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Der Schmetterlingsmörder

Psychothriller

©2015 231 Seiten

Zusammenfassung

Die unausweichliche Logik des Todes: Der Psychothriller „Der Schmetterlingsmörder“ von Guido M. Breuer jetzt als eBook bei dotbooks.

Ein Mädchen liegt im Walde, ganz still und stumm. Die Augen weit aufgerissen, der Körper eiskalt. Die Würgemale am Hals sind die einzigen Spuren von Gewalt. Nur Profiler Tim Schuster erkennt einen Zusammenhang: Bereits vor einigen Monaten wurde ein Mädchen stranguliert aufgefunden, ebenfalls ohne Missbrauchsspuren. Handelt es sich um denselben Täter? Was ist sein Motiv? Schuster ermittelt mit Hochdruck und ahnt nicht, wie nah er dem Mörder dabei kommt. Da wird das nächste Mädchen entdeckt ¬– erhängt an ihrer eigenen Strumpfhose. Sie ist viel jünger als die anderen Toten – sie ist genauso alt wie Schusters Tochter …

Blicken Sie in die Abgründe eines Menschen: Guido M. Breuer lässt Sie in seinem Psychothriller von der ersten Seite an in den Kopf des Täters blicken!

Jetzt als eBook kaufen und genießen: „Der Schmetterlingsmörder“ von Guido M. Breuer. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Über dieses Buch:

Ein Mädchen liegt im Walde, ganz still und stumm. Die Augen weit aufgerissen, der Körper eiskalt. Die Würgemale am Hals sind die einzigen Spuren von Gewalt. Nur Profiler Tim Schuster erkennt einen Zusammenhang: Bereits vor einigen Monaten wurde ein Mädchen stranguliert aufgefunden, ebenfalls ohne Missbrauchsspuren. Handelt es sich um denselben Täter? Was ist sein Motiv? Schuster ermittelt mit Hochdruck und ahnt nicht, wie nah er dem Mörder dabei kommt. Da wird das nächste Mädchen entdeckt – erhängt an ihrer eigenen Strumpfhose. Sie ist viel jünger als die anderen Toten – sie ist genauso alt wie Schusters Tochter …

Blicken Sie in die Abgründe eines Menschen: Guido M. Breuer lässt Sie in seinem Psychothriller von der ersten Seite an in den Kopf des Täters blicken!

Über den Autor:

Guido M. Breuer, geboren 1967 in Düren, machte zunächst eine Ausbildung zum Bankkaufmann, bevor er Wirtschaftswissenschaften studierte. Anschließend war er viele Jahre als Unternehmensberater tätig. Seit 2009 schreibt er Kriminalromane und Thriller. Er lebt und arbeitet in Bonn.

Guido M. Breuer veröffentlichte bei dotbooks bereits den Psychothriller »Mord zum Dessert«.

Die Website des Autors: www.guido-m-breuer.de

Der Autor im Internet: www.facebook.com/pages/Guido-M-Breuer-Schriftsteller/132950286736662

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Originalausgabe November 2015

Copyright © 2015 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Redaktion: Ralf Reiter

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von Motiven von shutterstock/Ari N. und shutterstock/Butterfly Hunter

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH

ISBN 978-3-95824-306-4

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Guido M. Breuer

Der Schmetterlingsmörder

Psychothriller

dotbooks.

Kapitel 1

Die Dunkelheit war schneller hereingebrochen als vermutet. Eben war er noch in den wärmenden Strahlen der Frühlingssonne gelaufen, nun lag die Straße im Zwielicht vor ihm. Sein Jaguar schaltete automatisch die Scheinwerfer ein. Er war froh, dass die Dämmerung ihn nicht im Wald erwischt hatte. Dann wäre es vielleicht nicht so glatt abgelaufen.

Sachte ließ er den Wagen vor dem Haus ausrollen, stieg aus und erschauerte, als die kühle Abendluft seine verschwitzte Haut traf. Im Gehen betätigte er die Fernbedienung. Der Verschluss der Zentralverriegelung klackte laut.

Die Nachbarin nutzte den Freitagabend für das Treppenputzen. Alles war wie immer.

»Guten Abend, Herr Jeschke, mal wieder sportlich gewesen?«

Er erwiderte den Gruß mit einem Lächeln und trat zum Eingang. Nadine öffnete die Tür, als habe sie dort schon länger gelauert, in der Hand ein Telefon. Sicher hatte sie gerade stundenlang mit einer Freundin telefoniert und ihn abgepasst, damit er sie nicht dabei überraschen konnte. Manfred Jeschke vermutete, dass dies alle Mädchen in diesem Alter taten.

»Hi, Papa!«

»Hallo, mein Schatz«, sagte er und schob seine Tochter beiseite.

Er hatte das dringende Bedürfnis, lange und ausgiebig zu duschen. Es war nicht der Schweiß oder Reste des Waldbodens. Auch nicht die Furcht, es könnten an ihm Spuren eines anderen Körpers haften – ein fremder Geruch, Hautschuppen, Haare. Es war eher so, wie würde er ein Werkzeug nach der Benutzung säubern. Am Schluss drehte er wie immer das warme Wasser ab. Die Kälte empfand er als reinigend, sie verhinderte das dampfig matte Gefühl, das eine heiße Dusche hinterließ. Klares kaltes Wasser.

Kapitel 2

»Papa, liest du mir noch was vor?«

Jeden Abend, wenn er Max zu Bett brachte, stellte der Junge diese Frage. Manfred Jeschke sah sich im Bücherregal um. Da stand nichts, was er nicht schon mindestens zwei- oder dreimal vorgelesen hätte.

»Wir müssen unbedingt demnächst neue Bücher kaufen. Ich weiß wirklich nicht, was ich dir noch vorlesen soll.«

Max strampelte mit den Beinen die Bettdecke fort und drückte so seinen Protest aus. »Du hast doch gesagt, du willst mir mal eine eigene Geschichte erzählen!«

»Die ist aber noch nicht fertig.«

»Dann den Anfang!«

Max war acht Jahre alt und glaubte, dass sein Papa alles konnte, beispielsweise aus dem Stehgreif eine Geschichte zu erzählen.

Manfred holte tief Luft.

»Okay, aber es ist noch nicht viel, und danach wird ohne Protest sofort geschlafen!«

»Juchhu!«, rief Max, aber er beruhigte sich schnell und legte sich in Schlafposition, bevor der Vater es sich anders überlegen konnte.

»Das Märchen vom lieben Gott«, begann Manfred.

»Hä?«

»Unterbrich mich nicht, sonst kann ich mich nicht konzentrieren!«

Max nickte ernsthaft und schloss die Augen als Zeichen, dass er sich von nun an nicht mehr regen würde. Er wusste, dass sein Vater sich schnell aufregte, wenn man ihn in einem Plan störte.

»Wie der liebe Gott die Welt erschaffen hat«, fuhr Manfred fort. »Es war einmal vor langer, langer Zeit, da gab es die Welt, in der wir heute leben, noch gar nicht. Es gab noch keinen Himmel, keine Erde, keine Tiere oder Pflanzen und auch keine Menschen. Noch nicht einmal Luftballons oder Tennisbälle gab es. Da war nur der liebe Gott. Willst du wissen, wie der liebe Gott damals aussah?«

»Wie denn?«

»Nun, das weiß niemand so genau, denn es war ja niemand da, der ihn hätte sehen können! Aber vielleicht sah er ja aus wie ich, vielleicht auch wie Mama, es kann aber auch sein, dass er wie ein Eumel oder wie ein Schuschlik aussah oder wie ein Vrumfondel.«

»Was ist ein Vrumfondel?«

»Keine Ahnung. Stell dir irgendwas vor.«

»Ach so, ein Phantasietier!«

»Genau. Jedenfalls, wenn du den lieben Gott einmal triffst, musst du mir nachher erzählen, wie er aussieht, damit ich es allen Kindern weitererzählen kann. Der liebe Gott war also damals ganz allein, und wie er so dasaß und ganz allein war, dachte er sich, wie schön es doch wäre, wenn es einen Himmel gäbe mit Sonne, Mond und vielen glitzernden Sternen und eine Erde mit vielen Bergen, Wäldern und Wiesen. Und wie der liebe Gott sich diese Dinge so ausdachte, ging es Flatsch! Pardautz! und Rubbeldidupp! – und alles war so, wie der liebe Gott es sich vorgestellt hatte. Und als er sich den Himmel ansah und in einem wunderschönen Wald spazieren ging, dachte er weiter: Wie schön wäre es doch, wenn Rehe im Wald leben würden, auf den Bäumen Vöglein sitzen könnten und kleine Mäuschen im Laub rascheln würden! Und als er sich einen Augenblick später umsah, zwitscherten kleine Vöglein muntere Lieder, eine Eule blinzelte ihm zu und machte freundlich Hu-hu, und plötzlich war alles voller Leben. Es gab auch Wölfe und Löwen, Schmetterlinge und Käfer, Elefanten und Kängurus, und überhaupt alle Tiere, die du kennst. Kannst du dir vorstellen, wie der liebe Gott sich gefreut hat, als er all das Schöne sah, was er geschaffen hatte?«

Max nickte eifrig und sah den Vater erwartungsvoll an.

»Er ging noch eine Weile herum und besuchte die Fische im Fluss, die Pinguine am Südpol und die Wale im Meer. Und als es langsam dunkel wurde und zum ersten Mal der Mond aufging, legte sich der liebe Gott zufrieden und müde unter einen Apfelbaum und schlief ein. Und als er so schlief, träumte er von all den schönen Dingen, die er am nächsten Morgen erschaffen wollte.« Manfred beugte sich über den Jungen und küsste ihn auf die Stirn.

»Das ist eine schöne Geschichte. Geht sie noch weiter?«

Max richtete sich halb auf und umschlang seinen Vater mit seinen kleinen Armen. Manfred drückte ihn fest an sich.

»Klar geht es bald weiter. Aber für heute ist erst mal Schluss. Ich wünsch dir eine gute Nacht. Schlaf gut und träum was Schönes.«

»Du auch, Papa. Genau wie das Vrumfondel!«

Manfred löschte das Licht und schloss die Tür. Bevor er hinunterging ins Wohnzimmer, schaute er noch bei Nadine vorbei, die sich gerade die Zähne putzte und mit Schaum vor dem Mund ein »Gute Nacht« murmelte. Sie konnte allein zu Bett gehen und brauchte keine Geschichte.

