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Schluss mit lustig

Roman

©2015 236 Seiten

Zusammenfassung

Ein turbulenter Roman über die Frage, was glücklich macht: „Schluss mit lustig“ von Bestsellerautorin Gabriella Engelmann als eBook bei dotbooks.

Kuschelweiche Mädchenträume? Die sind eindeutig nichts für July: Sie ist Pessimistin aus Leidenschaft und immer auf das Schlimmste gefasst. Bis zu dem Tag, als sie einen Schlag auf den Kopf bekommt. Auf einmal hat July allerbeste Laune. Sieht die Dinge positiv. Freut sich des Lebens und ist sicher, dass die große Liebe näher ist, als sie für möglich gehalten hätte. Alles könnte so schön sein … wenn Julys neuer Optimismus sie nicht von einer Katastrophe in die nächste stolpern lassen würde. Sie braucht ganz dringend ihren alten Pessimismus zurück! Oder?

Jetzt als eBook kaufen und genießen: „Schluss mit lustig“ von Bestsellerautorin Gabriella Engelmann. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Über dieses Buch:

Kuschelweiche Mädchenträume? Die sind eindeutig nichts für July: Sie ist Pessimistin aus Leidenschaft und immer auf das Schlimmste gefasst. Bis zu dem Tag, als sie einen Schlag auf den Kopf bekommt. Auf einmal hat July allerbeste Laune. Sieht die Dinge positiv. Freut sich des Lebens und ist sicher, dass die große Liebe näher ist, als sie für möglich gehalten hätte. Alles könnte so schön sein … wenn Julys neuer Optimismus sie nicht von einer Katastrophe in die nächste stolpern lassen würde. Sie braucht ganz dringend ihren alten Pessimismus zurück! Oder?

Über die Autorin:

Gabriella Engelmann, geboren 1966 in München, lebt in Hamburg. Sie arbeitete als Buchhändlerin, Lektorin und Verlagsleiterin, bevor sie sich ganz dem Schreiben von Romanen, Kinder- und Jugendbüchern zu widmen begann.

Bei dotbooks veröffentlichte Gabriella Engelmanns bereits die vier Kurzromane der Glücksglitzern-Serie »Ein Kuss, der nach Lavendel schmeckt«, »Zeit der Apfelrosen«, »Inselglück und Friesenkekse« und »Der Duft von Glück und Friesentee«, den Roman »Nur Liebe ist schöner« sowie die Kurzromane »Eine Liebe für die Ewigkeit«, »Verträumt, verpeilt und voll verliebt«, »Te quiero heißt Ich liebe dich«, »Kuss au chocolat« und »Dafür ist man nie zu alt«.

Die Website der Autorin: www.gabriella-engelmann.de
Die Autorin im Internet: www.facebook.com/AutorinGabriellaEngelmann

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eBook-Neuausgabe November 2015

Copyright © der Originalausgabe 2011 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

Copyright © der Neuausgabe 2015 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design, München, unter Verwendung eines Bildmotivs von shutterstock/S_L

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH

ISBN 978-3-95824-335-4

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Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: info@dotbooks.de. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags

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Gabriella Engelmann

Schluss mit lustig

Roman

dotbooks.

KAPITEL 1
Schlag nach bei Freud!

Mit dem Optimismus ist das so eine Sache: Er ist einfach nichts für Pessimisten. Und genau deshalb würde ich momentan am liebsten meine beste Freundin Mona ermorden. Denn die hört heute mal wieder gnadenlosen Mist im Radio:

Always look on the bright side of life.

Always look on the light side of life.

»Mona, kannst du das bitte abstellen? Diese Denk-positiv-Kacke turnt echt ab!«, kreische ich und biege Richtung Badezimmer.

If life seems jolly rotten.

There's something you've forgotten.

And that's to laugh and smile and dance and sing.

Doch der Song der Komiker von Monty Python bleibt nicht das einzige Ärgernis an diesem Samstagvormittag: Meine dunklen Locken sehen aus, als ob jemand aus Wollresten ein Käppi stricken wollte, und ein Pickel wohnt auf meiner Nase und scheint sich dort ziemlich wohlzufühlen.

Schön geht irgendwie anders!

Und die größte Katastrophe: Wir haben kein Nutella mehr.

Genervt starre ich erst auf mein Frühstücksbrettchen mit den Totenkopfmotiven, dann auf die Papierserviette mit den pinkfarbenen Herzchen und schließlich in das Gesicht meiner Freundin. Die blättert summend in einem Reiseprospekt, vor sich ein Brettchen mit Marienkäfern. Tja, so ist Mona: ein Knallbonbon an Frohsinn und guter Laune. Ein blonder Rauscheengel mit pickelfreiem Teint, einer zierlichen Stupsnase und den schönsten blauen Augen, die die Menschheit je gesehen hat. Ich liebe sie, ehrlich, aber manchmal macht sie mich einfach nur aggressiv.

»Sag mal, July, was hältst du davon ... « (By the way: Ich höre auf den außergewöhnlichen Namen July-Sadie. Und falls sich jetzt jemand fragt, warum, wende er sich bitte vertrauensvoll an meine Mutter.) »... spontan mit mir auf die Kanaren zu fliegen?«, fragt Mona, die Augen erwartungsvoll aufgerissen. Ja, sie kann sich über alles freuen. Besonders über schöne Aussichten: »Da sind jetzt dreißig Grad, wir können den ganzen Tag am Strand liegen, surfen, wandern und abends tanzen gehen. Und wenn wir zurückkommen, ist das Wetter in Hamburg bestimmt auch super ... «

Hmmmm.

Kanarische Inseln.

Ich weiß ja nicht ... Auf Fuerteventura möchte ich nicht tot überm Zaun hängen, auf Lanzarote gibt es nichts als rote Erde und einen Haufen Kamele, auf Gomera feucht-glitschigen Regenwald und auf La Palma ... andererseits: Ich möchte nirgendwo tot überm Zaun hängen!

»Kommt nicht in Frage«, sage ich deswegen entschieden. »Zu gefährlich!«

»Zu gefährlich?« Mona runzelt die Stirn.

»Aber klar. Hast du denn nicht Der Schwarm gelesen? Auf La Palma besteht akute Gefahr eines ausbrechenden Vulkans. Und wenn das passiert, regnet es nicht nur haufenweise Asche, sondern es entsteht auch noch ein Tsunami, der eine hundertzwanzig Meter hohe Welle vor sich hertreibt. Die kann sogar New York vernichten. Einfach so!«

»Äh«, macht Mona, was mich zufriedenstellt. Bevor sie mir weiter irgendwelche vollkommen absurden Ideen auf die Nase binden kann, schnappe ich mir die Mopo, das Drecksblatt, das meine Freundin trotz meines Protests immer wieder hier einschleppt. Mal sehen, mit welcher Horror-Schlagzeile sie heute ihren Lesern den Tag vermiesen wollen.

»Wie hoch schätzt du die Wahrscheinlichkeit ein, dass so etwas genau dann passiert, wenn wir beide dort sind?«, fragt Mona provokativ.

Doch mit dieser Masche kriegt sie mich nicht – das Spielchen kenne ich schon. Ich hasse es, wenn meine Umgebung die Ziegelstein-Theorie bemüht, um mich davon zu überzeugen, dass ein real existierendes Risiko nur ein Hirngespinst ist. Die soeben zitierte Theorie besagt, dass das Leben insgesamt eine gefährliche Angelegenheit ist und dass man – wenn man ein Rendezvous mit dem Tod hat – auch jederzeit von einem herabfallenden Ziegelstein erschlagen werden kann.

»Die Wahrscheinlichkeit liegt doch sicher bei 0,0000001 Prozent«, kartet Mona nach.

Ich kann aber auch hartnäckig sein: »Das haben sie vom großen Tsunami und dem Attentat auf das World Trade Center auch gesagt«, kontere ich grummelig und entschuldige mich innerlich bei den Opfern. Nicht dass mich irgendwann ein ähnliches Schicksal ereilt, nur weil ich sie für statistische Zwecke benutzt habe.

»Wetten, wir beide liegen gerade gemütlich auf der Luftmatratze, lassen uns die Sonne auf den Bauch scheinen, und schon geht's los. Du weißt doch: Das Grauen schlägt immer dann zu, wenn man es am allerwenigsten erwartet. Da könnte ich dir ungefähr fünfzigtausend Beispiele ...«

»Schon gut, schon gut, ich gebe auf !«, unterbricht Mona mich und schenkt uns beiden Tee ein. Dabei schüttelt sie den Kopf, wie immer nach meinen Ausführungen.

»Flieg doch mit Richy, wenn du unbedingt wegwillst«, schlage ich vor, Konstruktivität heuchelnd. In Wahrheit will ich nur in Ruhe den Artikel lesen, den die Mopo als Aufmacher hat:

FLASCHEN-MANN HAT WIEDER ZUGESCHLAGEN

Besagter Typ macht seit Wochen die Gegend um die Uni unsicher und brät wehrlosen Fußgängern vom Fahrrad aus eins mit der Flasche über. Von Motiv und Täter bislang keine Spur. Ein Armutszeugnis für die Hamburger Polizei, wenn man mich fragt. Die könnten doch mal ein paar Beamte für diesen Typen abstellen, aber nein, sie halten sich natürlich lieber damit auf, die Einhaltung des Standortschutzgesetzes auf St. Pauli zu überwachen oder gemütlich Kaffee zu trinken. Beamte eben. Falls ich vergessen haben sollte, es zu erwähnen: Mona und ich wohnen seit einem halben Jahr als WG in einer abgerockten, aber ultragemütlichen Altbauwohnung mitten auf dem Kiez. In der Talstraße 17, um genau zu sein.

