucht? Wovor?«

»Sie liebten sich vielleicht. Am Boden scheint ein Lager gewesen zu sein.«

»Sehr gut. Und was für Menschen waren das?«

»Ich war doch nicht dabei! Also, ich sehe glatte Brüche an den Zweigen, ich sehe tiefe Abdrücke von nackten Füßen im weichen Boden, ich sehe allerdings keine Spuren von Wolle oder Tuch. Zumindest hier ist nichts hängen geblieben. Also waren die beiden vielleicht nackt – ein Mann und eine Frau?«

»Das kann sein. Aber ergibt sich das aus den Spuren? Oder reimst du das nur zusammen, weil du gesehen hast, was sich hier während des Mittsommernachtfestes abspielte?«

Sean beugte sich wieder über den Boden. »Ich sehe Abdrücke am Boden. Wenn ich sie mit Kreide umzeichnen würde, ergäbe sich vielleicht ein Abdruck eines nackten Frauenkörpers. Vielleicht ist der Boden noch warm? Nein, nicht mehr.«

»Nun, mein Sean, bevor du dich zu sehr anstrengst, lass dir gesagt sein, dass man die Spuren, die man findet, häufig zu einem recht klaren Bild verbinden kann. Du hast bisher alles sehr gut gemacht, aber bedenke, dass uns unsere Phantasie zuweilen in die Irre führen kann. Verlasse dich daher immer nur auf das, was du zweifelsfrei erkennst.«

»Das tue ich doch!«

»Das machst du leider nicht immer, Sean! Du lässt dich von Gefühlen leiten.«

»Ist das denn schlimm?«

»Nein, nicht immer. Nur manchmal, wenn man klare Gedanken braucht, um wichtige Entschlüsse zu fassen.«

»Auch dazu bin ich in der Lage. Ich werde mit allem fertig, mit dem Wirklichen und mit dem Eingebildeten!«, sagte Sean selbstbewusst.

»Nun, wir werden sehen!«, entgegnete Henri.

Da schrie Sean plötzlich auf und deutete erschrocken auf eine Stelle hinter Henris Rücken. »Da, schau!«

Henri drehte sich um. Ein strenger Wildgeruch stieg ihm in die Nase, und er hörte, wie es ringsum im Holz knackte und zahlreiche Äste brachen. Eine Rotte Wildsauen mit Frischlingen wühlte schmatzend im Wurzelwerk alter Buchen.

Urplötzlich brach ein Keiler aus dem Unterholz hervor. Er wirkte äußerst kräftig und ziemlich bedrohlich. Mit zitternden Flanken stand er da, senkte seinen Kopf und scharrte mit den Hufen, als wolle er jeden Augenblick zum Angriff übergehen.

»Nimm das Schwert in beide Hände!«, rief Henri seinem Knappen zu. »Halt es fest und strecke es vor den Körper!«

Mit gesenktem Schädel, die Hauer vorgereckt, raste der Keiler heran. Dann bohrte er seine Vorderläufe in den Boden und starrte die Eindringlinge aus roten Augen an.

Henri hörte neben sich hastige Schritte. Als er zur Seite sah, bemerkte er Sean, der auf eine mehrstämmige Hutebuche zu rannte. Schnell hangelte er sich daran empor. Henri fixierte den Keiler. Er zielte mit dem Schwert zwischen seine Augen. Sean hatte inzwischen eine sichere Höhe erreicht. Henri hob langsam das Schwert und machte zwei Schritte nach vorn.

Der Keiler schnaubte wild, aber er griff nicht an. Seine Flanken zitterten stärker, mit seinen scharrenden Hinterläufen warf er Sand auf. In Henris Gedanken flammten plötzlich Bruchstücke einer fernen Erinnerung auf. Es war ihm, als habe er die gleiche Szene schon einmal erlebt. Aber er war doch noch nie auf Saujagd gewesen.

Doch! Jetzt fiel es ihm ein. Ein einziges Mal in seinem Leben hatte er an einer solchen Jagd teilgenommen.

Henri machte noch einen Schritt. Dann stand er dem Tier Auge in Auge gegenüber.

Es war eine ganz besondere Jagd gewesen, bei der er allerdings nicht freiwillig zugegen gewesen war. Nicht einmal vier Jahre zuvor, an einem eiskalten Novembertag, hatte er im Wald von Fontainebleau an einer Saujagd teilgenommen! Es war ein blutiges Ereignis gewesen. Und er hatte dabei den König getötet!