Kapitel 3

Tim Schuster liebte seine Arbeit. Die Recherchen vor Ort, das Grübeln am Schreibtisch. Das Zusammensetzen von Details zu einer Art von Wirklichkeit, die er für die Leser erschuf. Das Puzzeln mit Fotos und Texten. Er mochte die Diskussionen mit Kollegen und Polizisten, das Gegeneinanderstellen von Theorien, Schlussfolgerungen und Vermutungen. Auch das Schreiben selbst, die zahllosen Telefonate mit diversen an Ermittlungen beteiligten Behörden und sogar Pressekonferenzen mochte er.

Es war ein sonniger Samstagnachmittag, den er eigentlich auf der Geburtstagsparty seiner Tochter hatte verbringen wollen. Aber er stand in einem Waldstück bei Köln, um sich ein totes Mädchen anzuschauen.

Tim war nicht oft am Fundort eines Mordopfers. Zumindest nicht, wenn es noch dort war. Meist hatte er nicht die Gelegenheit dazu, denn er war in der Regel zu weit entfernt, als dass er es schaffen könnte, dort zu sein, bevor die Spurensicherung beendet und die Leiche fortgeschafft war.

Dieser Ort war jedoch nicht sehr weit von seiner Wohnung gelegen. Sein Kontakt bei der Kripo hatte schnell geschaltet. So bot sich ihm an diesem Tag eine seltene Gelegenheit.

»Hallo, Tim! Da bist du ja verdammt flott gewesen!«

Die Stimme gehörte zu der angenehmen Erscheinung der Kölner Kriminalhauptkommissarin Helena Berger. Sie löste sich aus einer Gruppe von uniformierten Beamten und kam auf ihn zu. Ihr Gang war energisch wie immer. Sie machte so lange Schritte, wie ihr enger Rock und das unwegsame Gelände es gerade erlaubten, und holte Tim am Rand des Waldwegs ab, an dem er stand. Weiter hatten ihn ihre Kollegen nicht an die Leiche herangelassen. Da nützte auch sein Presseausweis nichts.

Helena war eine Frau von klassischer Schönheit und ebenso klassischem Wuchs. Sie reichte ihm mit einem angedeuteten Lächeln die Hand.

»Hallo, Lena. Nett von dir, mir Bescheid zu geben.«

»So bin ich zu dir.«

Ihr Gesichtsausdruck wurde sofort wieder ernst. Tim schaute hoch in ihre auffallend blauen Augen, die sie jetzt leicht zusammenkniff. Die Sonne blitzte zwischen den Bäumen hervor und blendete sie. Die Kommissarin wandte sich ab und deutete auf den Körper, der vor ihnen im Unterholz lag. Die Spezialisten der Kriminaltechnik hatten die Arbeit bereits beendet. Eine Bahre nebst Leichensack lag bereit.

»Sie ist transportfertig, Frau Berger.«

»Warten sie bitte noch etwas«, mischte Tim sich ein.

Lena Berger nickte den Männern zu, die einen zweifelnden Blick auf den Journalisten warfen. »Schon in Ordnung. Herr Schuster ist mit meinem Einverständnis hier.«

Die Tote lag zusammengekrümmt und mit weit aufgerissenen Augen da. Sie trug Funktionsbekleidung, wie sie beim Sport üblich war, ein hauchdünnes Synthetikshirt, dazu eine enganliegende, kurze Jogginghose und Laufschuhe. Die bunten Sachen waren verschmutzt, aber unbeschädigt.

»Schau dir bitte diese Würgemale an.« Lena wies auf den Hals des Mädchens.

»Die gleichen Spuren wie die Tote letztes Frühjahr?«

»Ganz genau. Ich hab nur einen kurzen Blick drauf geworfen und sofort an diesen Fall gedacht. Was weißt du denn schon wieder davon?« Sie klang leicht irritiert.

»Du kennst mich doch«, antwortete Tim kurz, während er das die Leiche umgebende Unterholz musterte. Lena kannte ihn in der Tat und wusste, mehr würde er nicht dazu sagen. »Was wisst ihr über Todesursache und -zeitpunkt?«

»Sie wurde offenbar gestern erwürgt. Mit Sicherheit hat sie die Nacht hier gelegen. Einzelheiten gibt’s später nach der Obduktion.«

Tim packte seine kleine Nikon aus, die er immer mitführte, und schoss ein Foto vom Gesicht des Opfers.

Dann hockte er sich neben die Leiche und betrachtete den Ausdruck ihrer weit geöffneten Augen. Neben Panik und Anstrengung konnte er auch sein Spiegelbild in ihren glänzenden Augäpfeln erkennen. Dies rührte wohl von den Augentropfen her, die die Kriminaltechniker benutzten, um eine Pupillenreaktion hervorzurufen und so Informationen über den Zeitpunkt des Todes zu gewinnen. Diese Augen waren jedoch sicherlich zu nichts mehr zu bewegen gewesen. Tim hätte dem Mädchen gern die Lider geschlossen, doch er hielt sich zurück. Er fand, dass ihm das nicht zustand. Dann erhob er sich und schoss noch ein Foto. Nun, nachdem er sie durch den Sucher der Kamera verarbeitet hatte, wirkte ihr blasses Gesicht weniger schrecklich.

»Die Fotos bleiben erst mal bei dir, Tim«, sagte Helena Berger in bestimmtem Ton, ganz Kriminalbeamtin.

Er sah die schöne Frau an, die ihm in ihrem schicken Kleid plötzlich ziemlich deplatziert vorkam. »Ist doch logisch, Lena.«

Die Kommissarin führte weiter aus: »Die Tote letztes Jahr hatte die gleichen Merkmale: Fundort im Wald, die Würgemale am Hals, keine Vergewaltigung, ungefähr gleiches Alter. Deshalb wollte ich, dass du den Tatort siehst. Du bist der beste Profiler, den ich kenne. Das ist dasselbe Schwein, Tim.«

»Du legst dich also schon darauf fest, dass es sich um einen männlichen Einzeltäter handelt?«

Sie ignorierte die Kritik in seiner Frage und zeigte in die Richtung des Waldwegs, der wenige Meter neben ihnen verlief.

»Die Spurensicherung sagt, dass das Opfer von einer anderen Person vom Weg hierher gezerrt und zu Boden gerissen wurde. Es gibt deutliche Kampfspuren.«

Ein Mann im weißen Polyethylen-Anzug, der gerade die letzten Utensilien in seine Koffersammlung packte, fügte hinzu: »Die beiden sind mit großer Wucht durch das Unterholz gekracht, vermutlich in vollem Lauf. Viele Äste wurden dabei zerbrochen, der Boden hier vorne aufgewühlt. Wir untersuchen die Proben auf Gewebe-, Textil- und Sekretspuren. Ich wette, das Material unter den Fingernägeln des Opfers gibt auch etwas her. Das war ein Pas de deux der besonderen Art.«

»Danke sehr«, sagte Lena. »Morgen sprechen wir weiter, was das angeht. Sie können sie jetzt fortschaffen lassen.«

Sie überließen das tote Mädchen Lenas Kollegen für den Abtransport und gingen zum Weg zurück. Dort schaute Tim sich in allen Richtungen um. Er versuchte, die Autos und die anderen Menschen aus seiner Wahrnehmung zu verdrängen, und atmete tief die Waldluft ein. Die Nachmittagssonne flutete durch das Blätterwerk. Er befand sich in einem idyllischen Stück Natur, das so gar nicht zu der Toten mit den aufgerissenen Augen passen wollte. Ein leichtes Frösteln durchschauerte ihn.

»Welch ein schöner Ort zum Sterben.«

»Wie meinst du das?« Lena sah ihn verständnislos an.

Tim dachte an die laute, graue Stadt, die ganz in der Nähe lag. »Ich meine, der Täter hat sich ein schönes Fleckchen ausgesucht. Vielleicht nicht nur der Einsamkeit wegen.«

»Die Rheinpromenade ist auch schön, aber wenn er’s da gemacht hätte, bräuchte ich dich nicht mehr«, rief sie aufgebracht.

»Ich finde dich heiß, wenn du wütend bist.«

Lena entgegnete nichts, sondern schaute ihn nur einen Moment neugierig an. Dann kam ein junger Mann in Zivil, in dem Tim Lenas Mitarbeiter vermutete, auf sie zu.

»Lena, wir haben die Tote wahrscheinlich identifiziert. Ein dreizehnjähriges Mädchen mit passender Beschreibung wurde erst vor zwei Stunden als vermisst gemeldet. Die Eltern haben Aussehen und Bekleidung in genauer Übereinstimmung angegeben. Sie wohnen hier ganz in der Nähe in Forsbach. Ihre Tochter ist gestern Nachmittag zu Fuß los zum Joggen und nicht zurückgekommen.«

»Danke dir.« Lena nahm den Zettel entgegen, den der Mann ihr reichte.

»Ich befürchte, der Tag wird für dich noch viel unangenehmer werden, als er ohnehin schon ist.« Tim versuchte dem Klang seiner Stimme ein wenig Mitgefühl beizugeben. »So wie es aussieht, wirst du jetzt gleich einen schweren Termin wahrnehmen.«

Lena Berger nickte. »Ich denke, es reicht, um mit den Eltern zu sprechen. Zwar muss ich mit ihnen noch die eindeutige Identifizierung vornehmen, aber es gibt hier wohl keine ernsthaften Zweifel.«

»Hast du ein vorzeigbares Foto?«

»Klar doch. Ich kenne meinen Job, Tim.«

»Das war wirklich nett von dir, mich anzurufen. Du hast was gut bei mir. Ich werde jetzt versuchen, den Geburtstag meiner Tochter ein wenig mitzufeiern. Nicht so schwierig wie dein Job, aber auch nicht gerade einfach nach dem hier.«

Er zeigte mit dem Kinn in Richtung des Plastiksacks, der über dem angstverzerrten Gesicht eines Kindes geschlossen wurde.

Lena reichte ihm die Hand. »Ich denke, wir sprechen uns nächste Woche wieder. Ich bin sicher, du wirst dich revanchieren können.«

Sie nickte ihm noch einmal zu, drehte sich um und ging zu dem Dienstwagen, in dem ihr Kollege wartete. Tim schaute ihr nach und betrachtete den straffen Po, der sich in dem engen Rock abzeichnete. Er nahm sich vor, sie bald in angenehmerem Ambiente wiederzusehen. Dann ging er ebenfalls zu seinem Wagen zurück. Er kam an dem Parkplatz vorbei, auf dem immer noch Beamte mit der Befragung von Spaziergängern befasst waren. Wahrscheinlich brachte das einen Tag nach der Tat nichts mehr. Aber man weiß ja nie, dachte Tim. Er erkannte den Polizisten, der ihn eben von dort aus weitergewiesen hatte, und winkte ihm kurz zu.