Vom Balkon unseres Drei-Zimmer-Palastes sieht man Gay-Kinos, einen Sex-Shop und eine Bar. Die meisten Nutten kennen wir mit Namen, und wir wissen auch, ob's ein guter oder schlechter Tag für sie war – was die Einnahmen betrifft, selbstverständlich. Wir sind mit Mohammed, dem Besitzer des Kiosks um die Ecke, per Du und kennen jedes seiner neun Kinder. Ich finde es schöner, in dieser eigenen Welt zu wohnen als in einem versnobten Stadtteil. Wenn ich nur an Pöseldorf oder Harvestehude denke, kommt mir schon die Galle hoch.

Doch zurück zu Monas Urlaubsplänen: »Ich will aber mit dir fliegen!« Hui, jetzt hat sie wieder ihre besondere Stimme.

Ich beginne tatsächlich zu schwanken. Eigentlich ist die Idee, mal ein oder zwei Wochen zu verreisen, gar nicht so schlecht. Aber (ja, ich liebe das Wort »aber«) da gibt es, abgesehen vom Reiseziel natürlich, ein weiteres Problem: »Ich würde ja grundsätzlich gern mit dir fahren, aber im Gegensatz zu dir muss ich ein bisschen mehr für meine Kohle arbeiten.«

Das ist jetzt zwar gemein von mir, weil Mona ja nichts dafür kann, dass sie von ihren Eltern finanziert wird, solange sie auf einen Studienplatz wartet. Trotzdem muss man die Dinge auch mal beim Namen nennen!

»Aber du verdienst bei BrillantArt doch ganz gut ... «, wendet Mona ein, womit sie theoretisch ja recht hat.

Praktisch gibt es da allerdings ein klitzekleines Problem: »Momentan sieht es leider so aus, als würden die von einem Münchner Verlag geschluckt werden, und was das bedeutet, kannst du dir ja wohl denken ... « So – jetzt ist es raus.

Ich habe meine Sorge, die mich seit Wochen umtreibt, endlich laut ausgesprochen.

»Mehr Verantwortung, mehr Spaß, mehr Geld?!«, antwortet Mona, anstatt mich zu bedauern, und wieder einmal frage ich mich, wo bei ihr die Grenze zwischen Naivität und Optimismus verläuft. Dann sagt sie auch noch: »Ist doch total toll!«

Fehlt nur noch, dass sie vor Freude in die Hände klatscht.

»Ich würde es eher so ausdrücken: Umstrukturierungen, Kündigungen, Konsolidierung. Und als Erstes trifft es natürlich freie Autoren wie mich!« Ich bemühe mich, meine Stimme wie die einer knallharten Geschäftsfrau klingen zu lassen, damit Mona kapiert, dass die Sache ernst ist.

»Aber wie kommst du denn auf so einen Unsinn?«, fragt sie und schnappt nach Luft. Momentan sieht sie aus wie ein Karpfen auf Landgang. »Du redest dir doch nur wieder mal alles grundlos schlecht.«

»Wenn man die Andeutungen von Emilia ernst nehmen darf, ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis das Magazin in eine Glamour- und People-Gazette umgemodelt wird. Da fackeln die Münchner nicht lange. Brillante Kultur ist passé, es lebe der schöne Schein!«, erkläre ich zynisch.

Emilia, die Prophetin meiner beruflichen Apokalypse, ist übrigens die Assistentin des Verlagsleiters Markus Quante und sollte es eigentlich wissen.

Schließlich geht sie regelmäßig mit ihm ins Bett.

»Ach Quatsch«, protestiert Mona und legt den Prospekt beiseite. Wurde aber auch Zeit, schließlich brauche ich ihre ungeteilte Aufmerksamkeit.

Doch Mona denkt gar nicht daran, mit mir gemeinsam Wunden zu lecken, sondern schnappt sich stattdessen die neue Life-Style, auch so ein Teufelszeug. Ich liebe meine Freundin. Aber mit ihrem fatalen Hang zu Frauenmagazinen, Daily Soaps und Casting-Shows macht sie es mir manchmal wirklich schwer. Ich wage gar nicht, daran zu denken, dass jemand mit ihren Interessen später Grundschullehrerin werden möchte. Was will sie ihren Schülern denn beibringen? Wie man sich bei der Show von Victoria's Secret als Model so bewegt, dass man nicht auf den Hintern fällt?

»Mehr als ach Quatsch hast du dazu nicht zu sagen?«

Immerhin werde ich bald zu den Ärmsten der Armen gehören, und Mona steht als Hauptmieterin im Mietvertrag – alleine kann sie sich unsere Wohnung gar nicht leisten. Aber darüber denkt sie natürlich nicht nach. Lieber wird die Gala zum hundertsten Mal durchgeblättert.

»Ehrlich gesagt nein«, sagt Mona und hat immer noch gute Laune. »Ich hab so was mittlerweile schon tausendmal gehört. Aber statt der erwarteten grauenhaften Katastrophe ist dann meistens etwas ganz Tolles passiert. Und so wird es auch diesmal sein. Wieso machst du dir eigentlich immer Sorgen über ungelegte Eier? Lass doch die Dinge einfach mal auf dich zukommen.«

Ich fasse es nicht! Mona nennt meine Existenzkrise ungelegte Eier?

»Du kannst dir doch immer noch Gedanken darüber machen, wenn es so weit ist, oder nicht?« Jetzt redet Mona mit mir wie eine Krankenschwester mit einem besonders schwierigen Patienten und legt auch noch ihre Hand auf meinen Arm.

Ich schüttele sie ab und stehe auf. »Dann ist es aber zu spät! Ich will vorbereitet sein, wenn Quante mir das Messer in den Rücken stößt.«

Mona grinst. »Wie theatralisch du immer bist!«

Wenn sie so weitermacht, passiert was ganz, ganz Schlimmes.

»Tu mir einen Gefallen und grins nicht so, Mona. Der Unterschied zu euch Frohnaturen ist, dass Leute wie wir damit umgehen können, wenn etwas Unerwartetes passiert. Wir tapern nicht mit der Think-Pink-Brille durch die Gegend und wundern uns fürchterlich, wenn uns die böse, böse Wirklichkeit brutal einholt! Wir rechnen mit allem und wissen, was zu tun ist, wenn uns eine Katastrophe ereilt!« Nun schreie ich fast, Mona grinst immer noch. Blöde Kuh!

»Du und deine melodramatischen Anfälle«, kichert sie. »Heb dir die lieber für dein Blog auf, anstatt dich in etwas hineinzusteigern, das vermutlich nie eintreten wird. Du bist eine Pessimistin, wie sie im Buche steht! So was hab ich echt noch nicht erlebt.«

»Ich bin keine Pessimistin, sondern Realistin, das ist ein ziemlich großer Unterschied!«, protestiere ich wütend.

Wir führen diese unsinnige Diskussion zum Thema innere Haltung leider häufiger. Irgendwie ist Mona fest davon überzeugt, dass ich eine echte Schwarzmalerin bin, die sich selbst im Weg steht und damit die sogenannte selffulfilling prophecy regelrecht heraufbeschwört. Als hätte ich einen Pakt mit dem Teufel, Werwölfen und Vampiren zusammen.

Ich kann ihre Befürchtungen nicht teilen. Ich würde mich eher als kritisch, vorsichtig und damit insgesamt äußerst klug bezeichnen. Und sollte ich wirklich eine Pessimistin sein, dann bin ich jedenfalls eine glückliche. So.

Denn als Optimist hat man keine Ahnung von den freudigen Überraschungen, die das Leben bereithält.

Warum kapiert meine liebe Freundin das eigentlich nicht? Will sie mich nicht verstehen? Irgendwann wird es böse mit ihr enden, sehr böse. Dann wird sie aufwachen und sagen: »Du hattest ja so recht, July, wie konnte ich nur so dumm sein?«

Aber anstatt das gleich zuzugeben, kommt nur: »Sei mir nicht böse, July, aber ich gehe jetzt lieber einkaufen. Hast du Lust, mitzukommen?«

Ich schüttle den Kopf, denn ich habe keinen Spaß daran, mein Geld für Mode und Wohnschnickschnack zu verballern. Mona hingegen LEBT für Handtaschen, weshalb wir in absehbarer Zeit bestimmt umziehen müssen. Ich kaufe lediglich schwarze Rollkragenpullis – die mir in Journalistenkreisen den Spitznamen Schwarze Feder eingetragen haben. Zu Recht, wie ich finde. Schwarze Feder klingt doch gut – unnahbar. Hart. Realistisch. (Ja, es klingt auch ein bisschen nach dem Häuptlingsnamen eines Indianerstamms, aber nur entfernt.)

»Soll ich dir was mitbringen?«, fragt Mona, während sie türkisfarbene Flip-Flops anzieht, die neben meinen schwarzen Stiefeln so grell leuchten, dass man Augenschmerzen bekommt.

»Nutella«, antworte ich spontan. »Übrigens: Ist es für die Schuhe heute nicht ein bisschen zu kühl? Du wirst dich hundertpro erkälten!«

Mona lacht. »Danke, Unke!« Sie schmatzt mir einen dicken Kuss auf die Wange. »Ist doch nur das kurze Stück. Aber lieb, dass du dich immer so rührend um mich sorgst. Wenn ich dich nicht hätte, würde ich manchmal sogar ganz ohne Schuhe aus dem Haus gehen.«

Ja, ohne Schuhe vielleicht – aber niemals ohne HANDTASCHE!

»Und wenn es nachher regnet?«

»Dann surfe ich eben auf den Pfützen, macht bestimmt Spaß. Außerdem wird es nicht regnen!«

»Die Wettervorhersage hat aber ... «

Weiter komme ich nicht, denn hinter Mona fällt die Tür ins Schloss, und ich bleibe allein mit meinen Gedanken.

Und weil ich gerade nichts anderes zu tun habe, schnappe ich mir die Life-Style, überfliege das Inhaltsverzeichnis und schüttle resigniert den Kopf. So einen Mist braucht doch kein Mensch. Wen interessiert es, ob Heidi Klum die tausendste Prada-Tasche gekauft hat? Wen bringt es weiter, wenn er weiß, dass Jennifer Aniston morgens um vier aufsteht und drei Stunden Sport macht, bevor sie zum Dreh fährt? Und dann natürlich das übliche Blabla: Ich sehe noch so gut aus, weil ich gute Gene habe, viel schlafe und ganz viel Wasser trinke (Hannelore Elsner).