Blitzartig schossen ihm die Bilder durch den Kopf, er konnte sie nicht zurückdrängen. Der Keiler stand noch immer angriffslustig schnaubend vor ihm.

Henri erinnerte sich ungern an diese Geschehnisse. Es war eine grausame Zeit gewesen. Er hatte sich am Hof in Fontaineblau eingeschlichen, um Rache zu üben. Früh am Morgen hatte der König seine Falken fliegen lassen, und die Jäger hatten ihre Sauhunde durch das Blasen der Hörner ermuntert. In einem windgeschützten Dickicht aus Adlerfarn, das guten Schutz vor Wind und Nässe bot, war plötzlich Schwarzwild aufgetaucht.

In der vorangegangenen Nacht hatte Henri nicht geschlafen. Er hatte wach in seinem Zelt gelegen, denn er hatte gewusst, was ihn am nächsten Morgen erwartete. Und als es so weit war und das Schwarzwild zwischen Dämmerlicht und Frühsonne erschien, war die Gefahr überall greifbar gewesen. Henri erinnerte sich genau. Er hatte gedacht: Dies ist ein guter Tag für meine Rache!

König Philipp, neben dem Henri geritten war, musste die Gefahr, die von diesem ausging, plötzlich gespürt haben. Er hatte ihn misstrauisch angeblickt und sein Pferd hart am Zügel gerissen, sodass es sich aufbäumte. In diesem Moment war der Keiler direkt vor ihnen erschienen.

Henri fixierte nun den Keiler vor ihm im Wald von Notre-Dame. Das Tier rammte weiter seine Hufe in den Waldboden und grunzte anhaltend. Es wusste anscheinend nicht, ob es angreifen oder weichen sollte.

Im Wald von Fontainebleau hatte König Philipp, der die Verhaftungen und die Morde an den Tempelrittern zu verantworten hatte, die Verfolgung des Keilers aufgenommen; die Saufeder hatte er im angewinkelten Arm gehalten. Henri erinnerte sich jetzt wieder ganz genau daran. In Todesangst hatte sich der Keiler plötzlich umgedreht. Schweißflocken waren gestoben. Dann war das Tier zum Angriff übergegangen.

Einer seiner Hauer hatte den königlichen Schimmel am Bein getroffen. Vor Schmerz und Schrecken hatte das Pferd gebockt und den König abgeworfen, der allerdings mit einem Fuß im Steigbügel hängen geblieben war. In seiner Panik war das Pferd durch den Wald davongaloppiert und hatte den hilflosen König durch das Unterholz geschleift.

Philipps Schmerzensschreie dröhnten Henri noch jetzt in den Ohren. Der Keiler hatte Henri damals mit ebenso wilden, roten Augen angestiert, mit denen ihm jetzt sein Verwandter im Wald von Notre-Dame entgegenblickte. Gleich darauf hatte das Tier kehrtgemacht und war geflohen.

Henri hatte die Verfolgung aufgenommen. Dann war der Fuß des Königs aus dem Steigbügel gerutscht, und der Verletzte war liegen geblieben.

Als Henri den Gestürzten erreicht hatte, hatte für ihn eine andere Jagd begonnen.

Er hatte sich über den blutenden König gebeugt, dessen blondes Haar zerzaust, verklebt und schmutzig war. Philipp, den man den Schönen nannte, hatte ihn angefleht, ihm zu helfen. Henri, der im Tempel zu selbstloser Hilfeleistung erzogen worden war, hatte ihm seine Hand hingehalten. Doch dann hatte er wieder diese schrecklichen Bilder vor seinem inneren Auge gesehen, die ihm bis heute in lebhafter Erinnerung waren: Folterszenen, zerbrochene Gliedmaßen, leere Blicke – und die Scheiterhaufen.

Er hatte laut gestöhnt. Es klang wie ein Laut der Liebe, aber es war ein hasserfülltes Stöhnen gewesen. Er hatte die Hand zurückgezogen und die Saufeder hoch über seinen Kopf erhoben. Der König hatte ihn ungläubig angeblickt. Und dann hatte Henri die Waffe, die eigentlich für die Wildschweinjagd gefertigt worden war, niedersausen lassen. Anschließend hatte er ein zweites Mal zugestoßen.

Und noch einmal.