Er fuhr los und passierte bald das Ortsschild von Forsbach. Hier würde die Kriminalpolizei gleich zwei unglücklichen Menschen ein schlimmes Foto ihrer Tochter zeigen. Tim hoffte, Lena Berger würde trotzdem den Mut aufbringen, die Eltern zu fragen, weshalb sie erst vor zwei Stunden die Vermisstenmeldung aufgegeben hatten, wenn ihre Tochter am Vorabend nicht vom Joggen zurückgekehrt war. In seinem Blickfeld stieg ein Flugzeug steil in den Himmel über der Wahner Heide. Er fuhr in Richtung Bergisch Gladbach zum Autobahnkreuz Köln-Ost weiter, von wo aus er am schnellsten nach Hause kam. Die Sonne stand schon tief. Der Kindergeburtstag würde wahrscheinlich schon vorbei sein. Damit hatte Veronika wieder die ganze Arbeit allein gehabt – keine guten Vorzeichen für einen netten Samstagabend. Tim dachte an seinen Vater, der ihm eine angenehmere Gesellschaft gewesen wäre, weniger anstrengend. Aber er war an diesem Wochenende in England bei einem Treffen mit ehemaligen Studienkollegen.

Seine rechte Hand tastete aus Gewohnheit nach dem Einschaltknopf des Radios, doch er zog sie zurück. Eigentlich wollte er nichts hören, sich nicht ablenken lassen. Plötzlich fühlte er sich sehr allein. Er wünschte sich weit fort, vielleicht in die Stille eines hohen Gebirges, wo er Ruhe finden könnte und Frieden.

Kapitel 4

Manfred kaute genüsslich an einem Stück Tafelspitz, den Claudia wie immer hervorragend zubereitet hatte. Das zarte Fleisch zerging im Munde allein durch sanfte Kaubewegungen, wie man sie bei den rosigen Knospen der aufblühenden Brust eines jungen Mädchens anwenden würde. Es schmiegte sich an Manfreds Gaumen, als er es langsam hinunterschluckte.

»Mama, die Mutter von Tobias nennt alle Menschen, die Fleisch essen, Mörder!«

Manfred lachte. »Mäxchen, willst du deinen Papa auch einen Mörder nennen?«

»Gestern hat man im Königsforst ein ermordetes Mädchen gefunden!« Nadine blickt triumphierend in die Tischrunde, als hoffe sie darauf, den anderen eine spektakuläre Neuigkeit vorauszuhaben.

Claudia schüttelte betroffen den Kopf. »Die Ärmste. Gerade mal dreizehn Jahre alt. Sie haben gemeldet, sie sei ein Lauftalent gewesen und habe beim ASV schon für internationale Wettkämpfe trainiert.«

»Ich hab gehört, dass sie erwürgt wurde.«

Manfred genoss weiter den vorzüglichen Tafelspitz an Apfelkren mit Petersilienkartoffeln und Lauchgemüse. Dabei versuchte er, von allem etwas in den Mund zu schieben, um die Harmonie der Speisen voll und ganz auszukosten. Nebenher amüsierte er sich über Max. Der ging mit Messer und Gabel um, als gelte es, ein Rind zu schlachten und nicht etwa ein zartes Stück Fleisch zu schneiden. Dann wieder Nadine, die sich wortlos, dafür mit umso drastischerer Mimik über den Apfelmeerrettich beschwerte, den sie nicht mochte. Nach Claudias Dafürhalten gehörte er aber unbedingt zum Tafelspitz dazu. Normalerweise wäre dieses Mittagessen der Auftakt für einen beschaulichen Nachmittag im Kreise der Familie, dachte Manfred. Vielleicht ein Kurzausflug ins Bergische Land bei dem herrlichen Frühlingswetter. Doch heute musste er noch arbeiten. Schon am nächsten Samstag erwartete ihn sein Schweizer Kollege Beat Ruedi im Wallis zu einer Klettertour. Bis dahin wollte er ein gehöriges Arbeitspensum vorlegen, um ein dringendes Projekt abzuschließen. Mit den letzten Bissen murmelte er etwas dahingehend. Claudia zeigte sich enttäuscht. Manfred hörte ihr nicht wirklich zu, als sie von seinen ständigen Extratouren ins Gebirge redete, dass man noch weniger von ihm hätte wegen der Arbeit und so weiter. Er ließ sich seine gute Laune nicht verderben, dankte ihr für das hervorragende Essen und zog sich in sein Arbeitszimmer zurück. Aus Höflichkeit verlor er im Aufstehen noch ein paar Worte zu dem Projekt: Komplexe Workflow-Analyse bei einem in Aachen ansässigen Versicherungshaus sei ohne seine Mitarbeit nicht zu machen. Claudia redete immer weiter, auch Nadine gab etwas von sich, aber Manfreds Bedarf an Kommunikation war gedeckt. Sein Kopf schmerzte etwas.

Kapitel 5

Veronika zog sich die Decke bis ans Kinn und drehte sich von Tim weg, um im Schein ihrer Nachttischlampe zu lesen.

Es schien ihm eine ihrer typischen Gesten zu sein. Sie wollte ihm vermutlich bedeuten, dass ihr kalt war. Und dass es zu früh gewesen war, das Winterplumeau schon gegen die Sommerdecke zu tauschen. Dabei hatte er in den letzten Tagen nur ein- oder zweimal beiläufig angemerkt, dass es immerhin Mai und damit die Heizperiode wohl endgültig vorbei sei. Er hatte unter der dicken Wintergarnitur geschwitzt.

Er hatte sie nicht gezwungen oder auch nur aufgefordert, die leichte Sommerdecke aufzulegen, wenn sie abends noch fror. Trotz ihrer Intelligenz wäre sie niemals imstande, zuzugeben, dass es ihre Entscheidung gewesen war, die Garnitur zu tauschen. So wie alles im Haushalt in ihrer Entscheidungsgewalt lag. Nicht, dass Tim das gestört hätte. Aber er hatte die Decken nicht gewechselt, also war er auch nicht schuld, wenn sie jetzt fror.

Vermutlich war sie immer noch verärgert wegen des gestrigen Nachmittags, an dem sie Monikas Kindergeburtstag ohne ihn hatte bewältigen müssen. Zwar hatte sie den Grund seiner Abwesenheit als Entschuldigung akzeptiert, aber jetzt war sie umso mehr verärgert, da sie sich zwar immer noch im Stich gelassen fühlte, gleichzeitig aber auch ein schlechtes Gewissen hatte. Was war schon ein Kindergeburtstag gegen ein totes Mädchen, dessen Mörder frei herumlief? Jetzt ärgerte sie sich, weil Tim nicht da gewesen war und weil er einen guten Grund hatte, nicht da gewesen zu sein, und sie sich trotzdem ärgerte. Dabei wehrte sie sich immer heftig gegen seine regelmäßig geäußerte Feststellung, sie sei kompliziert. Tim seufzte. Solche Gedanken ermüdeten ihn. In Wahrheit hatte er keine Ahnung, was Veronika dachte oder was er empfand. Er drehte sich zu ihr hin, betrachte ihre von der Decke verhüllte Gestalt und stellte sich ihren Körper darunter vor. Sie war eine attraktive Frau, mit einem runden, aber nicht breiten Po und vollen Brüsten. Sie war vielleicht keine umwerfende Schönheit, aber sie ertrug ihn, und er fand, dass sie ein gutes Team waren. Er fragte sich, wie er sie nach dem verkorksten Wochenende zum Sex animieren könnte. Er rückte näher an sie heran und fasste an die Stelle, wo er unter der Decke ihre Schulter erwartete.

»Hast du heute noch etwas geschrieben?«

Das Interesse an ihrer Arbeit war immer ein probates Mittel der Entspannung, das hatte er gelernt. Sie drehte sich um und sah ihn an.

»Ich habe den Text für die Kaufhaus-Werbung überarbeitet und das komplette Konzept an die Agentur gemailt. Für einen Kino-Spot, der nächsten Monat regional laufen soll.«

»Das ist toll. Damit dürfte uns deine Kreativität mal wieder den Sommerurlaub gerettet haben.«

Sie lächelte ihn an. »Tim, warum habe ich das Gefühl, dass du dich bei mir einschleimen willst?«

»Im Gegenteil, ich hätte Lust dir den Hintern zu versohlen«, antwortete er und rückte noch näher heran, näherte sich ihrem Mund und versuchte einen Kuss, der mit einigem Verlangen erwidert wurde. Sollte er sich über ihren Gemütszustand getäuscht haben?

Seine in zögerlicher Schlaffheit verharrende Männlichkeit regte sich sofort. Eine Hand wanderte unter ihr Nachthemd, streichelte ihren Bauch hinauf bis zu den Brüsten, auf denen sich einladend harte Nippel reckten. Ob das von der dünnen Decke herrührte? Aber Veronikas Körper fühlte sich warm an und ihre Haut glatt, außer da, wo sich ihre hellbraunen Warzenhöfe zerfurcht unter seinen Fingerspitzen anspannten. Seine Lippen wurden von diesen Stellen magisch angezogen, und Veronika atmete heftig, während er ihre Brustwarzen saugend bearbeitete. Das war ja leichter, als er gedacht hatte. Sie waren seit zehn Jahren verheiratet, aber er wusste ihre Launen und Befindlichkeiten immer noch nicht einzuschätzen. Mit einer Hand streichelte er ihr Haar, während die andere über die Innenseiten ihrer Schenkel fuhr, um dann ihre warme Mitte zu finden. Die war so feucht und offen, dass sie schon beim Lesen auf ihn gewartet haben musste, während er sich den Kopf über ihre vermeintliche Verärgerung zerbrochen hatte. Während er darüber noch grübelte und weiter an ihr herumspielte, zog sie sich ihr Nachthemd vollends über den Kopf und packte sein Glied mit fester Hand. Damit bedeutete sie ihm unmissverständlich, dass sie es kurz und hart wollte. Er hatte wohl völlig danebengelegen.

***

Wenige Minuten später griff Tim in die Schublade des Nachttischs, in der die Küchenpapier-Rolle lag. Da sie schon seit einiger Zeit keinen Sex mehr gehabt hatten, musste er ihr ein zweites Blatt nachreichen.

»Schau, was du alles in mich reingetan hast«, entrüstete sie sich scherzhaft und grinste dabei wie ein koketter Backfisch.

»Darauf hab ich Wochen gespart«, entgegnete er im gleichen Tonfall.

»Aber ich weiß ja, dass ich selber schuld bin, mein Schatz. Ich vernachlässige dich, und nicht umgekehrt.«

»Das will ich aber auch meinen, mein rasender Reporter.«

»Starjournalist, wenn schon, meine Liebe.«

»Oh, entschuldige bitte, mein Lieber. Wenn du es nur zum einfachen Reporter gebracht hättest, könnte ich dir die Vernachlässigung von Frau und Kind niemals verzeihen.« Sie stand auf, sammelte die feuchten, zerknüllten Küchentücher ein und ging hinaus in Richtung Badezimmer, um sich zu waschen und abzuschminken. Das würde eine Weile dauern.