Schließlich entdecke ich einen Psychotest, der mich darüber aufklären will, ob ich in die Kategorie »Pessimist oder Optimist« gehöre. Zehn Minuten später ist es amtlich: Ich bin Pessimistin. Ich habe nahezu sämtliche Fragen mit ja beantwortet. Fragen wie:

Sagen Sie häufig »Ich habe es geahnt«, wenn etwas Schlimmes passiert?

Denken Sie häufig »Das ist zu schön, um wahr zu sein«?

Empfinden Sie Ihre Umwelt zuweilen als erschreckend naiv?

Ist das Glas für Sie eher halb leer anstatt halb voll?

Um die Ursache für meine Negativität herauszubekommen, brauche ich keinen Psychologen. Hier spielt meine frühkindliche Prägung eine zentrale Rolle. Und alles begann mit meiner Geburt.

»Hey, ich bin zuerst dran!«, hätte ich damals mit Sicherheit protestiert, wenn ich schon hätte sprechen können.

Doch ich musste vor fast neunzehn Jahren hilflos mit ansehen, wie meine Zwillingsschwester vor mir das Licht der Welt erblickte und – zack – in den weichen Armen meiner Mutter lag, obwohl ich eindeutig näher am Geburtskanal gewesen war.

Ich folgte zwar in kurzem Abstand, aber dieser winzige Moment genügte offenbar, um enorme Weichen für mein späteres Leben zu stellen.

Natürlich will ich die Wirkung von Sternzeichen jetzt nicht überbewerten, aber man kann mit Fug und Recht sagen, dass ich es der Laune einer Ärztin zu verdanken habe, dass ich im Tierkreiszeichen des Skorpions geboren bin und Amelie in dem der Waage.

Skorpione – das muss man wissen – sind nicht nur für ihre Umwelt schwer zu ertragen, sondern leider auch für sich selbst. Im Gegensatz zur ausgeglichenen Waage.

Abgesehen von der Bürde dieses Tierkreiszeichens ist es auch kein besonders schönes Gefühl zu glauben, dass womöglich alles anders gekommen wäre, wenn nicht Doktor Carla Liebmilch sich beim Kaiserschnitt anders entschieden und mich vor Amelie ans Tageslicht befördert hätte.

KAPITEL 2
Her mit den Keksen! – Oder: Die Sache mit Leibniz

»Bin wieder da!«, flötet Mona mit noch besserer Laune als vorher und stellt ihre Einkäufe auf den Küchentisch. »Draußen scheint übrigens immer noch die Sonne, und es ist richtig warm! Hast du Lust, heute Abend in die Strandperle zu gehen?« Die Strandperle ist eine kleine Kneipe an der Elbe, wo man mit kaltem Bier oder Cola und Fischbrötchen im Sand sitzen und den vorbeifahrenden Containerschiffen zuschauen kann.

Ich nuschle ein undifferenziertes »Weißichjetztauchnich« und starre auf den Psychotest, während Mona trällernd ihre Einkäufe auspackt. Ausnahmsweise war sie wohl im Supermarkt statt in Boutiquen.

»Danke fürs Besorgen«, sage ich mit einem Nicken Richtung Einkaufstüte.

»Gern geschehen«, antwortet sie und verstaut die Lebensmittel zusammen mit der Nutella im Kühlschrank.

Das Telefon klingelt, und ich glotze dumpf vor mich hin, während Mona mit ihrem Freund Richy turtelt und sich mit ihm für einen Trip an die Elbe verabredet.

Ich nehme die Nutella wieder aus dem Kühlschrank (sonst ist sie genauso ungenießbar wie ich) und starre aus dem Fenster.

Und was mache ihr heute Abend›

Im Fernsehen gibt es sicher nur Mist, mein Blog ist fertig, und mir fällt niemand ein, den ich gern treffen würde.

Außer vielleicht Amelie, aber die ist gerade in Kalifornien und will Karriere beim Film machen.

»Ich halte das Genöle in Deutschland nicht mehr aus!«, hatte sie genervt gesagt und schwuppdiwupp einen Flug nach L.A. gebucht. Jetzt macht sie ein Praktikum bei einer Filmproduktion in der Stadt der Engel und hat jede Menge Spaß. Spaß. Spaß.

»Also, was ist? Kommst du jetzt mit oder nicht?«, ertönt es aus dem Badezimmer, das Mona gerade mit Jil Sander Sun vernebelt.

Mit diesem Duft läutet sie jedes Jahr den Sommer ein, was ich in diesem Fall eindeutig verfrüht finde. Man muss ja nicht gleich ausflippen, nur weil die Sonne mal kurz vorbeischaut.

»Nein danke, fahrt lieber allein«, antworte ich, obwohl ich immer noch nicht weiß, was ich machen soll. »Ich wünsch euch aber viel Spaß, grüß Richy von mir.«

Mona trollt sich ohne weiteren Kommentar in Richtung ihres Zimmers mit den bonbonrosafarbenen Wänden, die ich zum Würgen finde. In meinem Zimmer dominieren Erd- und Anthrazit-Töne.

Um mir die Zeit zu vertreiben, recherchiere ich den Begriff Optimismus im Netz.

Schaut man bei Wikipedia nach, steht dazu Folgendes: Optimismus ist der Glaube, dass alles ein gutes Ende findet. Ein wichtiger Vertreter dieser Theorie ist Gottfried Wilhelm Leibniz, der der Ansicht war, dass Gott in seiner Allmacht und Güte die beste aller denkbaren Welten geschaffen hat.

Sorry, lieber Herr Leibniz, aber ich muss Ihnen entschieden widersprechen.

Erstens glaube ich weder an Gott noch an den Weihnachtsmann, den Osterhasen oder den Yeti. Und zweitens frage ich mich, was wohl Menschen, denen es nicht gutgeht, von Ihrer Theorie halten.

Apropos Leibniz: Ich habe Appetit auf was Süßes. Während ich einen Butterkeks einer genauen Betrachtung unterziehe und nachzähle, ob er wirklich zweiundfünfzig Zacken hat, denke ich darüber nach, welche Vorteile es hat, Pessimistin beziehungsweise Negativistin zu sein.

Für mein Schreiben ist es auf alle Fälle super.

Mein Talent, Schwachstellen aufzuspüren, befähigt mich, messerscharfe Verrisse zu formulieren: In meinem Blog lasse ich mich zur Freude meiner Fans hemmungslos böse über Bücher, Filme, Ausstellungen oder Konzerte aus. Ich bin eben eine Freundin klarer Worte! Wenn ich etwas oder jemanden nicht mag, dann sage ich es unmissverständlich und geradeheraus. Und dann ist Schluss mit lustig!

Das Klingeln des Telefons unterbricht meinen schönen Gedankenfluss.

»Kannst du rangehen?«, bittet Mona, deren Aufbrezelaktion bereits gefühlte zehn Stunden dauert.

Am Telefon ist Sören, mein Ex-Freund. Oder vielmehr Ex-Affäre, denn zu einer wirklichen Beziehung habe ich es in weiser Voraussicht erst gar nicht kommen lassen. »Hi, July, na, wie geht's? Ich wollte fragen, ob du Lust hast, mit mir ins Uebel & Gefährlich zu gehen. Heute spielt Apocalyptica, das ist doch was für dich, oder?«

Ich überlege. Habe ich wirklich Lust, den Abend mit einem Typen zu verbringen, den ich aus guten Gründen aus meinem Leben gekickt habe?

»Nö, danke! Hab heute echt keine Lust wegzugehen«, antworte ich knapp, aber bestimmt. Jetzt bin ich mal gespannt, was Sören sagt, um mich umzustimmen.

Er sagt: »Da kann man dann wohl nichts machen.«

Ich bin beleidigt.

Was ist denn mit dem los?

Bin ich es nicht mehr wert, dass er um eine Verabredung mit mir kämpft? Wahrscheinlich bin ich sowieso nur eine Ersatzspielerin für irgendeine Tussi, die ihn hat hängenlassen.

»Ja, genau. Bis bald mal«, antworte ich so cool wie möglich. Dann lege ich auf, ohne abzuwarten, ob Sören noch etwas sagt. Das wäre dann auch erledigt.

Ich lasse die drei Monate Revue passieren, in denen ich mit ihm zusammen war. Kennengelernt haben wir uns bei einem Konzert von Tocotronic, anlässlich der Release-Party der CD Kapitulation. Sören jobbt bei einer Plattenfirma und schreibt nebenher Konzertkritiken.

Anfangs war ich hin und weg von ihm, seinen dunkelgrünen Augen, dem hintergründigen Humor, der ewig guten Laune. Doch dann merkte ich, dass auch andere Mädels anfällig für seinen Charme waren, und ging in die Offensive.

Ich machte Schluss, bevor er es wegen irgendeiner Tante tat, die tollere Haare und eine bessere Figur hatte – oder einfach nur besser gelaunt war.

Wir Skorpione dulden nämlich keine Nebenbuhlerinnen und neigen zu Eifersucht und Misstrauen. Außerdem sind wir extrem bindungsunfähig.

Anfangs kam Sören ganz gut mit meinen Macken klar, er empfand sie sogar als Herausforderung. Später legten sich seine Begeisterung und sein Verständnis für meine Schwächen etwas, und bevor sie gänzlich drohten zu verschwinden, verschwand ich lieber.

»Wer war das?«, fragt Mona, die endlich fertig ist und mal wieder total klasse aussieht, wie ich neidfrei zugeben muss.

»Och, das war nur Sören«, murmle ich und versuche zu tun, als sei nichts. »Er wollte heute Abend mit mir ins Uebel & Gefährlich ... «

Mona mag Sören und findet es bis heute unverständlich, dass ich ihn in die Wüste geschickt habe.