Der König war auf den vor Kälte dampfenden, nach Moder und Leben gleichzeitig duftenden Waldboden niedergesunken. In verzweifelter Abwehr hatte er noch einmal die Hand ausgestreckt, vielleicht, um noch einen letzten Zipfel seines erbärmlichen, verächtlichen Lebens zu fassen zu kriegen. Dann hatte er seinen letzten Atemzug getan. Und Henri hatte leise zu dem Leblosen gesagt: »Jetzt ist Eure Saujagd endgültig zu Ende, mein Gebieter!«

Sean schrie laut seinen Namen. Da kam Henri wieder zu sich. Er machte zwei Schritte nach vorn und stieß mit dem Schwert nach dem Keiler. Das Tier drehte sich um und rannte behände davon.

Henri wandte sich Sean zu.

Der Junge baumelte an einem Ast der Buche, auf die er geklettert war, und bot ein recht jämmerliches Bild. Gleich mussten seine Hände abrutschen, und er würde auf den Waldboden plumpsen.

Henri lief zu seinem Knappen hinüber und kam ihm im letzten Moment zur Hilfe. »Du hast Recht, Sean«, sagte er erheitert. »Du meisterst alle Situationen, die eingebildeten und die wirklichen. Aber du hast eine seltsame Art, dies zu tun.«

»Danke, Herr Henri!«, sagte Sean erleichtert. »Ich dachte schon, der Keiler spießt mich auf. Und plötzlich rutschte ich ab. Die Äste sind so verdammt glitschig!«

»Ja«, sagte Henri. Und dann wiederholte er gedankenverloren noch einmal: »Ja.«

Im Wald war kein Geräusch zu hören. Die Natur schien wie erstarrt. Die letzten Rauchschwaden vom vergangenen Fest verzogen sich gerade.

Kapitel 2

Juni 1318. Der alte Mann

Im Gasthaus von Notre-Dame wurde laut gelacht und viel getrunken. Die Feierlichkeiten zur Mittsommernacht setzten sich an diesem Abend fort. Bierkrüge wurden herumgereicht, Becher mit Wein und Cidre machten die Runde, und mit beiden Händen griffen die Gäste nach den gebratenen Kapaunen.

Das Jahr hatte seinen Höhepunkt erreicht, seine sommerliche Mitte. Aber es gab noch einen anderen Grund zu feiern. Ein alter Mann erzählte immer wieder davon: Die Pest schien endgültig besiegt. Der Alte hatte zuverlässige Kunde davon. Die Seuche hatte die Normandie nie erreicht.

Der Alte hatte in Quimper zwei Brüder an die Pest verloren. Allem Anschein nach trauerte er sehr über diesen Verlust, denn die Gäste gaben ihm recht viel Cidre aus, damit er nur weitererzähle, und der Alte nahm gerne an und trank maßlos davon, wie um seine Trauer zu ertränken.

»Man kann nur hoffen, dass die Bewohner der ehemaligen Seuchenstädte die Krankheit inzwischen nicht doch irgendwo anders hin verschleppt haben«, meinte Uthman. »Aber der Alte behauptet ja, die Epidemie sei zum Stillstand gekommen.«

»Woher will er das wissen?«, fragte Joshua. »Nicht einmal die Ärzte können das genau sagen.«

»Nun, hoffen wir, dass es stimmt«, bemerkte Henri.

»Allen, die Joshua Leid zugefügt haben, wünsche ich allerdings auf ewig die Pest an den Hals!«, schnaubte Uthman.

»Lass nur, ich komme schon wieder auf die Beine!«, sagte Joshua und lächelte. Er wirkte tatsächlich schon wieder ein wenig munterer als noch am Tag zuvor. Nicht zuletzt war das wohl Uthmans Kräuterkünsten zu verdanken.

Die Gefährten nahmen ein leichtes Nachtmahl zu sich, das aus Fisch und Apfelmost bestand. Sie sahen dem Treiben im Gasthof zu, und während alle das Ende der Pest bejubelten und miteinander anstießen, erhob sich der Alte. Er schwankte einen Moment lang, dann setzte er sich in Bewegung und steuerte geradewegs auf die Freunde zu. Seine Haare waren vollkommen weiß, er hatte ein kräftiges Kinn und scharfe Augen, war sehr groß, dabei unglaublich hager. Er baute sich vor den Gefährten auf und fixierte sie stumm.

»Wir freuen uns über die guten Neuigkeiten, die Ihr aus der Bretagne brachtet«, sagte Henri schließlich. »Wir kommen auch aus Quimper und haben die Seuche dort erlebt.«

»Darf ich mich zu Euch setzen, meine Söhne?«, fragte der Alte.

Sean sprang auf und stellte ihm einen Schemel an den Tisch.