Es hatte Tim gutgetan, wieder mit ihr zu schlafen. Das konnte ihn jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass zwischen ihnen nicht mehr alles in Ordnung war. Veronika war attraktiv und hatte durch ihre Tätigkeit als Kreative in der Werbebranche Kontakte mit interessanten Menschen. Tim kümmerte sich nicht sonderlich viel um seine Familie. Es hätte ihn nicht gewundert, wenn sie einen Liebhaber gehabt hätte. Eigentlich war er fast sicher, dass es so war. Aber die Ehe funktionierte. Sie hatten eine liebe Tochter und verstanden sich insgesamt recht gut. Tim fragte sich, warum sie etwas ändern sollten. Als Veronika ins Schlafzimmer zurückkehrte, immer noch nackt, erwachte sein Trieb aufs Neue.

»Hast du Lust, mir noch einen zu blasen?«

Sie lachte, schüttelte aber entschieden den Kopf. »Timothy, jetzt wirst du übermütig. Nun wird geschlafen!«

Sie streifte ihr Nachthemd über, küsste ihn flüchtig und zog sich die Decke ans Kinn. Als das Licht ausging, lag er einige Zeit auf dem Rücken und starrte an die Decke. Langsam gewöhnten sich seine Augen an die Dunkelheit. Er sah den Holzbalken, der quer über das Bett hinweg die Dachschräge hinaufstrebte und sich irgendwo verlor, wo auch nicht mehr der leiseste Lichtstrahl eine Kontur erahnen ließ. Eigentlich hätte er jetzt zufrieden sein und ruhig einschlafen können. Doch kaum war er sich selbst überlassen, kehrte jene seltsame Melancholie zurück, die ihn erfüllte, seit sich der Reißverschluss über dem Gesicht des toten Mädchens geschlossen hatte. Es war weiß Gott nicht die erste Tote, die er gesehen hatte, und einige der Leichen, die er in den letzten Jahren betrachtet hatte, waren schlimmer zugerichtet gewesen. Vielleicht war er im Moment etwas empfindlich. Mehrere Monate ohne lohnendes Projekt lagen hinter ihm. Es fehlte einfach ein Erfolgserlebnis. Ein Jäger ohne Beute. Der Gedanke kam ihm ganz natürlich, unschuldig und wie von selbst: Er hoffte, dort draußen würde ein Monster lauern, das aus dem Labyrinth seines kranken Hirns herausgetreten war, um zu morden. Und dass es nur von ihm aufgespürt werden konnte.

Tim starrte an die Decke und versuchte, aus dem Dunkel ein Bild entstehen zu lassen. Doch da war nichts – noch nichts.

Kapitel 6

Wie fast jeden Morgen setzte Manfred Jeschke in der Küche seiner Firma den ersten Kaffee auf. Es war halb sieben. Um diese Zeit musste er sich um so etwas schon selbst kümmern. Bis er die Kaffeemaschine befüllt hatte, würde auch der Computer, den er eben gestartet hatte, hochgefahren sein. Irgendjemand hatte am Vorabend herumgesaut. Eine eingetrocknete Milchlache klebte auf der Arbeitsplatte. Schnell wischte er die ekligen Rückstände mit dem Spültuch auf, dann wusch er das Tuch unter fließendem Wasser aus und reinigte anschließend seine Hände gründlich. Warum hatte dieses Schwein seinen Dreck nicht selbst beseitigt? Jeder in der Firma wusste, wie sehr er so etwas hasste. Ganz besonders bei Milch. Niemand trank in seiner Gegenwart Milch. Wenn er Gäste hatte und Uschi Kaffee servierte, achtete sie darauf, dass die Milchkanne immer weit weg von ihm stand.

Es war Montag. Manfred hatte gestern nicht annähernd so viel geschafft, wie er geplant hatte. Und nun fing die neue Woche mit diesem Milchfleck an. Er flüchtete in sein Büro, wo mittlerweile der Rechner mit dem Eingabedialog für das Netzwerk-Kennwort aufwartete. Er schrieb Steileis hinein. Im Eingabefeld standen nur die acht Sternchen als Platzhalter.

Steiles Eis. Er konnte es kaum erwarten, diese Faszination wieder hautnah zu erleben. Die Frische des Gletschers, die körperliche und geistige Herausforderung. Nirgends standen die Sterne klarer am Himmel als in den Bergen. Keine Computer, keine Krawatten, kein dummes Geschwätz. Nur er und die Kraft und Ausdauer, die ihm zur Verfügung standen. Sein Büro kam ihm klein und stickig vor, obwohl es das größte im Haus war. Fast konnte er den kalten Wind spüren, der dem Bergsteiger am Morgen die Gelenke versteift und die ersten Schritte zu einer Willenssache macht. Dann aber erwärmt ihn der steile Anstieg. Das schwere Seil drückt im Rucksack, und er ist froh, wenn es gefährlich wird, die Absturzgefahr zunimmt und er die Sicherung einsetzen muss.

Plötzlich hatte Manfred das Gefühl, beobachtet zu werden. Irgendetwas stimmte nicht. Er lauschte angestrengt.

»Moin, Manfred. Schläfst du?«

Das war Rolfs Stimme. Er drehte sich um. Sein Geschäftspartner stand in der Tür und grinste.

»Was machst du denn so früh hier?«, antworte Manfred.

»Was heißt hier früh? Es ist halb neun.« Rolf grinste immer noch.

Manfred schaute auf die rechte untere Ecke des Bildschirms, in der standardmäßig die Uhrzeit eingeblendet war. Doch da war nichts zu sehen. Der blinkende Cursor hinter den acht Sternchen zeigte an, dass er die Anmeldung noch nicht abgeschlossen hatte. Ein Blick auf die Armbanduhr offenbarte, dass es tatsächlich schon so spät war. Er wollte nicht glauben, dass wirklich zwei Stunden vergangen waren. Doch bevor er sich Gedanken darüber machen konnte, redete Rolf weiter. Offenbar war ihm die Sache mit der Uhrzeit völlig egal.

»Wie weit bist du mit der Ausarbeitung? Ich sollte doch ab heute Morgen korrekturlesen?«

»Ich bin spät dran. Ich kann dir erst in ein oder zwei Stunden was zu lesen geben.«

Mit einem Tastendruck bestätigte er das Kennwort und wandte sich wieder dem Bildschirm zu. Jetzt würde er sich voll und ganz auf die Arbeit konzentrieren. Er spürte, dass sein Kollege noch einen kurzen Moment hinter ihm im Türrahmen stand, bevor er ihn dann endlich allein ließ.

Kapitel 7

»Du stehst immer noch im Schach.«

Die tiefe Stimme holte Tim aus seiner Gedankenwelt zurück an den Tisch in der Bibliothek seines Vaters. Die beiden saßen bei gedämpftem Licht und Rotwein vor dem großformatigen Schachbrett aus Teakholz, das Tim ihm zum sechzigsten Geburtstag geschenkt hatte.

»Entschuldige, aber ich weiß wirklich nicht, was ich machen soll.«

»Meinst du Veronika oder die Partie?«

Der alte Schuster sah Tim in der ihm eigenen Art an. Die dunklen Augen ruhten im Schatten buschiger Brauen auf seinem Sohn, seine Miene drückte weder Neugier noch Gleichgültigkeit aus.

»Beides. Es ist simpel und völlig vertrackt zugleich.« Tim formulierte bewusst unscharf, um seinen Vater zu einer persönlichen Wertung zu bewegen. Das gelang nicht oft.

Der Alte trank einen Schluck, drehte das Weinglas in der Hand und ließ die rote Flüssigkeit im Gegenlicht der Leselampe funkeln. Tim sah die Andeutung eines Lächelns um seinen Mund.

»Wenn du deine Stellung in diesem Spiel meinst, so unterstreiche ich die Bezeichnung simpel. Du kannst das Matt in zwei Zügen nur mit dem Turmopfer vermeiden, was dich ebenfalls die Partie kostet. Falls du aber darauf anspielst, dass deine Frau einen Liebhaber hat und ihr dennoch eine gute Ehe führen wollt – mal ganz abgesehen davon dass du auch andere Frauen hast –, so finde ich vertrackt das richtige Wort.«

»Du weißt, dass ich Veronika liebe, und ich glaube, dass sie mich auch liebt. Ist das nicht das Wesentliche? Ich denke, dass es okay ist, jedenfalls fühle ich mich nicht als Betrüger und auch nicht betrogen. Müsste ich das?«

Robert Schuster seufzte. Tim wusste, dass sein Vater nur höchst ungern ad hoc Urteile fällte, und das nicht erst, seit der pensionierte Staatsanwalt nicht mehr im Gerichtssaal arbeitete. Doch er wollte an diesem Abend ein klares Wort hören.

»Meiner Erfahrung nach kann man mit einer Frau, die regelmäßig mit einem anderen Mann ins Bett geht, langfristig genauso wenig eine erfolgreiche Partnerschaft führen wie mit einem Turm weniger eine Schachpartie gewinnen.«

Auch wenn Tim eine Wertung hatte hören wollen, ärgerte ihn diese Haltung doch. Sie kam ihm ein wenig zu traditionell vor. Er wagte die Gegenfrage: »Hast du Mutter damals nicht betrogen, obwohl du sie liebtest?«

Sein Vater zog die Brauen hoch und sah ihn erstaunt, fast bestürzt an. Vielleicht war er zu weit gegangen. Robert Schuster lehnte sich zurück und schloss einen Moment die Augen. Tim wusste, dass er das tat, um nicht impulsiv und vorschnell zu antworten. Dann sagte er mit leiser, aber fester Stimme: »Jawohl, Tim, das tat ich, und genau daran ist meine Ehe mit deiner Mutter gescheitert. Und es tut mir heute noch leid, nach all den Jahren.«

Es entstand eine Pause. Tim versuchte sie für sich zu füllen, indem er nach dem Glas griff und einen Schluck Wein trank. Manchmal vergaß er, dass er seine blockierte Emotionalität nicht von seinem Vater geerbt hatte. Das Gespräch war in dieser Intensität nicht fortzusetzen. So wie ein Bergsteiger nach dem Erreichen eines hohen Gipfels wieder hinunter muss, bevor die dünne Luft seine Kraft völlig ausgehöhlt hat.