»Und du willst nicht mit«, konstatiert sie und fixiert mich mit ihren veilchenblauen Augen, die dramatisch mit lila Lidschatten und schwarzem Kajal ummalt sind. »Okay, dazu sage ich jetzt nichts mehr. Du weißt, wie ich darüber denke.«

Ja, ich weiß.

Ginge es nach ihr, stünden Sören und ich morgen schon in einer Kirche, um ergriffen »Ja, ich will« zu hauchen, ungeachtet der Tatsache, dass in Deutschland mittlerweile jede zweite Ehe geschieden wird. Und dass ich erst seit einem halben Jahr volljährig bin.

»Dann verrat mir mal, was du stattdessen machen willst. Hier herumsitzen und Trübsal blasen?«

Schlechte Laune, gepaart mit Zweifeln, kriecht in mir hoch. Warum muss sich samstags eigentlich alle Welt in irgendwelche Aktivitäten stürzen, als gäbe es kein Morgen mehr?

Andererseits sollte ich vielleicht wirklich lieber ausgehen, anstatt hier dumm herumzuhocken und die Wände anzustarren.

Zumal Mona die Küche vor kurzem in ihrem Farbenwahn auch noch pistaziengrün gestrichen hat ...

»Vielleicht gehe ich nachher noch ins Kino. Im Abaton läuft eine Wiederholung von Schmetterling & Taucherglocke in der Spätvorstellung.«

Mona ist schockiert: »Du willst dir an einem schönen Sommerabend allen Ernstes einen Film über einen Mann ansehen, der nach einem Schlaganfall gelähmt, taub und blind ist?«, fragt sie mit blankem Entsetzen im Gesicht.

»Ja, genau das will ich!«, antworte ich trotzig. So, wie Mona den Film schildert, klingt es in der Tat ein wenig heftig; sogar für meine Verhältnisse.

Aber das kann ich jetzt natürlich unmöglich zugeben.

»Na gut, wenn dich das glücklich macht. Aber pass auf dem Heimweg auf!«

Ich wünsche Mona einen schönen Abend und gebe ihr einen Abschiedskuss.

Ihre Warnung finde ich allerdings etwas übertrieben.

Was soll mir groß passieren?

Ich werde schon nicht gleich dem radfahrenden Irren von der Titelseite der Morgenpost in die Hände fallen.

Man muss ja nicht immer gleich vom Schlimmsten ausgehen!

***

Um ein Uhr morgens weiß ich, dass ich besser auf Mona gehört und mir ein Taxi genommen hätte, anstatt zu Fuß zu gehen.

Denn wie gesagt: Das Grauen schlägt immer dann zu, wenn man es am allerwenigsten erwartet ...

KAPITEL 3
Amnestie, Amnesie, Ameisen

»Können Sie mir sagen, wie viele Finger das sind?«, vernehme ich eine männliche Stimme wie durch Watte und sehe verschwommen etwas, das nach menschlichem Ermessen eine Hand sein könnte. Mein Kopf fühlt sich an, als würde er jeden Moment explodieren. Meine Arme erwecken den Eindruck, als würden Ameisen auf ihnen Pogo tanzen.

»Mhhhm«, nuschle ich. Mein Mund ist trocken wie die Sahara, und ich habe Mühe, meine Lippen zu bewegen.

Was um Himmels willen ist los mit mir?

Ich versuche, mich aufzurichten, merke aber schnell, dass das keine gute Idee ist. Mein Nacken scheint die letzten Tage in einem Schraubstock gesteckt zu haben.

»Süße, du bist im Krankenhaus, weil du einen Unfall hattest«, klärt eine Frau mich auf, von der ich annehme, dass sie meine beste Freundin Mona ist. Sie steht am Rande meines Bettes, zusammen mit einem Herrn in blütenweißem Kittel. Oder vielmehr zwei Herren, die einander ziemlich ähnlich sehen.

Sind das etwa Zwillinge?

Ich kichere, zumindest, soweit ich dazu imstande bin. Mona und die beiden Ärzte sehen einander an.

»Geht's dir gut?«, fragt meine Freundin und streichelt liebevoll meine Stirn. »Deine Mutter kommt übrigens auch gleich, sie macht sich furchtbare Sorgen um dich.« Ach, wie lieb, wie tröstlich, wie wunderbar!

Mona ist hier, zwei freundlich lächelnde Ärzte, meine Mutter ist auf dem Weg. Ich bin gerührt von so viel Liebe und Zuwendung.

»Was war das denn für ein Unfall?«, will ich wissen, nachdem Mona mir ein Glas Wasser gereicht hat.

Sie antwortet nicht gleich, sondern wechselt einen Blick mit den Herren. Beide nicken.

»Okay, also gut ... «, beginnt sie stotternd. »Du hast eins mit der Flasche auf den Kopf bekommen.«

»Mit der Flasche?! Mit welcher Flasche?«

»Du kamst aus dem Kino, und Ecke Grindelallee hat es dich dann erwischt. Ein Passant hat dich auf dem Boden liegend gefunden und sofort den Krankenwagen gerufen. Die Polizei vermutet, dass du dem Typen in die Hände gefallen bist, der in den vergangenen Wochen in der Uni-Gegend mehrere Passanten attackiert hat. Du weißt schon, der Typ aus der Zeitung!«

Zeitung?!

Ah, ich erinnere mich dumpf und dunkel.

Ein Polizeipsychologe hatte gemutmaßt, dass der Täter durch die Schlagattacken seinen aufgestauten Frust kompensiert.

Der arme Mann hatte bestimmt eine schlimme Kindheit und müsste dringend zum Analytiker, um sie verarbeiten zu können, denke ich mitleidig.

Irgendwie bin ich ihm gar nicht böse.

Aber warum auch? Scheint ja nichts weiter passiert zu sein. Ich liege hier unter duftigen, kuscheligen Decken, und man kümmert sich rührend um mich. Was will ich mehr?

»Können Sie mir sagen, wie Sie heißen?«, fragt einer der beiden Ärzte. Seltsamerweise sagt sein Zwillingskollege dies synchron.

»Und Sie sind?«, frage ich keck. Ich glaube, die beiden wollen mit mir flirten, wie nett!

»Ich bin Doktor Tobias Merten«, stellt er sich vor.

Sein Bruder sagt dasselbe.

Merkwürdig!

»Können Sie mir sagen, welchen Wochentag wir heute haben? Oder noch besser: das genaue Datum?«

Ich richte mich auf, um meinen Kalender aus der Handtasche zu nehmen. Ich würde Tobias Merten furchtbar gern helfen. Er scheint nämlich sympathisch zu sein! Und er hat so schöne Augen! Vielleicht kann ich bei der Gelegenheit auch gleich einen Blick auf meinen Personalausweis werfen, denn dummerweise ist mir gerade mein Name entfallen. Ich habe wohl zu viel geschlafen. Wer entspannt ist, neigt durchaus dazu, mal etwas zu vergessen, das ist bekannt.

»Haben Sie Kopfschmerzen?«, fragt der Arzt weiter. Sein Kollege ist auf einmal verschwunden, vielleicht musste er zu einem Notfall.

Meine Hand greift auf der Suche nach der Tasche ins Leere.

Nanu?

»Ist Ihnen schwindelig? Oder übel?«, bohrt der Doc weiter.

So viele Fragen auf einmal, denke ich und lasse mich erschöpft ins Kissen fallen. Ich bin sooo müde ...

Weit entfernt, wie in einem Traum, höre ich Mona und Tobias Merten flüstern. Dabei fallen Wort wie partielle Amnesie, schwere Gehirnerschütterung, vierundzwanzig Stunden zur Beobachtung und keine Sorgen machen.

Ich beschließe, mir vorerst mal keinen Kopf zu machen, denn ebendieser scheint ja gerade etwas in Mitleidenschaft gezogen zu sein. Also sollte ich ihn schonen und mich ein wenig ausruhen. Und wenn ich wieder wach bin, kann Mona mir bestimmt sagen, wo meine Handtasche ist. Oder – was mir fast noch lieber wäre – wie ich heiße ...

***

Als ich aufwache, sitzt meine Mutter am Bettrand. »Kind, was machst du nur für Sachen?«, fragt sie, und ich frage mich, weshalb sie so besorgt aussieht.

Ist doch alles gut.

»Wieso hast du denn nicht auf Mona gehört? Du bist doch sonst immer so vorsichtig?!«, jammert sie mit sorgenzerfurchter Stirn.

Ich streichle ihre Hand, die blass wie ihr Gesicht auf der Bettdecke liegt. Vermutlich denkt sie gerade daran, dass Papa kurz nach meiner Geburt gestorben ist ...

»Man kann sich doch nicht vor allem schützen, Mama. Wenn es danach ginge, dürfte ich keinen Schritt mehr aus dem Haus machen!«

Meine Mutter und Mona wechseln Blicke, deren Bedeutung ich mir nicht erklären kann. Wieso gucken die beiden, als sei ich ein Alien mit grünen Haaren und lila Kopftuch?

»Ja, äh, Liebes, da hast du wohl recht«, antwortet meine Mom und räuspert sich. »Zum Glück scheint alles gutgegangen zu sein. Gleich kommt Doktor Merten nochmal, und wenn du seine Fragen beantwortet hast, darfst du nach Hause.«

Genau in diesem Moment öffnet sich die Tür, und ich sehe, dass mein Doc nicht nur wunderschöne braune Augen hat, sondern auch das süßeste Lächeln der Welt. Hach!

»Und?«, fragt er strahlend. »Können Sie mir jetzt sagen, wie Sie heißen?«

»July-Sadie Wonnemeyer«, entströmt der Name problemlos meinen Lippen. Auch ich bin erleichtert.

Weil mir mein Name wieder eingefallen ist und weil er so schön ist. Und so originell.

Der Doc guckt irritiert, aber daran bin ich gewöhnt.

Nicht jeder mag meinen Namen.