»Um Eure Brüder tut es mir Leid«, sagte Henri. »Vielleicht haben wir sie ja gekannt.«

»Das kann ich mir kaum vorstellen. Sie waren jünger als ich und arbeiteten noch als Wachsoldaten. Sie lebten sehr zurückgezogen.«

»Dann werden wir sie wirklich kaum kennen«, meinte Henri vorsichtig. Er erinnerte sich noch gut an die Schar der feindseligen Soldaten, gegen die er und die Freunde in Quimper hatte kämpfen müssen.

Der Alte ließ seinen Blick aus geröteten Augen, die in Alkohol schwammen, über die Gefährten wandern. Er wirkte alt und verbraucht, gleichzeitig glomm in ihm etwas Kämpferisches, es war wie eine tief sitzende Glut, die ab und zu aufloderte.

Plötzlich verzog der Alte seinen Mund zu einem hässlichen Lächeln. »Ich erinnere mich noch gut an die alten Zeiten«, sagte er. »Zum Beispiel an das Jahr des Herrn 1307.« Jetzt blickte er Henri tief in die Augen. »Was habt Ihr in diesem Jahr getan?«

Überrascht entgegnete Henri: »Ich war in Paris. – Aber warum interessiert Euch das?«

»Und Ihr?«, fragte der Alte und blickte jetzt die anderen der Reihe nach an. Er erwartete aber offenbar keine Antwort. Sein Blick kehrte langsam zu Henri zurück, der ihn am meisten zu interessieren schien. »Was tatet Ihr in Paris?«

Henri wusste genau, was er getan hatte. Er hatte heimlich gefangene Tempelbrüder in den Kerkern besucht, um sie freizukaufen. Einige Schließer hatten auf seiner Seite gestanden und waren bereit gewesen, ihm zu helfen. Zum zweiten Mal an diesem Tag erinnerte sich Henri an die hilflosen Brüder, die ihn anflehten, sie aus den Folterkellern zu befreien.

»Es war eine verfluchte und gottlose Zeit!«, platzte Henri heraus. Dann fing er sich. »Doch Ihr seid recht neugierig, Alter! Was wollt Ihr von uns?«

Doch der Alte antwortete nicht direkt. »Was hat Euch vor vier Jahren umgetrieben, was vor fünf?«, fragte er einfach. »Wisst Ihr noch, was Ihr im November des Jahres 1314 getan habt?«

Henri blickte Uthman und Joshua an. Auch sie wurden mittlerweile unruhig. Sean schien nicht zu verstehen, worauf der Alte hinauswollte.

Henri antwortete: »Und Ihr, Herr? Was habt Ihr zu all diesen Zeiten getan, nach denen Ihr Euch erkundigt?«

»Mein Name ist Renaud Roye. Ich war in diesen Jahren ein Wachsoldat des Königs. Ich erinnere mich sehr genau an diese Zeit«

»Und? Was tatet Ihr im November des Jahres 1314?«

»Ich bewachte den König. Er wurde bei einer Saujagd ermordet. Hinterher erzählte man allerdings, es wäre ein Unfall gewesen.«

»Es war ein Unfall«, sagte Uthman scharf. »Philipp der Schöne wurde von einer Sau aufgespießt, so kann man es in allen Chroniken nachlesen. Warum sollte das falsch sein?«

»Ich war dabei«, wiederholte der Alte. »Er wurde nicht von einer Sau aufgespießt!«

»Wie kam er denn sonst zu Tode?«, fragte Henri.

»Er wurde von einer Saufeder aufgespießt.«

»Nun«, sagte Joshua, »mittlerweile ist ja auch ganz egal, woran er starb. Er starb nun einmal. Und jetzt ist er tot und begraben.«

»Oh, nein!«, sagte der Alte laut und sehr energisch. Für einen Moment hoben alle Anwesenden in der Schenke die Köpfe und schauten herüber. »Er ist nicht tot und begraben. Nicht für mich! Der König war immer gut zu mir. Er gab mir zu Martini sogar einmal eine Gans für meine Frau mit nach Hause! Er hatte ein Herz für die Menschen, die ihm treu waren, und daher werde ich ihn nicht so einfach vergessen.«

»Die Wachsoldaten des Königs«, sagte Uthman, »folterten und quälten zahllose Unschuldige. Das habt Ihr hoffentlich auch nicht vergessen.«