Tim spürte, dass dieses Thema Gefühle in ihm auslöste, aber er vermochte sie wie immer nicht zu deuten. Sie erschienen ihm zu vage, vielleicht auch zu komplex. Lieber spann er einen leichteren Faden weiter.

»Hast du Mutter in London getroffen?«

Sein Vater schaute ihn wieder mit dem vertraut neutralen Gesichtsausdruck an. Wahrscheinlich war er dankbar für diese Wendung des Gesprächs.

»Sie ist immer noch deine Mutter, jedoch seit zwanzig Jahren nicht mehr meine Frau. Ich wollte dort Studienkollegen treffen.«

»Und, hast du nicht trotzdem zwischendurch auch deine Ex-Frau besucht, wenn du schon einmal in ihrer Nähe warst?«

Der Alte lächelte. »Doch, das habe ich. Es geht ihr gut, aber sie vermisst dich. Sie hat sich beschwert, dass du in diesem Jahr noch nicht bei ihr warst.«

Tim hatte seiner Mutter niemals vorgeworfen, dass sie nach der Trennung von seinem Vater Deutschland den Rücken gekehrt hatte und in ihre englische Heimat zurückgekehrt war. Sie dagegen hatte sich nie damit abfinden können, dass ihr Sohn Deutschland nicht verlassen wollte und sie ziehen ließ. Und seitdem beklagte sie sich regelmäßig darüber, wie selten er sie besuchte. Sie meinte, der Trip auf die britische Insel sei viel schneller und einfacher als seine »ständigen Ausbrüche in die wildesten und entlegensten Wüsteneien«. So nannte sie seine – für seinen eigenen Geschmack viel zu seltenen – Reisen in die Berge der Welt. Er glaubte, sie im vorigen Jahr allzu sehr verwöhnt zu haben. Da hatte er fast vier Monate auf der Insel zu tun gehabt und sie oft in London besucht.

»Mutter beschwert sich immer. Sie wird noch etwas auf ihren verlorenen Sohn warten müssen.«

»Liegt arbeitsmäßig etwas Besonderes bei dir an?«

Das war der Oberstaatsanwalt Dr. Robert Schuster, wie Tim ihn kannte. Er nahm den kleinsten Hinweis auf und verfolgte ihn weiter. Tim drehte das Schachbrett herum und baute die Formation neu auf. So brauchte er nicht förmlich zu kapitulieren. Vor ihm standen jetzt die weißen Figuren. Er begann mit d2-d4.

»Du meinst, ob es ein Monster gibt, auf dessen Fährte ich mich setzen kann? Es ist durchaus möglich.«

»Handelt es sich um den Mord an der jungen Läuferin?«

»So ist es. Vor etwa einem Jahr wurde ein sehr ähnliches Verbrechen im Raum Köln verübt. Einiges deutet darauf hin, dass es sich um denselben Täter handeln könnte. Wenn das zutrifft, haben wir es mit einem Serienmörder zu tun. Aber ich weiß noch so gut wie nichts. Erst morgen erfahre ich Näheres. Aber immerhin war ich am Tatort, als das Opfer noch dort lag.«

»So.« Mehr sagte sein Vater nicht dazu. Er entgegnete Tims Eröffnung mit b7-b5 und brachte ihn damit gleich zum Grübeln. Ein Schachspiel ist mindestens so einfach wie das Leben selbst, dachte Tim. Im Grunde genommen gibt es doch nur schwarz und weiß. Nur die unzähligen Variationen lassen uns alles grau erscheinen und stürzen uns in immer neue Verwirrungen.

Kapitel 8

Das Knirschen des hartgefrorenen Firns war das einzige Geräusch an diesem frostigen Morgen. Die Zacken der Steigeisen bohrten sich in die kristalline Masse und brachen sie auf. Die unberührte weiße Pracht reflektierte das Licht der Stirnlampe. Das tiefe Dunkel rings umher schluckte den matten Schein trotzdem schon nach wenigen Metern. Manfred Jeschke empfand sich als kleine, lebendige Insel inmitten einer eiserstarrten Todeskälte. In ihrer Leblosigkeit erschien ihm diese Landschaft einzigartig schön.

Es war vier Uhr morgens. Manfred zog langsam und bedächtig eine Spur durch den Festigletscher, der von der eisigen Westwand des Doms in das Mattertal herunterfloss. Tief unten lag das kleine Örtchen Randa im Schweizer Wallis. Dort hatte er am Vortag seinen Kollegen Beat Ruedi getroffen, der ihm ein paar einsame Eisrouten dieser Gegend zeigen wollte. Beat war der nur durch das Licht seiner Stirnlampe sichtbare Fixpunkt des Seils, das bei jedem Schritt vor Manfred hin und her baumelte. Obschon sie sich noch im Gehgelände befanden, war das Seil angebracht. So früh im Jahr waren die wenigen Spalten, mit denen der Gletscher in dieser Passage aufwartete, verdeckt und in ihrer Lage unmöglich auszumachen. Die beiden Männer waren im Dunkel des frühen Morgens unterwegs, um den Nachtfrost und die Festigkeit der Schneebrücken über den Gletscherspalten auszunutzen. Manfred war müde, und seit einiger Zeit quälten ihn Kopfschmerzen. Trotzdem war er immer darauf gefasst, dass Beat mit einem plötzlichen Ruck von der Oberfläche verschwinden konnte. Dann würde er sich herumwerfen und die Haue seines Eispickels in den harten Untergrund rammen.

Er drückte mit handschuhvermummten Fingern an dem Höhenmesser herum, der am Brustgurt seines Rucksacks festgezurrt war. Nach einigen vergeblichen Versuchen leuchtete das Licht des Displays auf. Er las die aktuelle Höhe ab. Dreitausendsechshundert Meter. Es waren nur noch rund hundert Höhenmeter bis zum Bergschrund, der den Einstieg in die selten begangene Westflanke des höchsten Schweizer Berges markierte. Tatsächlich dauerte es nicht lange, bis das Seil vor ihm schlaff wurde und er es beim Gehen in großen Schlingen aufnehmen musste. Das bedeutete, dass Beat vor ihm stehen geblieben war.

Manfred erreichte ihn und leuchtete ihm mit seiner Stirnlampe direkt ins Gesicht. Beat grinste und fragte: »Manni, was machen deine Kopfschmerzen? Willst du wieder runter ins flache Rheinland?«

»Leck mich, du alter Bergfex!«

Beat lachte und wies mit der Hand nach rechts ins Dunkel. Der Bergschrund zog sich schräg nach oben bis zu der Stelle, wo die Kluft zwischen dem fließenden und dem hängenden Teil des Gletschereises schmaler wurde. Das war der Startpunkt der eigentlichen Kletterroute.

»Da geht’s lang, Manni. Noch ein Stück weiter hoch, vielleicht vierhundert Schritt, und wir lassen die Felsen da oben dann links liegen. Denk daran, dass wir ein Stück versetzt vom Standplatz steigen. Sonst gibt’s vielleicht unangenehm was auf den Helm.«

Manfred nickte nur kurz. Beat ging schon weiter. Unnötige Pausen mochte er nicht, denn er wollte die erste eis- und steinschlaggefährdete Passage noch im Nachtfrost durchsteigen. Noch war alles festgefroren. Die Dom-Westwand bestand im linken Teil aus brüchigem Fels, der sich zum Klettern nur schlecht eignete. Die rechte Wandhälfte zeigte sich als eine glatte und steile Eiswand, die ziemliche Anstrengungen versprach. Das war der Grund, weshalb diese Route kaum begangen wurde. Genau darum war Manfred hier.

Die Kopfschmerzen wurden langsam unangenehm. Eigentlich lag die Vermutung nahe, dass sie von der großen Höhe herrührten, doch er glaubte nicht daran. Schon auf der Fahrt nach Randa hatte ein Stechen in seinem Hinterkopf gesessen. Es zog aus dem Nacken hoch und pflanzte sich langsam, aber stetig fort. Später war es ein Schmerz in den Augenhöhlen, der bei jeder Bewegung der Augäpfel aufflammte. Wahrscheinlich war nur sein Nacken zu sehr verspannt durch die vielen Stunden, die er in den letzten Tagen und Nächten vor dem Computer gehockt hatte. Dem Aachener Versicherungshaus hatte er kurzfristig eine umfassende Systemanalyse geliefert. Jetzt würden sie gar nicht anders können, als das Projekt mit ihm zu machen und eine satte Viertelmillion in seine Firma zu spülen. Consulting konnte sehr einträglich sein, dachte er. Das bisschen Brummschädel war ein fairer Preis dafür. Die sportliche Betätigung in dieser wunderbaren, glasklaren Bergluft sollte ihn das schnell vergessen lassen.

Beat war am Einstieg angelangt und richtete mittels zweier Eisschrauben die Standplatzsicherung ein. Die ersten zwei oder drei Seillängen würden die steilsten sein. Hier könnte nur einer klettern und der andere sichern. Beat kannte die Route und war im Eis der bessere Kletterer. Er stieg vor, und während Manfred das Seil durch den Sicherungskarabiner führte, bewegte Beat sich erst ein paar Meter schräg zur Seite weg. So würde das lose Eis, das er lostrat, nicht auf Manfred herunter prasseln. Jetzt ging es zügig aufwärts. Die Wand war nicht mehr als sechzig Grad steil, also nichts Extremes. Ohne Sicherung wollte Manfred das trotzdem nicht machen. Während Beat kletterte, trat er von einem Fuß auf den anderen, um sich warm zu halten. Der Frost biss im Mai zu dieser Tageszeit noch kräftig zu. Bald war Beat aus seinem Blickfeld verschwunden. Nur die zuckenden Reflexionen des Scheins seiner Stirnlampe in der weißen Wand und das herunterbröckelnde Eis ließen seine Position erahnen. Meter um Meter lief das Seil durch den Karabiner.

Während Beat oben schwitzte, hatte Manfred Zeit zum Grübeln. Er hatte sich sehr auf diese Tour gefreut, denn zu dieser Zeit war die Region menschenleer. Die während des Sommers so beliebte Domhütte war noch gar nicht geöffnet. Der Hüttenwirt hatte Beat die Schlüssel überlassen. Sie würden sie in den paar Tagen, die sie die Hütte bewohnten, schon etwas saisonfertig machen. Beat war ein alter Freund von Renato, der die Domhütte bewirtschaftete, und kannte diese Berge hier wie seine Westentasche. Manfred kannte sich eher im Fels der Dolomiten oder des Wilden Kaiser aus und hatte erst vor einigen Jahren so richtig Spaß am Eis bekommen. Die weiße Pracht des vergletscherten Hochgebirges übte eine magische Anziehungskraft auf ihn aus. Am wichtigsten war ihm die Einsamkeit in den Bergen.