Nachdem ich einige Formulare ausgefüllt habe und mein Blutdruckwert ein Lächeln auf das Gesicht der Krankenschwester gezaubert hat, verabschiede ich mich von Doktor Tobias Merten.

In amerikanischen Filmen wird man an dieser Stelle in einen Rollstuhl gesetzt und nach draußen gebracht, was aber in Deutschland nicht üblich zu sein scheint.

Dafür schickt mir Doc Merten einen langen Blick hinterher, wie ich feststelle, als ich mich noch zweimal nach ihm umdrehe. Dafür verzichte ich doch gern auf den Eskort-Service!

Schade, dass mein Aufenthalt hier nur so kurz war, ich hätte ihn gern näher kennengelernt. Ihn und seinen Bruder.

***

»So, da wären wir«, sagt meine Mutter betont gut gelaunt, als wir zu Hause sind.

Irre ich mich, oder spricht sie einen Tick lauter als sonst? Auf dem Küchentisch steht ein Strauß Kornblumen, die mir ihre blauen Köpfchen entgegenrecken. Wie schön!

»Willst du dich gleich hinlegen, Liebes, oder wollen wir Tee trinken?«, ertönt es, erneut eine Spur zu laut für meinen Geschmack.

»Mama, ich hatte eine Gehirnerschütterung, keinen Hörsturz«, amüsiere ich mich darüber, dass meine Mutter komplett aus dem Häuschen ist.

Mona sortiert Briefe, die sie gerade aus dem Postkasten gefischt hat, und liest mit gerunzelter Stirn die Absenderadressen. Ich setze währenddessen Teewasser auf und schiebe meiner Mutter demonstrativ einen Stuhl hin. Schließlich ist sie unser Gast und darf sich als solcher ruhig von mir verwöhnen lassen.

»Etwas Wichtiges?«, frage ich, weil Mona irgendwie gestresst aussieht.

»Nööööö, nix!«, antwortet sie, und ich könnte schwören, dass sie einen der Briefe hinter ihrem Rücken versteckt.

»Los, gib schon her«, fordere ich und schnappe mir den Umschlag, dessen Absender BrillantArt ist.

»Willst du nicht erst einmal in Ruhe hier ankommen?«, fragt meine Mom, aber ich finde mich ziemlich ruhig.

Ich öffne den Brief mit einem Küchenmesser und überfliege den Inhalt. Er ist blumig formuliert, stammt von Verlagsleiter Markus Quante persönlich und informiert mich über den Verkauf des Magazins an ein Münchner Unternehmen. Ganz so, wie es seine Assistentin Emilia prognostiziert hat.

Der letzte Satz vor der krakeligen Unterschrift des Big Boss lautet: Für Ihren weiteren beruflichen Werdegang wünschen wir Ihnen alles Gute!

Okay, mein Auftraggeber ist ab sofort mein Ex-Auftraggeber, wenn ich diese Zeilen richtig interpretiere.

»Aha!«, ist alles, was ich momentan dazu zu sagen habe.

Mona und meine Mutter starren mich an, als wüsste ich die Antwort auf die Frage, warum Gott keine Frau ist.

»BrillantArt wurde verkauft und benötigt meine Rezensionen ab sofort nicht mehr. Die neue Programmstrategie lautet Promis, Pailletten und Prosecco. Und offensichtlich glaubt Markus Quante nicht, dass ich mich dazu hinreißen lasse«, informiere ich die beiden.

»Aber du hast doch dieses nachtblaue Paillettentop im Schrank, das ich dir zu Weihnachten geschenkt habe. Dann zieh doch das an, anstelle deiner ewigen schwarzen Rollis, Schatz«, schlägt Mom vor.

Mona grinst.

Doch anstatt meine Mutter darüber aufzuklären, dass es hier weniger um die Frage der richtigen Berufskleidung als um eine Frage der Ehre geht, gebe ich ihr einen Kuss und umarme sie.

»Nun mach dir mal keine Sorgen. BrillantArt ist schließlich nicht der einzige Verlag in Hamburg. Auf diese Weise habe ich endlich mal die Chance, für alle anderen Magazine zu schreiben, denen ich bislang aus Zeitmangel absagen musste. Außerdem habe ich jede Menge mit meinem Blog zu tun. Keine Angst, ich komme nicht unter die Räder. Irgendwie geht es doch immer weiter! Apropos Prosecco: Ich finde, wir sollten darauf anstoßen, dass für mich ab sofort ein neuer Lebensabschnitt beginnt. Heute lassen wir es uns richtig gutgehen, und morgen telefoniere ich mal ein wenig herum.«

Mona und meine Mutter schweigen.

Komisch, ist doch sonst gar nicht ihre Art.

Wahrscheinlich stehen sie immer noch unter Schock, weil ich im Krankenhaus war.

Ich öffne mit einem lauten Plopp eine Flasche Sekt, die ich im hinteren Teil des Kühlschranks gefunden habe, und hole zur Feier des Tages die guten Gläser aus der Vitrine. »Auf uns und auf die Zukunft!«, gebe ich launig in die Runde und proste Mom und Mona zu. Beide lächeln.

Während der Alkohol seine angenehm prickelnde Wirkung entfaltet und wohlig in meinem Bauch schäumt, fühle ich mich so gut wie schon lange nicht mehr. Und das kommt nicht nur vom Sekt.

Ich fühle mich auf einmal seltsam befreit.

Als hätte mir jemand einen zentnerschweren Rucksack von den Schultern genommen, den ich seit Jahren mit mir herumschleppe.

Ja, ich fühle mich wie eine Strafgefangene, die nach Jahren der Kerkerhaft in einem dunklen Verlies endlich ans Tageslicht tritt und in die Sonne blinzelt.

Natürlich ist das helle Licht zunächst einmal ungewohnt, und man wünscht sich unwillkürlich eine Brille herbei – gern auch in Bonbonrosa –, aber die Helligkeit und die Wärme tun gut!

Mir schießt durch den Kopf, wie ich im Krankenhaus aufgewacht bin und plötzlich meinen Namen vergessen hatte.

Jetzt erscheint es mir fast so, als hätte diese kurzfristige Amnesie zu einer Amnestie geführt.

Zum Straferlass eines Daseins im Dunkel der Negativität.

Jetzt bleibt nur noch zu hoffen, dass diese Amnestie langlebigerer Natur ist als meine Amnesie.

Aber was das betrifft, bin ich eigentlich ganz optimistisch!

KAPITEL 4
Irgendwie anders

Am nächsten Morgen erwache ich erstaunlich frisch und ausgeruht. Kann es sein, dass ich weder schlecht geträumt habe noch gefühlte zehn Mal wach geworden bin?

Ich gehe in die Küche, um mir dort wie jeden Tag meinen Morning-Booster zu holen.

Da Mona zum biorhythmischen Typ »Früher Vogel« gehört, haben wir diesbezüglich, seit wir zusammenwohnen, ein Abkommen: Sie kocht nach dem Aufstehen eine Kanne Kaffee, und ich trinke mindestens die Hälfte davon in meinem Bett.

Hektik am frühen Morgen ist mir zuwider. Deshalb pinnt an meinem Laptop auch ein Sticker mit folgendem Text: Der frühe Vogel kann mich mal!

Doch irgendetwas ist heute anders, das spüre ich genau, als ich den Raum betrete.

Was hatte ich eigentlich immer gegen die pistaziengrünen Wände? Die sehen doch aus wie Softeis.

Ich schnappe mir den schwarzen Zaubertrank und habe erstaunlicherweise überhaupt kein Bedürfnis, mich wieder hinzulegen.

Diesmal werde ich den Kaffee in der Küche trinken, jawohl. Im Brotkorb liegen frische Brötchen, daneben ein Zettel von Mona:

Liebe July,

ich hoffe, es geht dir gut und du bist wieder ganz gesund.. Lass es heute ruhig angehen! Doktor Merten hat gesagt, du sollst dich diese Woche schonen . Mach dir einen schönen Tag und ruf wach. an, wenn etwas ist. Bin gegen sieben zu Hause und bringe Sushi von BOK mit.

Küsschen

Mona

Sushi, wie lecker! Und wie lieb von Mona, mich so zu verwöhnen.

Nachdem ich mir einen Teller geschnappt habe (die Totenkopf-Motive auf meinem Brettchen sind mir heute echt zu krass), schaue ich aus dem Fenster. Dicke Regentropfen klatschen gegen die Scheibe. Der Himmel trägt Grau.

Macht nichts, vielleicht schaut die Sonne ja heute einfach später vorbei, denke ich und schalte das Radio ein.

Wie üblich erzählt ein gutgelauntes Moderatoren-Duo Witze und versucht, seine Hörer daran zu hindern, wieder einzuschlafen. »Was ist weiß und steht hinter einem Baum?«, fragt Annemarie gerade, und ich denke fieberhaft nach.

Ein Schimmel? Ein Schneemann? Hui-Buh, das Schlossgespenst?

Ihr Kollege Volkmar weiß es übrigens auch nicht.

»Schüchterne Milch«, klärt Annemarie das Mirakel auf und lacht sich schier kaputt. Was soll's, die machen ja auch nur ihren Job!, denke ich und bestreiche ein Mohn-Brötchen mit Butter.

Und was mache ich heute? Ich könnte spazieren gehen, Musik hören, mich in die Wanne legen, Ma anrufen, Mona zum Mittagessen einladen.

Montags und donnerstags jobbt sie bei La Paloma, einer Boutique im Schanzenviertel, nur zehn Minuten mit dem Fahrrad von uns entfernt.

Doch zuerst werde ich meine Mails checken und schauen, wie viele Klicks ich auf meinem Blog habe.

Im Postfach stapeln sich dreizehn Nachrichten.

Schluck! Wann soll ich die denn alle beantworten?

Nach Lektüre von Mail eins bis acht ist sonnenklar, dass sich die Nachricht von meinem Rausschmiss bei BrillantArt bereits herumgesprochen hat.