»Die Menschen, die wir folterten, waren immer schuldig. Aber ich folterte nicht, es gefiel mir auch nicht, zumal ich nie an Gerechtigkeit geglaubt habe. Ich bewachte meinen König. Aber an seinem Todestag habe ich versagt. Er war zu schnell, mein König. Er ritt einem Keiler hinterher. Und als man ihn fand, steckte eine Saufeder in seiner Brust. Und ich konnte nur noch seine gebrochenen Augen schließen.«

»Es ist immer traurig, wenn jemand stirbt«, sagte Sean. »Egal, ob es ein König oder ein Schuster ist. Oder einfach nur eine junge Frau, die leben will.«

»Unser Sean hat seine Geliebte verloren«, erklärte Henri dem Alten. »Auch sie starb in Quimper an der Pest.«

Doch wieder hörte der Alte nicht zu. »Wo wart Ihr«, fragte er ungerührt, »als man vor vier Jahren die Ketzer in Paris verbrannte?«

Henri war blass geworden. Die Gefährten bemerkten seine Unruhe und versuchten, den aufdringlichen Alten zu beschwichtigen. Sean goss ihm Cidre in seinen Becher, und Joshua stellte ihm kalten Fisch hin.

Doch der Alte schob Becher und Teller zurück. Er blickte jetzt Joshua an.

»Und du? Warum isst du nicht von dem Saubraten, den die Wirtin aufgetischt hat? Ich hab genau gesehen, wie du ihn zurückgehen ließest!«

»Alter Mann, mäßige dich. Du bist Gast an diesem Tisch!«, ermahnte ihn Uthman streng.

»Und du?« Jetzt fixierte der Alte Uthman. »Warum trinkst du keinen Wein, he? Wir haben hier guten Wein. Es ist der nördlichste Wein Frankreichs, er wächst in Nantes, und er schmeckt süß und süffig. Warum trinkst du ihn nicht?«

Uthman antwortete nicht. Sean sagte:

»Das geht Euch nichts an, Herr. Lasst uns in Frieden.«

»Oh, die Herren sind empfindlich! Verzeihung. Ich bin vielleicht betrunken, aber ich sehe deutlich, was hier los ist. Ich bin nur ein einfacher Mann, aber ich war immer treu!«

»Ihr seid tatsächlich betrunken!«, stellte Henri entschieden fest. »Ihr solltet schlafen gehen. In Eurem Alter wäre ein maßvolleres Trinken angebracht.«

»Wo hieltet Ihr Euch am 10. Oktober des Jahres 1307 auf? Antwortet!«

Henri schob seinen Schemel zurück und erhob sich. Er blickte den Alten, dessen Gesicht jetzt ebenso gerötet war wie seine Augen und dem Schweißperlen auf der Stirn standen, ruhig an. Dann ging er grußlos fort. Uthman und Joshua folgten ihm. Nur Sean blieb sitzen. Er verstand noch nicht, was der Alte von ihnen wollte.

Er schrie ihnen hinterher: »Wo wart Ihr im Jahr des Herrn 1314? Was habt Ihr im Jahr darauf gemacht? Ich will es wissen! Ich will es wissen, verdammt! «

Anschließend brach der Alte am Tisch zusammen, er legte sein Gesicht auf die Arme und begann, hemmungslos zu weinen. Er schluchzte wie ein Kind. Sean wollte ihm tröstend auf die Schulter klopfen, aber dann zog er seine Hand wieder zurück und verließ ebenfalls den Gastraum.

Als er oben auf der Galerie angelangt war, hörte er, wie der Alte etwas brüllte. Seine Stimme war hoch und überschlug sich. Sean verstand nicht, was er rief. Aber es klang hasserfüllt und bitter. Und deshalb wollte er es wohl auch gar nicht verstehen.

Er ging in das Zimmer, in dem die Gefährten schon warteten, und zog die Tür hinter sich ins Schloss.

***

»Wir hätten nicht herkommen dürfen. Wir sind erst seit zwei Tagen hier, und schon gibt es Ärger.«

Joshua blickte Henri an. »Beruhige dich. Es ist nichts geschehen. Der Alte war einfach nur betrunken.«

»Aber er weiß etwas, das mit mir und dem Tempel zu tun hat. Ob er mich erkannt hat?«

»Er hegt zumindest einen Verdacht, so viel ist sicher«, meinte Uthman. »Vielleicht ist er auch nur ein Spinner, der einen bestimmten Tick hat. So etwas erlebt man doch gerade in schwierigen Zeiten oft, jemand hat etwas erlebt und kommt nicht darüber hinweg. Er wiederholt es immer wieder.«