Beat Ruedi war der Leiter seiner Schweizer Niederlassung in Zürich. Ein ruhiger, durch und durch männlicher Kerl, der die Natur liebte und wenig Worte machte. Mit ihm in diesen Bergen ein paar Tage unterwegs zu sein, sollte eine wunderbare Erholung werden. Kein Krawattenzwang. Keine faltigen Raupen in Seidenstrümpfen, die die Zivilisation mit ihrem Geschwätz und mit ihrem Anblick durchsetzten. Selbst Claudia mit ihren sanften Schmetterlingsaugen wurde langsam, aber sicher in diesen unaufhaltbaren Prozess gezogen, der auch sie irgendwann in eine Raupe verwandeln würde. Lange Zeit hatte Manfred es nicht wahrhaben wollen, doch eines erschien ihm unausweichlich: Es gab letztlich nur eine Möglichkeit, diese unheilvolle, perverse Metamorphose zu verhindern. Für Claudia war es eigentlich schon zu spät. Er hätte verzweifeln können bei dem Gedanken, dass er dabei tatenlos zusehen sollte. In den Augen seiner Frau sah er einen Abglanz der früheren kindlichen Leichtigkeit. Wenn sie ihn ansah, streifte ihn der Hauch eines samtenen Flügelschlags. Wenn er nur eine Möglichkeit gefunden hätte, diesen Blick von ihrem beinahe verbrauchten Raupenkörper abzutrennen, ohne dass die Augen ihren Glanz verlören.

»Stand!«

Der Ruf seines Kletterpartners brachte ihn in die Gegenwart der Berge zurück. Beat hatte einen Standplatz eingerichtet und war jetzt selbst gesichert. Manfred konnte die Partnersicherung abbauen und sich zum Nachklettern fertigmachen. Er drehte die Eisschrauben heraus und entfernte den Eiskern in ihnen, indem er sie kurz gegen seinen Stiefel schlug. Dann hängte er sie in den Klettergurt ein und packte seine Eisgeräte. Es zupfte an dem Karabiner, mit dem er sich ans Ende des Seils geknüpft hatte. Beat hatte oben das Restseil eingeholt und rief: »Kannst kommen!«

Jetzt wurde Manfred von oben gesichert und konnte ruhig die erste Seillänge angehen. Die Route hatte schönes, griffiges Blankeis, in das die Hauen der Eisgeräte mühelos eintauchten. Rein damit über Kopf, und dann mit den Frontalzacken der Steigeisen nachstapfen. Eisgeräte lösen, und noch mal das Ganze. Schon hatte Manfred die erste Zwischensicherung erreicht. Raus mit der Schraube, ausklopfen, in den Gurt einhängen und weiter. Alles ging reibungslos. Bald wurde ihm warm. Einige Minuten später erreichte er Beat. Der forderte ihn mit einer Handbewegung auf, gleich weiterzuklettern und die nächste Seillänge zu führen. So mussten sie den Standplatz nicht wechseln und waren schneller.

»Einfach geradewegs nach oben, Manni!«

Manfred querte erst zwei Meter zur Seite und stieg dann weiter aufwärts. Es ging leicht. Erst nach mehr als zehn Metern setzte er eine Eisschraube zur Zwischensicherung. Ein Karabinerpärchen an der Schraube eingeklinkt, das Seil in den baumelnden Karabiner eingehängt und weiter. Die Kopfschmerzen ließen nicht nach. Eher wurden sie durch die Anstrengung des Steigens stärker. Er wollte sich aber den Spaß nicht verderben lassen und kletterte weiter. Da ermahnte ihn ein Ruf von Beat, Stand zu machen. Die Seillänge war fast ganz ausgeklettert. Er schlug eine breite Stufe, in die er sich bequem hineinstellen konnte, und sicherte sich mit einer kurzen Schlinge an den eingerammten Eisgeräten. Dann drehte er zwei Eisschrauben für die Partnersicherung ein, in die er sich zusätzlich auch mit einhängte. Nun holte er das verbliebene Restseil ein und knüpfte den Halbmastwurf-Knoten in den Sicherungskarabiner. So sicherte er den nachsteigenden Partner.

»Komm nach, wenn du sonst nichts zu tun hast!«, rief er Beat zu.

Nach gerade mal zwei Seillängen spürte er schon seine Waden, die beim Klettern mit den Steigeisen extrem gefordert wurden. Doch Beat hatte diese Tour mit Bedacht ausgewählt, denn nach spätestens fünf Seillängen würden sie eine flachere Mulde erreichen, die ohne Einsatz der Frontalzacken begangen werden konnte. Damit wäre die Belastung vorläufig zu Ende.

In Manfreds Kopf lärmte es mittlerweile. In rasch aufeinander folgenden Wellen raste ein ungewöhnlich heftiger Schmerz durch sein Hirn. Er beschloss, noch eine Schmerztablette zu nehmen. Er sicherte mit nur einer Hand und hakte die andere in die Sicherungsschlaufe ein, die an einem der beiden Eisgeräte hing, und fummelte an der Außentasche seiner Jacke herum, in die er die Packung vorsorglich gesteckt hatte. Doch in dieser Haltung, noch dazu mit dicken Handschuhen an den Fingern, konnte er nicht einmal die Tasche öffnen, geschweige denn der Packung eine Tablette entnehmen. Er gab es auf und wartete auf eine bessere Gelegenheit. So lange musste auch der Kopfschmerz warten. Schon war Beat heran und betrachtete im Vorbeiklettern mit einem trockenen Grinsen Manfreds Standplatzeinrichtung.

»Vorbildlich, Manni. So sichert man einen Elefanten im Eisfall.«

»Na, dann reicht’s ja gerade für dich.«

Beat lachte leise vor sich hin und kletterte zügig weiter. In diesem Tempo würden sie bald flacheres Gelände erreichen. Die Anstrengung würde gleich geringer werden, hoffte Manfred. Er sah nach oben, um seinem Partner beim Klettern zuzuschauen und die Kulisse der Eiswand in der Morgendämmerung zu genießen. Sein Nacken fühlte sich steif an wie ein Stück Holz, die Kopfschmerzen wurden dabei unerträglich. Er senkte den Blick schnell wieder und schaute auf seine Füße, während er das Seil Stück für Stück nachließ. Wie ein endloser, bunter Wurm wand es sich durch seine Hände. Es krangelte sich im Sicherungsknoten um den Karabiner und strebte dann zappelnd die Wand empor. Irgendwo dort oben verbiss es sich in die dunkle Gestalt des Kameraden und schaffte damit die Verbindung, die einem Kletterer in dieser lebensfeindlichen Umgebung ein trügerisches Gefühl der Sicherheit verlieh. Die Zehen und Finger waren eisig und schmerzten vor Kälte. Manfreds Hirn lärmte und trieb ihm den Schweiß aus den Poren. Er wusste, dass seine Anstrengungen in den Bergen völlig sinn- und zwecklos waren. Dennoch erschien ihm das Bergsteigen als eine der wenigen Betätigungen, bei der sich die Frage nach dem Sinn nicht stellte. Er sah sein ganzes Leben als einen Kampf um Sinnhaftigkeit. Dort, wo alles Lebendige nur für eine kleine Weile zu Gast sein durfte, war kein Platz für Perversion. Der ewige Kreislauf von Gebären und Verfaulen hielt in der kalten, reinen Höhenluft inne. Hier fiel alles von ihm ab.

Es wurde langsam hell. Das Weiß, das den Berg bedeckte, schien auf den Himmel überzugehen. Alles wurde in ein fahles, beinahe unwirkliches Licht getaucht.

»Stand!«

Endlich ging es weiter. Er musste sich bewegen und das Blut zirkulieren lassen. Schon steckte die Kälte in den Beinen. Er konnte kaum noch klettern, fühlte sich schwach und elend. Die Kopfschmerzen wurden immer schlimmer. Er musste herauf zu Beat, heraus aus dieser Wand, wollte sich in den Schnee legen und die Augen schließen. Er kämpfte sich hinauf. Jeder Schlag mit den Eisgeräten wummerte in seinem Hirn. Fast konnte er seinen Körper nicht mehr richtig strecken, um Höhe zu gewinnen. Diese Seillänge erschien ihm ewig lang, das Herausdrehen der Eisschrauben eine Tortur. Seine Beine zitterten. Übelkeit breitete sich in seinem Magen aus.

»Wo bleibst du?«, rief Beat von oben herab.

Das bedeutete, dass er wirklich so langsam war, wie er sich fühlte. Er wollte nicht antworten. Die Übelkeit schnürte ihm die Kehle zu. Da endlich tauchte Beat in seinem Blickfeld auf. Die Wand neigte sich, die letzten Meter bis zu ihm hin konnte er gehen.

Beat meinte: »Mein Gott, schaust du beschissen aus!«

Manfred nickte matt, als könnte er sich selbst sehen und diese Aussage bestätigen. Im nächsten Moment musste er sich übergeben. Es war ihm, als versuche sein Leib, den Kopfschmerz hinauszuwürgen. Als handle es sich um ein böses Getier, das sich in ihm eingenistet hatte und ihn vergiftete. Vielleicht konnte es die Reinheit dieser Welt nicht ertragen und rebellierte nun. Wahrscheinlich aber waren die Kopfschmerzen nur so stark geworden, dass ihm schlecht werden musste, und die Anstrengung hatte ihm den Rest gegeben.

»Herrgott, du wirst mir hier doch nicht höhenkrank werden«, sagte Beat sichtlich erschrocken angesichts des ekligen Auswurfs.

»Red keinen Blödsinn«, antworte Manfred schnaufend. »Das ist nicht möglich.«

Er setzte sich in den Schnee und versuchte den Kopf so zu halten, dass es am wenigsten wehtat. Er konnte sich nicht erinnern, jemals solche Kopfschmerzen gehabt zu haben. In dieser Höhe von etwa viertausend Metern war er schon oft gewesen, ohne die geringsten Probleme verspürt zu haben. Dies schien etwas anderes zu sein. Das waren keine normalen Kopfschmerzen. Beat öffnete seinen Rucksack, holte einen Biwaksack hervor und breitete ihn auf dem Schnee flach aus.

»Leg dich da drauf und ruh dich aus.«

Willenlos gehorchte Manfred der ruhigen Stimme des Kameraden. Als er flach auf dem Rücken lag und ein paarmal tief durchatmete, ließ der Schmerz etwas nach.

»Was ist hier eigentlich los?«, hörte er sich stammeln. Er nahm alles wie im Nebel wahr und hatte das Gefühl für seinen Körper völlig verloren.

