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Eine Spur aus Frost und Blut

Horror-Story | Eine düstere Neuinterpretation von "Frau Holle" für die Generation TikTok

©2015 68 Seiten

Zusammenfassung

Eine schwarze Winternachtgeschichte: Das böse Märchen „Eine Spur aus Frost und Blut“ von Sonja Rüther jetzt als eBook bei dotbooks.

Mit Gold belohnt, mit Pech gestraft … Die Nacht ist bitterkalt, und doch fällt keine einzige Schneeflocke vom Himmel. Eine alte Frau betritt mit leisem Schritt die Welt der Menschen. Sie ist gekommen, um eine neue Dienerin zu finden – das ist ihr Recht seit Anbeginn der Zeit. Doch mit einem hat die Alte nicht gerechnet: dass sie erwartet wird. Von den einst unschuldigen Mädchen, die sie in ihr Reich holte und nach einem Winter der Sklaverei zur Unsterblichkeit verdammte. Sie alle flüstern den Namen ihrer Peinigerin wie einen Fluch: Frau Holle. Und sie werden nicht ruhen, bevor sie Rache genommen haben …

Eiskalt, böse, faszinierend: Sonja Rüther erzählt, was die Gebrüder Grimm nicht aufzuschreiben wagten.

Jetzt als eBook kaufen und genießen: „Eine Spur aus Frost und Blut“ von Sonja Rüther bietet abgründige Spannung. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Über dieses Buch:

Mit Gold belohnt … mit Pech gestraft.

Die Nacht ist bitterkalt, und doch fällt keine einzige Schneeflocke vom Himmel. Eine alte Frau betritt mit leisem Schritt die Welt der Menschen. Sie ist gekommen, um eine neue Dienerin zu finden – das ist ihr Recht seit Anbeginn der Zeit. Doch mit einem hat die Alte nicht gerechnet: dass sie erwartet wird. Von den einst unschuldigen Mädchen, die sie in ihr Reich holte und nach einem Winter der Sklaverei zur Unsterblichkeit verdammte. Sie alle flüstern den Namen ihrer Peinigerin wie einen Fluch: Frau Holle. Und sie werden nicht ruhen, bevor sie Rache genommen haben …

Eiskalt, böse, faszinierend: Sonja Rüther erzählt, was die Gebrüder Grimm nicht aufzuschreiben wagten.

Über die Autorin:

Sonja Rüther, geboren 1975 in Hamburg, betreibt in Buchholz/Nordheide einen Kreativhof (»Ideenreich – der Kreativhof«) und den Verlag »Briefgestöber«.

Bei dotbooks veröffentlichte Sonja Rüther bereits die Thriller »Blinde Sekunden« und »Tödlicher Fokus« sowie die von ihr herausgegebene Anthologien »Aus dunklen Federn« und »Aus dunklen Federn 2«, in denen neben ihr auch Autoren wie Markus Heitz, Kai Meyer, Boris Koch und Thomas Finn ihre schwärzesten Seiten zeigen.

Die Website der Autorin: www.briefgestoeber.de
Die Autorin im Internet: www.facebook.com/sonja.ruther.1

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Originalausgabe November 2015

Copyright © 2015 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Redaktion: Ralf Reiter

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design, München, unter Verwendung eines Bildmotivs von shutterstock/Serg Zastavkin.

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH

ISBN 978-3-95824-425-2

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Sonja Rüther

Eine Spur aus Frost und Blut

Horror-Story

dotbooks.

Kapitel 1

In den Fenstern der Stadt brannten festliche Lichter. Die Bewohner warteten in ihren geschmückten Häusern auf den Heiligen Abend und kuschelten sich in die heimelige Geborgenheit ihrer Familien. Nur noch eine Woche, dann würden sie Kerzen an den Bäumen entzünden, Weihnachtslieder singen, Gedichte aufsagen und Geschenke auspacken.

»Gefüllte Mülltonnen, fette Bäuche und besoffene Eltern, die ihrer Brut Zucker in den Arsch blasen, statt ihr Liebe zu geben«, sagte die Alte, die allein zwischen den Häusern in der Dunkelheit stand und durch die Fensterscheiben spähte.