»Dann soll er ins Narrenhaus gehen«, warf Sean ein, »aber nicht Henri belästigen.«

»Wir müssen ihn jedenfalls im Auge behalten«, erklärte Henri. »Ich werde den hiesigen Priester aufsuchen und versuchen, etwas über den Kerl in Erfahrung zu bringen. Er hat sich als Renaud Roye vorgestellt, wenn ich mich recht erinnere. Vielleicht ist er ja schon öfter auffällig geworden.«

»Wir sollten auf keinen Fall in Panik verfallen«, warnte Uthman. »Wir haben doch schon oft erlebt, wie Einheimische in den verschiedensten Winkeln der Welt auf Fremde reagieren. Und wir sind überall fremd. Da fallen wir eben auf.«

»Aber in diesem Fall ist es noch etwas anderes, ich spüre es«, sagte Henri. »Ich habe ein ungutes Gefühl.«

»Dann packen wir sofort unsere Sachen und ziehen weiter!«, erklärte Joshua.

»Wohin denn?«, fragte Sean aufgeregt. »Auch im nächsten Ort wird es einen Mann wie Renaud Roye geben! Überall, wo wir hinkommen, begegnet man uns feindselig! Ich ertrage das langsam nicht mehr!«

»Beruhige dich, mein Sean! Wir werden bald herausgefunden haben, ob der Alte uns gefährlich werden kann oder nicht. Wenn es so sein sollte, reisen wir sofort ab. Im anderen Fall müssen wir einfach lernen, mit Menschen wie ihm umzugehen.«

»Seine Fragen waren ziemlich eindeutig«, überlegte Uthman. »Sie hatten allesamt mit dir und dem Templerorden zu tun. Und mit der Ermordung des Königs. Er kannte sogar das genaue Datum dieses Ereignisses.«

»Sean«, wandte Henri sich an seinen Knappen, »du wirst herausfinden, warum der Alte so unwirsch war. Setz dich morgen früh zu ihm, wenn er im Ort erscheint. Wenn ich ihn richtig einschätze, hält er sich oft in Gasthäusern auf, jetzt im Sommer sitzt er sicher auch gern in der Sonne, wenn er nicht im Gastraum ist, findest du ihn daher vielleicht am Dorfweiher. Du kannst am unverfänglichsten in Erfahrung bringen, was seine Absichten sind.«

»Ich werde es versuchen«, sagte Sean.

»Und jetzt sollten wir uns alle schlafen legen«, meine Henri.

Es waren eine kurze Nacht und ein anstrengender Tag gewesen. In den Gasthof unten war mittlerweile Ruhe eingekehrt. Draußen herrschte Neumond. Alles schien ruhig und friedlich.

***

Am nächsten Morgen machte Sean sich wie versprochen auf, den Alten zu suchen. Da er ihn im Gasthof nicht gefunden hatte, dehnte er seine Suche nun auf den Ort aus. Notre-Dame war ein wunderbares Fleckchen, dachte Sean, so hübsch und friedlich lag es da. Selbst der Fluss schien an diesem Morgen besonders ruhig zu fließen. Über zwei einfache Holzbrücken im Osten und Westen gelangte man auf die kleine Insel, auf der das Dorf errichtet worden war. Der große Weiher in der Mitte war von einigen alten Linden umstanden. Gänse und Enten liefen hier herum, und hinter weißen Lattenzäunen sah Sean weitläufige Bauerngärten und kleine, bunt angestrichene Wohnhäuser aus Holz.

Die Hauptstraße war breit und trocken und an einigen Stellen sogar gepflastert. Die kleine alte Kirche aus grauem Sandstein trug ein rotes Dach und wirkte ein wenig geduckt, wie sie so dastand. Nicht weit davon entfernt, auf halbem Weg zum Dorfweiher, entdeckte Sean den alten Mann. Er saß auf einer um die größte Linde herumgezimmerten Sitzbank.

Sean hatte den Alten schon von weitem gesehen und ging daher direkt auf ihn zu. Der Mann war allerdings nicht allein. Ein Junge mit roten Haaren und farblosen Augenbrauen war bei ihm. Aber der Alte scheuchte ihn weg, als er Sean näher kommen sah.

»Guten Morgen!«, sagte Sean, als er die Linde erreicht hatte.

»Morgen!«, brummte der Alte.