»Bleib noch ein paar Minuten liegen, und dann müssen wir so schnell wie möglich runter zur Hütte.«

Sein Kletterpartner hatte offenbar entschieden, dass die Tour zu Ende war. Er hatte keine Kraft, sich dagegen zu wehren. Also hatte Beat wohl recht.

Manfred fühlte sich schwerer und schwerer. Eine bleierne Müdigkeit machte sich in ihm breit. Sein Hirn pulsierte und zuckte. Es wollte den Schädel sprengen und seine dunkle Höhle verlassen. Er stellte sich vor, wie er es aus seinem Kopf herausreißen würde, die zitternde, blutige Masse in den Händen. Dann würde er sie in den weißen Schnee werfen, wo Reinheit und Kälte dem Spuk ein Ende bereiteten. Der leere Schädel bliebe vom Schmerz befreit erleichtert zurück.

Er kratzte etwas Firn zusammen und kühlte den Nacken damit. Das linderte den Schmerz ein wenig. Dann blieb er liegen und litt still vor sich hin. Irgendwann quälte er sich hoch, unterstützt von Beat. Sie machten sich an den Abstieg. Beat seilte ihn ab, und Manfred bewegte sich die Eiswand herunter, so gut er eben konnte. Der Schweizer kletterte nach, um ihn wiederum eine Seillänge tiefer zu befördern. Als sie am Wandfuß anlangten, war es längst heller Tag. Manfred war so erschöpft, dass er sich wieder für einige Zeit hinlegen musste. Erneut nahm er Eis auf und legte es sich ins Genick. Er spürte, wie die ruhige Kraft der Kälte auf ihn einwirkte. Fast kam es ihm vor, als würde ihm vom Urwesen der Natur, das im ewigen Eis des Hochgebirges lebte, ein Teil seiner magischen Energie zufließen.

Dann begann der lange Marsch zurück zur Hütte. Manfred wankte in der Spur, die sie in der Frühe gelegt hatten, zurück. Sie mussten immer wieder stehen bleiben, weil ihm der Kopfschmerz jede Bewegung verbot. Jetzt trug er die Gletscherbrille, um sich vor der Sonne zu schützen, hatte dabei aber das Gefühl, dass die Brille seinen Kopf einzwängte. Also nahm er sie von Zeit zu Zeit ab, obwohl er sich nur wenige Augenblicke später erneut vor dem Licht schützen musste und sie wieder aufsetzte. Ständig stolperte er über seine Steigeisen. Sie kamen kaum vorwärts. Immer wieder nahm er Eis auf und spürte seine tröstende kalte Kraft, die den Schmerz für ein paar Schritte erträglich machte. Es waren keine zwei Kilometer, die sie noch zu gehen hatten, aber diese Strecke erschien fast unüberwindlich. Das letzte Stück trug Beat ihn fast. Sie waren erleichtert, als sie die Hütte erreichten. Kaum hereingekommen, legte Manfred sich hin, schloss die Augen und wollte von nichts mehr etwas wissen. Er bekam noch mit, wie Beat mit seinem Handy herumfuchtelte und in seinem Schwyzerdütsch einen Hubschrauber anforderte. Manfred war sterbenselend. Fliegt mich nicht weg von hier, dachte er. Grabt mich ins Eis ein, wo jeder Schmerz den heilenden Kräften der Natur weichen muss und das Leben zum Stillstand kommt. Jetzt erst begreife ich wirklich, dass Stillstand des Lebens nicht etwa Tod bedeutet, sondern im Gegenteil die Abkehr von Vergänglichkeit und Sterben. Lasst mich im Eis, wo alle Zweifel erfrieren.

Kapitel 9

Die Atmosphäre einer Pressekonferenz faszinierte Tim stets aufs Neue. Die genervten Kriminaler, die mit Mikrofonen und Blitzlichtern nur wenig anfangen konnten, machten ihm Spaß. Dazu die Menge an Pressevertretern, deren Gehabe er gern beobachtete. An diesem Tag war es besonders spannend, da der Fall in seiner Heimat verortet war, er viele Anwesende persönlich kannte, und besonders deswegen, weil Helena Berger im Zentrum der Veranstaltung stand. Wenn man sie kannte, war ihr die Nervosität anzumerken. Tim empfand die große Blondine wie immer als eine visuelle Wucht. Und damit war er nicht allein, wie er mit einem Blick in die Runde feststellte. Inhaltlich ging es um die karge Feststellung, dass vor wenigen Tagen ein Mörder im Raum Köln in einem sportlichen, erst dreizehn Jahre jungen Mädchen mindestens sein zweites Opfer gefunden hatte. Mit ihrer wohlklingenden Stimme berichtete Lena von der eindeutigen Übereinstimmung der DNA des Täters bei beiden Opfern, jetzt und vor einem Jahr. Sie erwähnte die deutlichen Fingerabdrücke auf der Haut des jüngsten Opfers und die guten Chancen auf einen raschen Fahndungserfolg. Sie hoffte, den Täter fassen zu können, bevor er erneut zuschlug. Diese Schlussfolgerung konnte Tim nicht teilen. Es gab offenbar keine Zeugen, keine noch so vage Täterbeschreibung. Der genetische Fingerabdruck passte zu keiner bekannten Gegenprobe, weder aus dem Umfeld der Opfer noch aus der DNA-Analyse-Datei des BKA.

Er musste eine Stunde warten, bis er Lena abfangen konnte. Er begleitete sie in ihr Büro, dort ließ sie sich erst einmal in einen Stuhl fallen und atmete tief durch.

»Mein Gott, war das nervig.«

Tim setzte sich auf ihren Schreibtisch. »Du hast aber eine verdammt gute Figur gemacht. Und kaum jemand hat gemerkt, dass ihr einen Scheißdreck habt, aber keine Spur vom Täter.«

»Danke, dass du uns nicht verraten hast«, meinte sie trocken. »Aber es stimmt leider. Ohne einen Verdächtigen nützen uns die Analyseergebnisse gar nichts. Wir haben null Übereinstimmung in der DAD, keine Zeugen, und es gibt für solche Taten kein vernünftiges Motiv. Ich befürchte, ich werde Spezialisten vom BKA hinzuziehen müssen. Ich könnte deine Erfahrung mit Serienmördern gut gebrauchen, Tim.«

»Dann lass mich dir etwas über den Typen erzählen, den du suchst. Vielleicht glaubst du, der Täter ist ein Irrer, völlig durchgedreht und unberechenbar. Aber auch dieser Psychopath, wenn er denn einer sein sollte, ist ein Täter mit einem Motiv und einer Vorgehensweise.«

Lena nickte, als würde sie wirklich verstehen, was er eben gesagt hatte. Er erinnerte sich daran, wie lange er für diese Einsicht gebraucht hatte.

Die Kommissarin lächelte müde. »Ganz unfähig bin ich natürlich auch nicht. Speichelproben aus Familie, Nachbarschaft und Sportverein werden erhoben und ausgewertet. Das dauert noch an. Ich bin aber skeptisch, dass uns das weiterbringt. Bei dem ersten Mord ergab der DNA-Abgleich im Opferumfeld keine Spur, bei folgenden Taten wird das eher noch weniger der Fall sein. Ansonsten schauen wir uns die Schuhabdrücke des Täters an und ermitteln das Modell. Gute Laufschuhe haben charakteristische Sohlen, und wenn er ein richtiger Läufer ist, kauft er regelmäßig neue Schuhe. Das ist neben der DNA-Analyse unsere heißeste Spur.«

»Gute Idee«, kommentierte Tim. »Das Modell hast du vielleicht bis morgen schon.«

»Just do it!«

Lena hatte ihren Humor noch nicht verloren. Tim wusste, dass sie eine verdammt gute Polizistin war. Bei der Kripo Köln hatte sie in den letzten Jahren beachtliche Erfolge verbucht. Ihr Scharfsinn und ihre Zielstrebigkeit waren schon damals abzusehen gewesen, als sie gemeinsam die Ausbildung im Kriminaldienst begonnen hatten. Tim hatte damit nur angefangen, weil er dachte, er wäre es seinem Vater, dem Staatsanwalt, irgendwie schuldig. Er brach dann aber die Laufbahn ab. Nun ja, da war auch dieses verdammte psychologische Gutachten gewesen. Seine Chancen waren danach gegen Null gesunken. Lena dagegen zog die Ausbildung mit Bravour durch, um danach ihr Talent erfolgreich in die Praxis umzusetzen.

Während sie Karriere bei der Kriminalpolizei machte, reiste Tim viel. Er bestieg einige der schönsten Berge dieser Welt und lernte nebenher das Journalistenhandwerk. Einige Zeit verbrachte er mit Kriegsberichterstattung in den gottverdammtesten Winkeln dieser Erde. Dann spezialisierte er sich auf die Recherche in Serienmordfällen. Es hatte ihn mit Macht dazu getrieben. Sein angebliches Problem, das ihn die Polizeilaufbahn gekostet hatte, entpuppte sich hier als Talent.

Lena räusperte sich. Sie schien verlegen. »Tim, wir sind schon ziemlich lange befreundet, und du weißt mehr über Serienmörder als sonst irgendjemand, den ich kenne. Natürlich haben wir unsere Profiler. Ich bin dir aber für jede Hilfe dankbar, und du weißt, dass du auch etwas davon hast. Was kannst du mir zu dem Täter sagen?«

»Ein richtiges Profil kann ich dir noch nicht präsentieren, aber soviel ich bis jetzt weiß, könnte man Folgendes annehmen: Er ist ein sportlicher Mann und kann vermutlich schnell laufen. Er hat die Opfer mit bloßen Händen erwürgt, aber nicht vergewaltigt oder auch nur im Vaginalbereich berührt. Also ist er körperlich fit, triebhaft, aber beherrscht. Mindestens fünfundzwanzig, eher älter. Vielleicht hat er das Opfer im vorigen Jahr noch zufällig ausgewählt. Das ist dieses Mal sicher nicht mehr der Fall gewesen. Er plant seine Tat und ist ein kontrollierter Typ. Er lässt sich nicht völlig durch seinen Trieb beherrschen. Er beißt nicht, will kein Blut sehen. Er hat ein Motiv. Er ist kein Gewalttäter, der durch rüdes Verhalten oder Grobschlächtigkeit auffallen würde. Und er ist auch kein unscheinbares, mageres Jüngelchen, das nur mittels solcher Straftaten an Mädchen spielen kann.«

»Das trifft höchstens auf die Hälfte der männlichen Bevölkerung zu, beispielsweise auch auf dich.«