Ich habe Anfragen von verschiedenen Redaktionen, die mich bitten, über das Hamburger Casting von X-Factor zu schreiben, die eine oder andere Theaterkritik, Pressetexte fürs Hamburger Filmfest und die Berichterstattung zu diversen sommerlichen Kultur-Events.

Na bitte, sagte ich's doch!

Obwohl ich eine der Jüngsten in diesem Business bin, stimmt mein Marktwert, und ich muss mir erst einmal keine Sorgen darüber machen, womit ich die Miete bezahle.

Die restlichen Mails stammen von Kollegen, die schreiben, wie leid es ihnen tut, dass BrillantArt verkauft wurde.

Früher hätte ich gedacht: »Alles Ratten!«

Heute denke ich: Das ist aber lieb! Vielleicht sollte ich mich mit dem einen oder anderen zum Kaffeeplausch treffen und ein bisschen netzwerken?

Mein Blog verzeichnet an diesem Montag einen totalen Follower-Rekord! Mit 461 919 Klicks rangiere ich in den Top Ten von www.bloggeritis.com, dem Portal für alle Tagebuchschreiber im Internet.

Ich freue mich, stelle dann aber siedend heiß fest, dass ich ihnen das Blog von Sonntag schuldig geblieben bin.

Ups. Vielleicht sollte ich besser erst einmal schreiben, als Mona zum Essen auszuführen.

Als ich mich in www.sadSadie.com einlogge, finde ich als Erstes einen Kommentar meines Softwarearchitekten Tom, genannt CoolCat. Er schreibt: Ey, Sadie. Was los? Ruok?

Ich schreibe: Sorry, war im Krankenhaus. Hole das Blog heute nach, versprochen!

Darauf CoolCat: DIJG! CU! (Kleine Übersetzungshilfe für Nicht-Eingeweihte: Dann ist ja gut! See you!)

Das mit »See you« ist nur so 'n Spruch. CoolCat und ich sehen uns nämlich nie. Tom hockt in irgendeinem Kaff bei Bergisch Gladbach und versteckt sich hinter seinem Rechner.

In der Rubrik »Über uns« ist er auf dem Foto nur von hinten zu sehen. Genau genommen sieht man noch nicht einmal ihn, sondern nur den Aufdruck seines T-Shirts mit folgendem Satz: Ist das Kunst oder kann das weg?

Ja, so ist CoolCat. Cool bis in die Bartspitzen und megageheimnisvoll. Vermutlich weiß er nicht mal selbst, wie er aussieht, weil er als PC-Nerd sowieso fast nur nachts arbeitet.

Aber zurück zum Blog.

Normalerweise würde ich mir jetzt eines der Bücher aus dem Stapel herauspicken und es bewerten. Oder über Schmetterling & Taucherglocke schreiben, denn immerhin war das ja der letzte Film, den ich vor dem Überfall gesehen habe.

Aber irgendwie ist mir das Thema für heute zu düster; auch wenn ich den Film genial fand.

Dann doch lieber eine Buch-Rezension.

Ich wühle mich durch die erste Hälfte der Bücher mit hellblauem Hintergrund und weißer Schrift. Sie alle sind einem irischen Bestseller nachempfunden. Der Rest ist ein Traum in Hellrosa und trägt vorzugsweise die Worte »Kuss« oder »Liebe« im Titel.

Bis vorgestern hätte ich nicht eines davon auch nur ansatzweise in meine Nähe gelassen, aber heute bin ich experimentierfreudig: Ich greife nach dem Buch Wo auch immer die Liebe dich hinträgt.

Normalerweise lese ich von Romanen dieses Genres die ersten fünf Seiten diagonal, überfliege den Mittelteil und arbeite mich dann zum unvermeidlichen Happy End durch. Das genügte mir bislang als Grundlage dafür, meine Leser zu warnen.

Doch heute verspüre ich den Wunsch, genauer zu wissen, was passiert.

Plötzlich muss ich an Sören denken. Und daran, wie brüsk ich ihn am Samstag abgefertigt habe.

Ob ich ihn mal anrufen sollte?

Bevor ich jedoch Pro und Contra eines solchen Anrufes abwäge, lese ich weiter. Vielleicht eignet sich das Buch als Tipp des Tages für mein Blog?!

Während ich in der Geschichte schwelge, klingelt das Telefon. Es ist Mona, die wissen möchte, ob es bei unserem Abendessen bleibt. Verwundert schaue ich auf die Uhr. Ist es wirklich schon kurz nach sechs?

Ich bin schockiert. Dieses Buch hat mir einen kompletten Arbeitstag geklaut. Und es fehlen noch zehn Seiten, bis ich endlich weiß, ob das Liebespaar eine gemeinsame Zukunft hat.

Kurz vor sieben liegen sich die beiden in den Armen.

Ich wische eine Träne der Rührung aus meinem rechten Auge, und es beschleicht mich das ungute Gefühl, dass es ein großer Fehler war, mit Sören Schluss gemacht zu haben.

Weshalb hatte ich ihn eigentlich abserviert?

Er hat mich weder belogen noch betrogen, noch war er gemein zu mir oder Ähnliches.

Genau genommen hatten wir immer viel Spaß zusammen.

Und genau genommen haben wir auch gut zusammengepasst.

Wir schreiben beide, haben einen ähnlichen Blick auf die Dinge, und wir brauchen beide unsere Freiheit wie die Luft zum Atmen. Außerdem ist Sören verdammt attraktiv!

Wie von Zauberhand geleitet, finde ich mich plötzlich vor dem Telefon wieder.

Als Sörens Anrufbeantworter-Stimme erklingt, sind meine Knie weich wie Johannisbeergelee.

Aber da muss ich jetzt durch.

»Hier ist July«, verkünde ich fröhlich. »Ich wollte mal hören, wie das Konzert war. Meld dich, wenn du magst. Ciao!«

Wie in Trance drücke ich den Aus-Knopf, und schon steht Mona vor mir, eine Tüte Sushi in der rechten, eine Tüte von La Paloma in der linken Hand.

Sie lässt beides fallen, als sie mich sieht. »Um Himmels willen, July, du bist ja leichenblass! Ist irgendetwas passiert? Geht's dir nicht gut? Soll ich Doktor Merten anrufen?«

Ich murmle: »Nein, schon gut, mit mir ist alles fein!«

Und dann wird mir schwindelig ...

KAPITEL 5
Er steht einfach nicht auf dich

Zwei Dosen Cola und zehn Maki-Röllchen später geht es mir wieder gut.

Mona blättert durch das Buch, betrachtet erst das Cover – und dann mich. »Wegen dieses Romans hast du vergessen, zu essen und zu trinken?«, fragt sie fassungslos.

Ich nicke ein wenig beschämt. »Aber es kommt noch schlimmer ...«

»Du hast beschlossen, ab sofort selbst so etwas zu schreiben?«, haucht sie ergriffen.

Doch ich will gar nicht über meinen Beruf sprechen, sondern über Sören.

Ich erzähle Mona, dass ich es bereue, mit ihm Schluss gemacht zu haben.

»Wow! Dieser Unfall scheint ja eine – 'tschuldigung, wenn ich das jetzt so sage – tolle Wirkung auf dich zu haben. Du bist mit einem Mal so unglaublich positiv.« Den letzten Teil des Satzes fiept Mona wie ein Meerschweinchen.

Das tut sie immer, wenn sie sich freut.

»Mit einem Schlag, um genau zu sein«, kichere ich und fühle mich wunderbar. Vor mir liegt eine grandiose Zeit, ich fühle es genau. Ich werde wieder mit Sören zusammen sein, ich schreibe endlich auch für andere Magazine, mein Blog ist in den Top Ten, und meinen ersehnten Studienplatz in Literaturwissenschaften bekomme ich sicher auch bald.

»Dann bin ich ja mal gespannt, wie Sören reagiert«, sinniert Mona und betrachtet ihre orange lackierten Fingernägel.

Eine ungewöhnliche Farbe für Nägel, aber sie kann's tragen.

»Wieso gespannt?«, frage ich irritiert. »Was soll denn schon groß passieren? Er wird zurückrufen, und dann unternehmen wir irgendwas zusammen. Ich freu mich schon. Es gibt da nur noch ein klitzekleines Problem ... «

»Aha«, sagt Mona. »Wusste ich's doch. Ich hatte mich schon gewundert, dass auf einmal alles glattläuft. Also, was gibt's? Irgendwas, wobei ich dir helfen kann?«

»Ja, in der Tat. Etwas, wobei nur du mir helfen kannst, Süße. Ich brauche nämlich ein atemberaubendes Outfit für mein Date mit Sören.«

»Was ist denn mit deinen heißgeliebten schwarzen Rollis?«, fragt sie mit unschuldigem Augenaufschlag.

»Zu warm«, antworte ich.

»Aber du hast doch auch welche mit kurzen Ärmeln!«

»Haha, sehr witzig! Also hilfst du mir jetzt, oder nicht?«

Mona springt auf und tanzt durch die Küche. Dann streckt sie ihre Hände gen Himmel und ruft: »Danke, lieber Gott, es ist ein Wunder geschehen. July ist endlich eine von uns!«

»Vielleicht solltest du lieber auf die Schauspielschule, anstatt künftig unschuldige kleine Kinder mit deinem Popstars- und Next-Top-Model-Wissen zu quälen«, schlage ich vor. »Apropos: Wann läuft der Kram denn eigentlich?«

»Der Kram läuft immer donnerstags, wie du allmählich wissen solltest!« Mona sitzt wieder.

»Okay, dann haben wir diesen Donnerstag eine Verabredung! Ich besorge Chips, Schokoküsse und Sekt.«

»Und wir haben ein Date für morgen Vormittag. Ab elf Uhr wird geshoppt, bis deine EC –Karte glüht!«, freut sich Mona.

Ich mich auch.

Jetzt muss nur noch Sören anrufen ...

***

Was er aber nicht tut.