»Schöner Tag heute, nicht wahr?«

»Bei uns sind alle Tage schön, junger Mann.«

»Ja, Notre-Dame ist ein besonders hübscher Ort, das merkt man gleich.«

»Was willst du?«

»Oh, nichts Besonderes. Ich spazierte so herum und sah mir die Gegend an, und da sah ich Euch, Monsieur Roye. Habt Ihr Euch gut erholt?«

Misstrauisch blinzelte der Alte Sean an. Seine Augen waren klein und lagen tief in ihren Höhlen, trotz des hohen Alters war sein Gesicht frei von Runzeln. Der Alte schlug mit einem knorrigen Stock gegen seine Lederstiefel, die ihm bis zum Knie reichten.

»Wovon sollte ich mich erholt haben?«, fragte er.

»Ihr habt gestern Abend, mit Verlaub gesagt, reichlich viel getrunken, Monsieur Roye.«

»Geht dich das etwas an, Bengel?«

»Nun, eigentlich nicht. Aber Ihr kamt an unseren Tisch und wirktet recht übellaunig. Und hatte der Cidre nicht Schuld daran?«

»Woher kommt ihr vier?«, fragte der Alte plötzlich und verfiel dabei sofort wieder in den gleichen scharfen Ton wie in der Nacht zuvor.

»Wie meint Ihr das?«

»Die Frage ist eindeutig. Also, woher kommt ihr?«

»Aus Schottland«, entgegnete Sean aufrichtig.

»Aus Schottland, wie? Dass ich nicht lache! Du magst aus Schottland kommen, mit dem Kauderwelsch, das du sprichst. Aber der große Dunkle und der Kleine mit der Hakennase, das sind wohl kaum Schotten! «

»Mein Herr stammt wie ich aus Schottland. Der große Dunkle, wie Ihr ihn nennen wollt, betrieb Studien in der Bibliothek an der Universität von Cordoba, als wir ihn kennen lernten, und der andere, Ihr mögt ihn den Kleinen mit der Hakennase nennen, ist ein Gelehrter aus Toledo.«

»Das erklärt nicht, woher sie kommen!«

»Woher kommt Ihr denn?«

»Sei nicht unverschämt, Bengel! Wenn du klug wärst, hättest du an meinem Dialekt erkannt, dass ich von hier bin.«

»Oh, bitte seht mir nach, dass ich noch nicht so bewandt in Eurer Sprache bin, alle Dialekte richtig einordnen zu können«, sagte Sean. Und dann fügte er hinzu: »Unsere letzte Station war Quimper. Mein Herr hatte dort Handelsgeschäfte zu tätigen. Er ist ein vermögender Tuchhändler, und ich bin sein Gehilfe. Die beiden anderen Männer, die mit uns zusammenreisen, arbeiten zurzeit ebenfalls für meinen Herrn, der seine Offizin in Quimper hat. Ich meine gehört zu haben, dass Ihr den Ort kennt am Mont Frugy.«

»Ich kenne Quimper, und ich kenne den Mont Frugy, und ich weiß, dass sich dort Händler niedergelassen haben. Aber ich habe euch nie dort gesehen. Allerdings habe ich deinen Herrn woanders schon einmal gesehen.«

»Ach ja? Wo war das denn?«, fragte Sean, der jetzt aufs Äußerste gespannt war.

»Warum sollte ich es dir verraten?«, fragte der Alte, und dann trat ein hämisches Grinsen in sein Gesicht. »Ihr werdet es schon bald selbst herausfinden. Dann wird es euch wie Schuppen von den Augen fallen!«

»Oh, bitte, sagt es mir! Es interessiert mich! Wie sind weit gereist und haben schon allerlei Orte und Städte gesehen. Ich erinnere mich gerne daran zurück.«

»Es war nicht weit von hier, so viel kann ich dir sagen.«

»Ihr liebt es, in Rätseln zu sprechen, Monsieur Roye. Mein Herr möchte jedenfalls nicht, dass sich eine solche Szene wie gestern Abend noch einmal wiederholt. Er ist es nicht gewohnt, belästigt zu werden, und er wird sich so etwas auch nicht noch einmal gefallen lassen.«

»Oho! Willst du mir etwa drohen, du kleine Kröte?« Roye hob den Stock und fuchtelte damit herum. Sean sprang auf.