»Nun sei mal nicht so ungeduldig. Mein erster Ansatz ist folgender: Intelligente Menschen brauchen immer eine Legitimation für Gewalt, dumme dagegen haben Gewaltreflexe und denken sich nichts dabei. Ein Intellektueller kann zwar ebenfalls Gewaltreflexen erliegen, wird jedoch erst zum Serientäter, wenn er diese Gewalt legitimieren kann und somit eine Rechtfertigung für Wiederholungen hat. Da ich ein Tatmotiv suche, muss ich klären: Ist der Täter dumm oder intelligent? Mein zweiter Ansatz ist die Unterscheidung von chaotischen und planmäßig vorgehenden Tätern. Irgendwann verlieren aber auch die Planer die Kontrolle und werden chaotisch. Aber so weit ist dieser Mann vermutlich noch lange nicht.«

»Und werden wir deinen intelligenten Planer fassen können, bevor er im Chaos eine Serie von Mädchenleichen hinterlässt?«

»Du bist ja mindestens so zynisch wie ich, liebe Lena«, erwiderte Tim. »Das steht dir. Lass mich meine Ansätze gegen die bekannten Fakten spiegeln, und wir sehen weiter. Mal was anderes. Hast du jetzt noch Termine, oder sollen wir was trinken gehen und die Besprechung in angenehmerer Atmosphäre fortsetzen?«

»Bedaure«, sagte sie. »Ich bin noch verabredet.«

»Du glaubst doch wohl nicht, dass, wer immer es auch ist, er es dir besser besorgen kann als ich?«

»Kein Kommentar.«

»Okay. Rufst du mich an, wenn du was Neues hast?«

Lena nickte und warf ihre Tasche über, die an einer Stuhllehne gehangen hatte. »Klar.«

Tim trat auf den Gang vor Lenas Büro. Sie schloss die Tür ab, winkte ihm kurz zu und wandte sich dann ab. Er sah ihr hinterher, als sie den Flur hinunter ging und ihm dabei einen Blick auf ihr attraktives Hinterteil gewährte. Er schüttelte den Kopf. Er war dreiunddreißig Jahre alt, mit einer attraktiven Frau verheiratet und Vater einer wunderhübschen, siebenjährigen Tochter – und trotzdem hätte er Lena jetzt gern gefickt. Tim mahnte sich zur Konzentration. Die beiden toten Mädchen hatten es verdient, dass er sich mehr auf ihren Mörder konzentrierte als auf seine Libido. Seine Frau wahrscheinlich auch.

Er fragte sich, was der Täter in diesem Moment gerade machte. Worüber dachte er nach? Was bewegte ihn, trieb ihn an? Was empfand er, wenn er davon träumte, dass sich seine Hände um den Hals eines Mädchens schlossen? Dasselbe wie Tim, wenn er sich vorstellte, den knackigen Hintern von Lena Berger zu packen, während er in sie eindrang? Warum begehrte er, Tim, was ihm nicht zustand, und warum vernichtete der Mörder, was er begehrte?

Kapitel 10

Die Bilder an der weißen Wand gaben sich Mühe, nicht zu einem Krankenhauszimmer zu gehören. Es blieb jedoch beim Versuch. Manfred fand, dass dies auch auf ihn zutraf. Der Fernsehapparat in der oberen, fensterseitigen Ecke seines Domizils gähnte ihn an wie ein schwarzes Loch. Keine Fernbedienung griffbereit. Vielleicht war ihm das Fernsehen nicht erlaubt. Er wusste es nicht, denn er hatte noch niemals zuvor an Meningitis gelitten.

Ein Bakterium hatte ihn aus der Dom-Westwand getrieben und in dieses Sanatorium in der Nähe von Zürich gebracht. Die freundlichen Helfer der REGA hatten sich mit ihrem habichtgleichen rot-weißen Heli auf ihn gestürzt. Es war ihnen einfach nicht möglich gewesen, seinem kraftlos gestammelten Wunsch nach Verbleib im ewigen Eis zu entsprechen, stattdessen hatten sie ihn umgehend in niedere Gefilde geflogen. Da mussten sie dann schnell festgestellt haben, dass nicht etwa ein Höhenhirnödem, sondern eine ordinäre eitrige bakterielle Hirnhautentzündung seine Ausfallerscheinungen hervorgerufen hatte. Unter Ausnutzung seiner kurzfristigen geistigen Abwesenheit entzog man ihm ein Quantum Nervenwasser aus dem unteren, rückenmarklosen Teil der Wirbelsäule. Angeblich hatte man an der deutlichen Trübung des Liquors sofort das Übel erkannt. Es gehörte wohl zum Krankheitsbild, dass er in dieser Situation zu blöd zum Lesen war. Das hatte man ihm jedenfalls versichert.

Er schnaubte verächtlich beim Gedanken an die Ärzte. Da er ohnehin keinen Internet-Anschluss zwecks Recherche bekommen konnte, musste er glauben oder wenigstens gläubig hoffen, dass man ihm nicht ohne triftigen Grund intravenös täglich sieben Flaschen diverser Antibiotika verabreichte. Gerade genoss er eine Ampulle Rocephin, ein Teufelszeug. Niemand wollte ihm abkaufen, dass er es auf der Zunge schmeckte, wenn es ihm durch den Venenzugang in die künstlich offen gehaltene Ader drang. Ein leichtes Brennen an der Nadel signalisierte ihm, dass es Zeit war, einen neuen Zugang zu legen. Zwei Tage links, zwei Tage rechts, und dann von vorn das Ganze. Länger hielt die Vene nicht durch. Das antibiotische Höllengebräu aus diversen Säften war zu aggressiv. Neben Rocephin gab man ihm noch Penicillin und ein drittes Zeug, dessen Namen er auf dem Etikett schon mehrfach vergeblich zu buchstabieren versucht hatte.

Nun war die Flasche leer. Schon kam der Pfleger herein, der ältere mit dem Rauschebart und nicht der junge Schnösel. Der hatte Manfred einmal zu viel unprofessionell am Zugang herumgefummelt und durfte deswegen sein Zimmer nicht mehr betreten. Das Rocephin wurde abgehängt und im fliegenden Wechsel die Schmerzinfusion angekoppelt. Das Tramal war in einem halben Liter Kochsalzlösung enthalten. Zwei solcher Flaschen tropften pro Tag in ihn hinein, bei normaler Geschwindigkeit in etwa zwanzig Minuten. Es dauerte weniger als fünf Minuten, bis er die Wirkung verspürte – der Kopfschmerz war wie weggeblasen, und eine unfassbare Gelassenheit erfüllte ihn. Er stellte sich vor, dass er langsam auf den Grund einer tiefen, blau schimmernden Gletscherspalte hinabschwebte. Dort würde er Ruhe und Frieden finden.

Er befand sich schon fünf lange Tage in dieser Klinik, und es war zu befürchten, dass eine weitere Woche vergehen würde, bis man ihn herausließ. Der Chefarzt behandelte ihn sehr zuvorkommend, besonders seit er wusste, dass Manfred zwanzig seiner eidgenössischen Landsleute beschäftigte. Er hatte ihm gestern eröffnet, dass nach der zweiwöchigen Antibiose mit weiteren drei bis vier Wochen Aufenthalt in einer Rehabilitationsklinik zu rechnen sei. Manfred hatte versucht, ihm zu erklären, dass dies wohl für normale Arbeitnehmer gelten würde, aber wohl kaum für den Geschäftsführer einer Unternehmensberatung mit über einhundert Mitarbeitern in drei Ländern. Statt einer Antwort entbot der Arzt ihm ein väterliches Lächeln. Es sollte wohl so viel heißen wie »Abwarten, Bübchen«.

Manfred spürte Wut in sich. Niemand behandelte ihn mit dieser herablassenden Art, auf diese Ich-weiß-besser-was-gut-für-dich-ist-Weise, auch nicht dieser scheißfreundliche Professor. Manfred hatte keine Ahnung, was er in einer Rehabilitationseinrichtung sollte. Er war müde und fühlte sich wehrlos. Sein Denkapparat wollte nicht richtig funktionieren. Jede Bewegung bereitete ihm Mühe. Er vertraute darauf, dass sich das in den nächsten Tagen ändern würde. Niemand behandelte ihn wie eine Mutter ihr unselbständiges Kind.

Er hatte so viel vor, so viel zu tun. Man konnte ihn nicht aufhalten. Er ließ sich nicht mehr aufhalten, nicht von einem Heer Schweizer Neurologen, nicht von einem Bakterium, das in seinen Hirnhäuten lebte. Erst recht nicht mehr von ihm selbst. Alles lag klar vor ihm. Der Weg war bereitet. Er war es schon seit langem, doch nun erst sah Manfred ihn wirklich. Jetzt musste er Kräfte sammeln für all das, was vor ihm lag.

Heute war er allein ins Kellergeschoss gefahren, wo man ihn einer radiologischen Untersuchung unterzogen hatte. Anschließend saß er wieder im Aufzug, um in seine Station zurückzukehren. Aus Schwäche musste er einen der Klappsitze benutzen. Die im LED-Display des Aufzugs aufleuchtenden Etagenanzeigen ergaben für ihn keine sinnvolle Information. Ein altes Weib in einem unsäglich himmelblauen Morgenmantel stieg zu. Manfred musste, als der Aufzug angehalten hatte, nachfragen, wo man sich zurzeit befand. Die Frau sah ihn und die Anzeige abwechselnd an, bevor sie ihm die Auskunft gab, dass sie im dritten Stock seien. Und tatsächlich erkannte er das rotleuchtende Symbol als eine klar und deutlich lesbare 3. Dabei hatte er doch am Vortag schon die Etiketten auf den Flaschen lesen können, die man ihm regelmäßig in den Tropf hängte. Er fragte sich, was mit ihm geschah.

Für den nächsten Tag hatte Claudia sich mit den Kindern angesagt, um das Wochenende bei ihm zu verbringen. Er hatte ihr am Telefon gesagt, dass es ihm recht gut gehe und er ohnehin bald nach Hause käme. Sie hatte ihm nicht geglaubt. Er konnte ihren Besuch nicht verhindern. Allerdings vermisste er die Kinder. So soll es denn sein, dachte er. Man kann niemals wirklich alles hinter sich lassen. Es wäre auch nicht klug, es zu versuchen.

Kapitel 11

Gentamycin hieß das dritte Antibiotikum, das ihm täglich injiziert wurde. Manfred hatte es sich aufgeschrieben, damit er es nicht mehr vergaß. Er fragte sich, wieso ihm das Rocephin sofort geläufig gewesen war.

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
2015
ISBN (eBook)
9783958243064
ISBN (Paperback)
9783961484829
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2015 (November)
Schlagworte
Psycho-Thriller Kriminalroman Spannung Ermittler-Krimi Serienmörder Profiler Sebastian Fitzek Kathy Reichs Bones - Die Knochenjägerin eBooks
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Titel: Der Schmetterlingsmörder
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