Nicht an diesem Abend und auch nicht am nächsten.

Ich selbst mache mir gar keinen Kopf deswegen, Mona aber schon.

»Findest du es nicht merkwürdig, dass sich Sören gar nicht meldet?«, will sie wissen, als wir am Mittwochmorgen beim Frühstück sitzen.

Ich beiße genussvoll in mein Franzbrötchen und habe nicht die geringste Lust, mir über irgendetwas Sorgen zu machen.

Warum sollte ich auch?

Ist doch gar nichts los.

Nun ja, einige Kommentare zu meiner Liebesroman-Rezension waren nicht ganz so toll – um nicht zu sagen, nicht besonders nett. Aber was kümmert's mich? Ich habe wie immer ehrlich meine Meinung zum Besten gegeben. Und ich mochte den Roman nun mal. Kein Grund, mir zu unterstellen, der Verlag hätte mich einer Gehirnwäsche unterzogen oder mich bestochen.

»Wieso sagst du denn gar nichts?«, quengelt Mona.

Bevor ich antworten kann, klingelt es an der Tür. Es ist Richy, bei dem gerade eine Vorlesung ausgefallen ist.

»Hi, Süße, hallo, July«, begrüßt er uns, eine Tüte Brötchen schwenkend. »Wisst ihr eigentlich, dass heute Nacht wieder Junkies bei euch im Hausflur geschlafen haben? Da unten liegt Spritzbesteck.«

»Tja, so ist das halt, wenn man auf dem Kiez wohnt«, sagt Mona achselzuckend und drapiert die Brötchen in den Korb. Dann gibt sie Richy einen Kuss und schmiegt sich eng an ihn.

Einen kurzen Moment lang bin ich neidisch.

Aber wirklich nur ganz kurz.

Ich bin mir sicher, dass es gar nicht mehr lange dauert, und wir sitzen zu viert am Küchentisch.

Spätestens morgen wird Sören sich ganz bestimmt melden.

»Wollt ihr eigentlich auf Dauer hier wohnen bleiben?«, fragt Richy, dem unsere Gegend nicht wirklich geheuer ist. Er ist allerdings auch anderes gewohnt – er lebt nämlich in Eppendorf, einem von vielen Hamburger Schnösel-Vierteln, und sieht auch ein bisschen so aus: groß, blond, schlank – und immer so angezogen, als sei er gerade auf dem Weg zu einem Polo-Turnier. Für seinen Lifestyle, das finanzierte BWL-Studium und die Klamotten zahlt er aber einen hohen Preis: Er wohnt noch bei seinen Eltern.

»Na klar«, antworte ich mit vollem Mund. »Ich weiß gar nicht, was du immer hast. Ist doch super hier! Im Gegensatz zu Eppendorf wohnen hier wenigstens echte Menschen!«

»Ja, echte Menschen mit echten Problemen, wie zum Beispiel Drogenabhängigkeit, Spielsucht, Alkoholismus. Soll ich noch mehr sagen?«

»Nööööö!«, echoen Mona und ich aus einem Mund, und ich setze noch eins drauf : »Hier pulsiert das Leben. Hier passieren die wirklich spannenden Dinge!«

Just in diesem Moment klingelt das Telefon.

Da Mona mittlerweile auf Richys Schoß hockt, gehe ich dran.

»Hi, Sören«, grüße ich so laut, dass Mona es hört.

Wusste ich doch, dass er sich meldet.

Er war bestimmt nur ein paar Tage verreist oder krank oder hat rund um die Uhr gearbeitet. Oder ...

»Sorry, dass ich erst jetzt anrufe, July, aber ehrlich gesagt war ich total abgenervt von dir!«, tönt es an mein Ohr.

Schluck! Ich beschließe, erst einmal nichts zu sagen und ihn einfach reden zu lassen.

»Kannst du mir bitte verraten, weshalb du hier so 'nen Affentanz machst? Erst tust du, als sei es eine Majestätsbeleidigung, dich an einem Samstagabend zu einem Konzert einzuladen, und legst einfach auf, obwohl ich noch mit dir rede – und fünf Minuten später willst du wissen, wie das Konzert war. Ehrlich, July, so kannst du nicht mit mir umspringen. Nicht, nachdem du mich vorher eiskalt abserviert hast!«

Ich verkneife mir die Bemerkung, dass ich nicht fünf Minuten, sondern zweieinhalb Tage später angerufen habe, und sage stattdessen: »Äh, also, äh ... «

Okay, das bringt uns jetzt auch nicht weiter!

»Also, ähem, tut mir leid«, stammle ich weiter. »Ich wollte dich ganz bestimmt nicht ärgern. Und dass du noch am Reden warst, als ich aufgelegt habe, wusste ich nicht.«

»Na ja, ist ja schon gut«, grummelt Sören.

Mein geschultes Ohr signalisiert mir allerdings, dass er schon ein kleines bisschen versöhnlicher ist. Es gibt eben Grummeln.

Und Grummeln.

»Kann ich meinen Fehler wiedergutmachen, indem ich dich zum Essen einlade?«, höre ich mich flöten und Sören hörbar Luft holen. »Ins Jimmy Burritos?!«, setze ich noch eins drauf. Die mexikanische Imbissbude war unser Lieblingsrestaurant, aus Gründen, die nur Sören und mich etwas angehen.

»Okay«, kommt es nach gefühlten fünfhundert Minuten.

»Wie wäre es Samstagabend? Um sieben Uhr?« Hechel, hechel ...

»Samstagabend bin ich schon verabredet«, antwortet Sören. »Aber wie wär's mit Sonntag?«

»Auch gut, Sonntag ist total super!«, beeile ich mich zu versichern. Hauptsache, ein Date mit Sören, alles andere ist mir wurst.

»Okay, dann also Sonntag. Wir sehen uns um sieben bei Jimmys

Mein »Ich freu mich!« hört Sören vermutlich gar nicht mehr, denn er hat bereits aufgelegt.

»Alles klar?«, will Mona wissen, als ich wieder in die Küche komme.

»Ja, alles klar. Wir treffen uns Sonntagabend.«

»Sonntagabend?«, fragt Richy stirnrunzelnd. »July, ich will ja keine Spaßbremse sein – aber du weißt schon, dass das kein besonders gutes Zeichen ist, oder?«

Weiß ich das? Ich bin mir nicht sicher.

»Sonntag bedeutet, du bist ihm nicht so wichtig.«

Hm, so genau wollte ich das jetzt eigentlich nicht wissen.

Ach was. Männerlogik! Richy spinnt!

»Ach was, hör nicht auf ihn«, mischt Mona sich nun ein. »Der spinnt!«

Sag ich's doch!

»Okay, Mädels, wenn ihr die Wahrheit nicht vertragen könnt, dann eben nicht«, verteidigt sich Richy. »Aber dass mir später keine von euch die Ohren vollheult, wenn ich recht hatte.«

Ich verspreche hoch und heilig, nichts vollzuheulen. Weder ein Tempo noch mein Kissen und erst recht nichts, das irgendwie zu Richy gehört. Ich werde auch gar keinen Grund dazu haben, da bin ich mir absolut sicher. Sören wird mich und mein atemberaubendes Top sehen und daran denken, wie wir es einmal auf der Toilette von Jimmys ... na, Schwamm drüber – es wird auf alle Fälle alles gut!

KAPITEL 6
Er hat die Haare schön

»Hey, July, lange nicht gesehen, alles gut bei dir?«

Ich nicke und lasse mich auf den Friseurstuhl von Pinki plumpsen.

Virginia steht dahinter, fährt mir durchs Haar und sieht mich erwartungsvoll an. »Irgendwas Neues oder wie immer?«

Wie immer wäre schlichtes Spitzenschneiden meines lockigen, braunen, schulterlangen Haares.

Aber heute ist mir nicht nach wie immer.

Heute brauche ich Abwechslung!

»Was würdest du mir raten, wenn ich dir einfach freie Hand lassen würde?«

Virginia zieht ihre süße Stupsnase kraus und wirft einen prüfenden Blick in den Spiegel. »Ehrliche Antwort?«

»Ja!«

»Ich finde, wir sollten dein Haar zum Bob schneiden, es glätten und Karamell-Kupfer strähnen.«

»Sieht das nicht total spießig aus?«, gebe ich zu bedenken.

»Nö! Das wird super!«

»Und wie krieg ich mein Unkraut da oben glatt?«

Virginia kramt in ihrem Trolley und befördert etwas zutage, das für mich spontan aussieht wie eine Mischung aus Krokodilsschnauze und Tacker. Während ich überlege, ob ich es gut finde, meinem Haar mit einem solchen Ungetüm zu Leibe zu rücken, erregt etwas auf der Straße meine Aufmerksamkeit: Hinter der Scheibe steht ein Typ und studiert aufmerksam die Preisliste, die im Fenster hängt.

Und dieser Typ hat verdammte Ähnlichkeit mit Doktor Tobias Merten aus der Klinik. Ich starre mit offenem Mund auf die Schanzenstraße.

»Also, was ist? Kann ich loslegen?«, will Virginia wissen und fuchtelt mit der Schere vor meiner Nase herum.

»Äh ja, klar«, antworte ich, ohne nachzudenken, denn Doc Merten hat sich gerade eben in Luft aufgelöst. Oder ich habe Halluzinationen, was mich jetzt auch nicht weiter wundern würde.

Nach gezieltem Schnipp-Schnapp werde ich mit Hilfe von einer Koloration und Alufolie in eine Art Heavy-Metal-Igel verwandelt. Meine Haare stehen in alle Richtungen ab, als suchten sie im Weltall nach Empfang.

Während ich darauf warte, dass die neue Farbe einwirkt, und Energie-Tee trinke, taucht in meinem Blickfeld ein Paar Jeans-Beine mit Converse-Chucks an den Füßen auf.

Die Füße drehen eine Pirouette und entfernen sich wieder.

Dann sehe ich, dass sie zu Tobias Merten gehören.