»Ich drohe niemandem. Mein Herr ist lediglich in bestimmten Angelegenheiten ein wenig empfindlich. Ich sagte ja, wir kommen gerade aus Quimper, und dort erlebten wir das Wüten der Pest. Es war eine schlimme Zeit. Und wir wollen nichts weiter, als hier in diesem schönen Ort ein paar ruhige und friedvolle Tage zu verleben.«

»Na«, meinte der Alte und senkte den Stock wieder. »Dann wollen wir mal sehen, ob euch das gelingt.«

»Sagt mir einfach, was Ihr von uns wollt, oder seid Ihr immer so ein griesgrämiger Aufwiegler?«

»Was sagst du da, mein Junge?! Ich schlage dich grün und blau, wenn du mir noch einmal so kommst! Ich bin ein angesehener Bürger von Notre-Dame! Man hört hier auf meinen Rat! Geht doch zum Bürgermeister und erkundigt euch über mich! Dann werdet ihr erfahren, mit wem ihr es zu tun habt.«

»Ihr wollt mir also nicht sagen, was Ihr gegen uns habt?«, fragte Sean.

»Verschwinde, du kleiner Ketzerknecht! Mit Ketzerlümmeln red ich nicht! Hau ab!«

Wieder hob der Alte drohend seinen Stock und fuchtelte Sean damit vor der Nase herum. Damit machte er dem Knappen allerdings keine Angst, dieser hätte ihn im Kampf mit einem Schlag zu Boden geworfen. Wirkliches Kopfzerbrechen bereitete Sean die Hinterlist des Alten. Er schien etwas im Schilde zu führen, und Sean hätte nur zu gern gewusst, was es war.

»Unser Priester, Gilbert Montjoie, ist nicht da«, erklärte der Gastwirt. »Er musste für eine Taufe und eine Hochzeit in den benachbarten Sprengel. Wartet bis übermorgen, dann ist er wieder zurück. – Was wollt Ihr denn von ihm?«

»Nun, ich bin Christ, und ich bin Tuchhändler, da interessiert mich immer die Meinung eines Geistlichen am Ort. Er kennt die Menschen am besten und kann mir vielleicht ein paar gute Tipps für meine Geschäfte geben.«

»Und dabei, glaubt Ihr wohl, könnt Ihr gleich auch etwas über den Alten erfahren, der Euch den gestrigen Abend zu später Stunde noch madig gemacht hat, was?«

»Ihr beobachtet gut, Wirt! Was wisst Ihr über den Alten zu berichten?«

»Er ist ein Narr! Einst war er ein wackerer Soldat des Königs. Aber nach seiner Verletzung musste er den Dienst beenden. Nun geht er nur noch seiner Frau und seiner Tochter auf die Nerven. Damit treibt er es allerdings nicht anders als die meisten Dienstentlassenen.«

»Er trinkt anscheinend viel«, forschte Henri weiter.

»Auch das ist so wie bei vielen Entlassenen. Roye hat keine Aufgabe, der er sich widmen könnte, also verbittert er mehr und mehr.«

»Ist er gefährlich?«

»Wie meint Ihr das?«

»So, wie ich es sage. Er schien mir gestern Abend recht aggressiv zu sein.«

»Ach was, wenn Ihr mich fragt, ist das alles nur Theater! Man muss Roye nehmen, wie er ist! Irgendwann beruhigt er sich schon wieder.«

Henri gab sich mit dieser Auskunft zufrieden. Als Sean in den Gasthof trat, setzte er sich mit ihm in eine Ecke und ließ ihn vom Gespräch mit dem Alten berichten.

»Ich traue ihm nicht«, schloss Sean. »Da ist etwas Lauerndes in seinen Augen, und er wirkt bedrohlich, ja böse.«

»Warte!« Henri legte seinem Knappen die Hand auf den Arm und fragte laut den Wirt: »Ihr erwähntet, dass der Alte, der uns gestern Abend ansprach, eine Verletzung hat. Was für eine Verletzung ist das?«

»Er hat einen Säbelhieb auf den Hinterkopf bekommen. Seitdem hat er jeden Tag Schmerzen.«

»Oje, das muss wirklich hart für ihn sein. Geschah es, als er Dienst tat?«

»Natürlich. Er hatte damals gefangene Ketzer zu bewachen. Sie brachen aus, und dabei hat ihm einer der Flüchtlinge eins übergezogen.«

»Wisst Ihr, wo das war?«

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalsausgabe
Jahr
2023
ISBN (eBook)
9783986901356
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2023 (Februar)
Schlagworte
Historischer Roman Tempelritter Templer Mittelalter Abenteuerroman Bernard Cornwell Martina André Guido Dieckmann Neuerscheinung eBooks
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Titel: Die Tempelritter-Saga - Band 3: Löwe und Schlange