Mit ihrem Erscheinen hatten sich minus fünfzehn Grad über die Stadt gelegt – ein eisiger Hauch, dem ein Seufzer folgte. Aber niemand konnten ihn hören, weil niemand ein Fenster öffnete, um in die stille Winternacht zu horchen. Wer nicht schnell genug zu Hause war, legte Mütze und Schal fest um den Kopf und rannte durch die Kälte.

Die Alte tat das nicht. Sie ging mit sehr langsamen, bedächtigen Schritten über den vereisten Gehweg, eine Spur aus Kälte und Frost folgte ihr auf dem Fuße. Ihr langer, dunkelgrüner Filzrock baumelte um die stämmigen Beine und wärmte sie. Ihr Mantel war aus demselben Stoff, und eine schwarze Wollstola lag um ihre Schultern. Die grauen Haare trug sie zum Dutt gebunden, als würde sie verirrte Vögel einladen wollen, darin Zuflucht zu suchen, bevor sie in der Nacht erfroren.

Die Alte richtete die kleine runde Brille auf der knubbeligen Nase und senkte den Blick auf den Gehweg, der im schummrigen Licht der Straßenlaterne nur schwer zu erkennen war. Sie wusste weder wo sie sich befand, noch wie sie dort hinkäme, wo sie hinmusste. Von weit oben sah die Stadt ganz anders aus, als wenn man mitten in ihr stand. Über die Jahrhunderte hatte sie vergessen, wie hart sich der Boden unter den Füßen anfühlte, und Müdigkeit drückte ihr aufs Gemüt und wollte sie zum Anhalten zwingen. Aber sie würde nicht ruhen, bevor sie ihr Ziel erreicht hatte.

Mit rissigen Lippen pfiff sie eine leise Melodie. Ihr Atem verteilte sich wie feiner Rauch in der eisigen Luft. Die unbestimmte Tonfolge hatte nichts mit Weihnachtsliedern gemein. Derartige Feiertage interessierten sie nicht. Als Jesus geboren wurde, hatte sie schuften müssen, und so war es auch all die Jahrhunderte davor und danach gewesen.

Wenn die Menschen in ihren Häusern saßen und Weihnachten feierten, hatte sie immer die meiste Arbeit. Aber sie war schon lange zu alt, um das alles allein zu bewältigen. Gicht hatte ihre Finger versteift, das Greifen war zur Qual geworden, besonders das Wuchten der schweren Stoffe wollte ihr nicht mehr gelingen. Was nützte die Unsterblichkeit, wenn der Körper gebrechlich wurde? Sie sah sich schon eines Tages in einem Sessel in ihrem Haus sitzen, zu wenig mehr fähig, als zu atmen.

Also hatte sie ein Portal erschaffen, durch das Gehilfen zu ihr kommen konnten. Starke Männer, die ihr zur Hand gehen sollten, aber jeder einzelne hatte noch beim Durchschreiten der magischen Barriere den Verstand verloren. Dann versuchte sie es mit Frauen – der Effekt war derselbe. Zu guter Letzt holte sie sich ein junges Mädchen, auch wenn sie sich nach all den Versuchen wenig Hoffnung machte. Doch das Mädchen verlor nicht den Verstand. Es war neugierig und aufgeschlossen und hüpfte durch ihr Reich, als wäre es auf einem Ausflug in einen Zoo oder einen Park. Da es ihren richtigen Namen nicht aussprechen konnte, nannte es die Alte »Frau Holle«, was vage ähnlich klang. Dennoch fand die Alte Gefallen an diesem Namen und der Vorstellung, fortan nicht mehr allein zu sein. Sie wollte sich erst wieder Gedanken über die Menschen machen, wenn Marie im hohen Alter gestorben wäre. Aber die Freude an ihrer kleinen Gehilfin währte nicht lange. Ein Winter verging, sie ließen es ordentlich schneien, aber dann welkte Maries kleine Seele. Obwohl alles bestens lief, wurde das Mädchen immer trauriger. Sie wollte nach Hause, aber Frau Holle konnte sie nicht gehen lassen. Und eines Tages stürzte sie sich ohne ein Wort der Warnung auf die Erde hinab. Niemals würde Frau Holle den Anblick des kleinen Körpers vergessen, der auf dem harten Pflaster nahe ihres Elternhauses zerplatzt war.