Mist, warum müssen wir uns ausgerechnet hier begegnen, während ich aussehe wie ein Teletubbie auf Ecstasy? Ich beschließe, so zu tun, als sei ich nicht ich, und hoffe, dass er mich nicht erkennt.

»Na, Tobias, geht's gut?«, will Olli, weltbester und nettester Friseur nach Virginia, wissen und lächelt meinen Arzt an.

Gut so, Jungs! Habt Spaß miteinander und vergesst einfach die Welt um euch herum!, denke ich und freue mich über jedes Stück Alufolie, das in Virginias Schüssel landet.

»Och, geht so«, murmelt Tobias.

»Ist was passiert?«, fragt Olli mit diesem bestürzt-mitleidigen Gesichtsausdruck, zu dem nur Schwule fähig sind.

Oder Frauen.

»Nichts Besonderes. Der übliche Stress in der Klinik. Assistenzarzt zu sein, ist echt kein Kinderspiel. Und man verdient ja auch nicht so dolle. Ihr habt offenbar auch eure Preise erhöht, oder?«

Olli nickt und seufzt.

Wieso seufzt der eigentlich? Er muss das ja nicht zahlen.

»Also lass uns lieber das Thema wechseln, bevor ich noch schlechte Laune bekomme. Weißt du, wie Pauli gespielt hat?«, fragt Tobias Merten, und ich bin enttäuscht. Püh, Fußball! Und Jobstress. Das sind ja keine besonders spannenden Sachen.

Nachdem Virginia mir erneut den Kopf gewaschen hat, geht es zum wirklich aufregenden Teil der Veranstaltung über: dem Föhnen und Glätten.

Eine halbe Stunde später schaue ich in den Spiegel und habe nun erst recht das Gefühl, nicht mehr ich selbst zu sein: Die Frisur steht mir wirklich gut!

»Wenn du dich jetzt noch dazu durchringen kannst, deine schwarze Hornbrille gegen Kontaktlinsen oder ein randloses Gestell einzutauschen, sollte einer Zukunft als Model eigentlich nichts mehr im Wege stehen«, grinst Virginia und legt mit ihrem Lächeln ein blitzendes Zahn-Piercing frei.

Sie weiß, dass ich kaum etwas auf der Welt mehr hasse als diesen Model-Casting-Mist.

Was sie aber nicht wissen kann, ist, dass ich diesbezüglich Donnerstagabend meine Meinung etwas revidiert habe. Mona und ich hatten nämlich ziemlich viel Spaß mit Heidi Klum und ihren Mädels, wenn ich ehrlich bin. Und das lag nicht nur am Sekt und den Chips!

»Ich denk drüber nach! «, verspreche ich und setze mir das schwarze Ungetüm auf die Nase. Virginia hat recht: Der intellektuelle Nerd-Touch passt gar nicht mehr zu meinem neuen Haar-Styling. Aber Kontaktlinsen? Ircks – vor denen habe ich Angst! Die verschwinden nämlich gern mal auf Nimmerwiedersehen unter dem Augenlid, das weiß ich von Mona.

»Frau Wonnemeyer? Sind Sie das?«, unterbricht Tobias Merten meine Überlegungen zum Thema Sehhilfen.

»Ja, bin ich«, antworte ich, eine Tonlage piepsiger als beabsichtigt.

Wie skurril, direkt neben dem Mann zu sitzen, der Zeuge war, dass mir jüngst mein Gedächtnis abhandengekommen ist.

»Gut sehen Sie aus.«

Ich antworte »Vielen Dank!« und befreie mich so lässig wie möglich von meinem schwarzen Plastikumhang, der mich aussehen lässt wie das Michelin-Männchen: voll fett!

»Haben Sie sich von dem Schrecken erholt?«, ruft Doc Merten gegen das Summen des Rasierers an, während ich ungeniert seine Nackenpartie studiere. Schöner, langer Hals. Zarte Haut. Und wirklich tolle schwarze, wellige Haare. In der richtigen Länge übrigens – da bin ich äußerst wählerisch.

Nicht nur bei Männern.

»Bestens, alles bestens«, antworte ich lächelnd. »Vielen Dank nochmal für die freundliche Behandlung im Krankenhaus!«

Leider komme ich nicht mehr dazu, weitere Höflichkeiten abzusondern, denn Virginia zerrt mich zum Tresen und knöpft mir Geld ab. Achtundsiebzig Euro! Echt krass!

»Sorry, ich mach die Preise nicht«, sagt Virginia und stempelt meine Treuekarte ab. »Und vergiss nicht, dass so ein Bob spätestens alle sechs Wochen nachgeschnitten werden muss! Und die Strähnchen ... na, du wirst es schon sehen ... « Dann kritzelt sie mir den Namen des Glätteisen-Fabrikats auf einen Zettel, womit dieser Friseurtermin sich plötzlich zum bislang teuersten meines haarigen Lebens entwickelt. Aber sei's drum, denke ich, als ich Pinki verlasse, Doc Merten zum Abschied zuwinke und auf die trubelige Schanzenstraße trete: Mein neues inneres Ich braucht eben eine neue äußere Hülle.

KAPITEL 7
Angebissen

Mit dieser neuen Hülle, einem tollen schwarzen Mini, einem tiefdekolletierten Top und rattenscharfen Sandaletten sitze ich Sonntagabend um zehn vor sieben bei Jimmy Burritos und warte auf Sören.

Vor Aufregung checke ich alle naslang mein Aussehen im Kosmetikspiegel, den Mona mir heute geschenkt hat.

Um sieben finde ich mich absolut super, ich habe noch nie besser ausgesehen.

Um zehn nach sieben überlege ich, ob an der Sache mit der schwarzen Brille doch was dran sein könnte.

Um zwanzig nach sieben erwäge ich, wahlweise meine Ohren anlegen zu lassen oder auszuwandern.

Das Fatale an Jimmy Burritos ist übrigens, dass man hier keinen Hunger haben darf. Die Jungs sind total tiefenentspannt und vertragen keinerlei Stress. Sie lassen sich auch nicht davon beeindrucken, wenn jemand vor Hunger kollabiert und anschließend in die Notaufnahme gebracht werden muss.

Zum Glück ist das bei mir (noch) nicht der Fall.

Ich pfriemle zum x-ten Mal mein Handy aus der Tasche, doch es gibt sich reserviert und hat mir nichts zu sagen. Nun gut, dann also eine Margarita oder einen Corvocado.

»Hamwernich«, lautet die vernuschelte Antwort des Typen mit Ziegenbärtchen.

Während ich mich frage, warum es beim Mexikaner keine mexikanischen Cocktails gibt, kommt Sören reingeschlendert.

Ich unterdrücke ein Gefühl der Wut, das sich langsam von meinem Bauch Richtung Hals breitmacht, und gebe ihm einen Kuss, bevor die Wut beim Mund ankommt und ich etwas sage, das ich hinterher bereue.

Sören nuschelt »tschulligung«, und ich überlege, ob den Männern sonntags womöglich nur die Hälfte des Alphabets zur Verfügung steht.

»Und? Weißte schon, was du isst?«, fragt er.

Bevor mir ein »Ja, dich, ich finde dich nämlich zum Anbeißen!« herausrutscht, ist Sören auch schon auf dem Weg zum Kühlschrank.

»Auch 'n Sol?«, will er wissen, und ich befrage mein Innerstes, ob es nach mexikanischem Schlabberbier verlangt. Tut es nicht. Es schreit vielmehr nach schwerem, schwerem Rotwein.

Und danach, von Sören in den Arm genommen und anschließend von oben bis unten abgeknutscht zu werden.

Doch das scheint – zumindest vorerst – eine Phantasie zu bleiben, denn ihn interessiert die Speisekarte weitaus mehr als mein neuer Look.

»Fällt dir eigentlich gar nichts an mir auf?«, frage ich und streiche mir provokativ durchs Haar.

Sören sieht kurz auf. »Nö«, antwortet er lapidar.

Okay, wir fassen zusammen: Er kommt ohne Begründung eine halbe Stunde zu spät, findet Essen spannender als mich und merkt nicht, dass eine vollkommen verwandelte Frau vor ihm sitzt.

Was lernen wir daraus? Männer sind offenbar sonntags nicht im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte.

»Und, worauf hast du Appetit?«, frage ich und versuche, mit dieser Frage das laute Knurren meines Magens zu übertönen. Wenn ich nicht innerhalb der nächsten zwanzig Minuten etwas zu mir nehme, könnte der Abend in eine nationale Katastrophe ausarten. Andererseits: Vielleicht würde ja auch mir ein wenig buddhistische Gelassenheit nicht schaden. Ich muss mal zu den Jungs in die Küche und fragen, wie man ohne Drogen in diesen Zustand der absoluten Bedürfnislosigkeit gelangt.

»Ich nehme Fajita mit Bohnenmus, Guacamole und Rindfleisch«, lässt Sören mich wissen – in ganzen Sätzen. »Schönes Top übrigens. Deine Brüste wirken darin größer. Oder hast du da was machen lassen?«

Fein, dann hat sich die Investition von einhundertzehn Euro für den Push-up-BH doch gelohnt.

Anstatt wahrheitsgemäß zu antworten, lächle ich sphinxhaft und streichle sanft über den Rücken von Sörens Hand, die passenderweise gerade auf dem Tisch herumliegt.

Doch anstatt sich in irgendeiner Form zu revanchieren, zieht er sie zurück, klappt die Karte zu und fragt: »Weißt du jetzt endlich, was du essen willst? Ich würde nämlich gern bestellen.«

Etwas in mir gefriert zu Eis.

Details

Seiten
Erscheinungsform
Neuausgabe
Jahr
2015
ISBN (eBook)
9783958243354
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2015 (November)
Schlagworte
Liebesroman Romantik Romance New Adult Petra Hülsmann Ildiko von Kürthy Feelgood Weihnachten Neuerscheinung eBooks
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Titel: Schluss mit lustig
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