Und so musste Frau Holle von vorn beginnen. Sie sicherte das Portal mit einem Schlüssel. Wer nun zu ihr wollte, musste bluten, damit nur jene durch die Barriere kämen, die als unschuldig und rein erkannt wurden. Es war ihr zu anstrengend gewesen, all die Körper der Fehlversuche zu beseitigen. Und es funktionierte. Jedes Mädchen, das zu ihr fand, nannte sie »Marie«. Und wenn die Seelen zu welken begannen, musste sie die Mädchen wieder gehen lassen. Jungs kamen gar nicht erst durch die Barriere hindurch und ertranken jämmerlich in dem Brunnen, in dem der Durchgang versteckt lag.

Doch kaum hatte sie diese Lösung gefunden, wurden die Menschen zum Problem. Der Brunnen sollte zugeschüttet werden, um die Kinder zu schützen. Die einfältigen Menschen begriffen nicht, dass all das nur ihrem eigenen Wohl diente. Wenn es nicht schneite, würde es regnen – aber erst dann, wenn die Kälte vorüber war. So lange, bis keine einzige Winterwolke mehr existierte. Die Menschen würden ertrinken und der Himmel sich das Wasser zurückholen.

Frau Holle hatte es mitangesehen. Als sie damals auf der Suche nach Gehilfen gewesen war, war ein Winter ohne Schnee verstrichen. Die darauf folgende Todesflut hatte nur den Brunnen und leere Häuser zurückgelassen. Mit den Jahren war das Dorf dann neu besiedelt worden.

Da war sie zum ersten Mal auf die Erde hinabgestiegen. Sie redete mit dem Dorfvorstand, verlangte, jeden Winter ein Mädchen zu bekommen, das sich dafür lediglich in den Finger stechen und in den Brunnen stürzen müsste. Als Lohn versprach sie Gold. Bei Missachtung drohte sie mit Tod und Verderben. Es half, genügend Gold im Gepäck zu haben, um die Widerworte in Gier zu ersticken. Frau Holle war so freundlich gewesen, wie sie nur konnte, um nie wieder einen Fuß auf die Erde setzen zu müssen. Der Handel hatte Jahrhunderte funktioniert – viele Jahrhunderte lang.

Aber es war unbefriedigend, die Mädchen immer wieder gehen zu lassen und bei jeder neuen Marie von vorn anzufangen.

Frau Holle experimentierte weiter, als sie eine Marie so perfekt fand, dass sie sie unbedingt behalten wollte. Sie versuchte, ihr Unsterblichkeit zu schenken, damit die Seele nicht welkte. Aber wie sie es auch anstellte, nichts funktionierte. Ihre letzte Hoffnung war, dass das magische Tor, der Rosenbogen, der zurück in die Heimat der Mädchen führte, der Schlüssel sein könnte.

Während Marie fleißig die Betten ausschüttelte, verankerte Frau Holle die Entlohnung in Form flüssigen Golds in der Krone des Bogens. Sie schnitt sich in die Hand und verteilte ihr Blut mit der Gabe der Unsterblichkeit im Gold und zur Sicherheit auf dem magischen Rosenbogen. Es musste funktionieren.

Der Winter endete, und Marie stellte sich erschöpft unter die Krone des Rosenbogens. Es sah wunderschön aus, wie der zierliche Körper mit Gold übergossen wurde.

Auf der anderen Seite standen ihre Eltern und die Dorfbewohner und staunten über den Reichtum, der über das Mädchen floss. Doch bevor sie einen Schritt über die Schwelle setzen konnte, ergriff Frau Holle ihre Hand und wollte sie zurückziehen, während die Menschen auf der anderen Seite nur das Gold sahen und ebenfalls nach ihr griffen und an ihr zerrten.

Aber es gab kein Zurück. Das Portal ließ sie nur in eine Richtung durch.

Frau Holle hatte sie gehen lassen müssen, bevor sie auseinanderriss, aber sie war wütend gewesen. So wütend, dass sie beschloss, keines der Mädchen je wieder gernzuhaben.

Diese Marie war perfekt gewesen. Fleißig, ruhig, gänzlich frei von Widerworten und wunderschön. Genau sie hatte Frau Holle bei sich behalten wollen, stattdessen hatte sie allein in ihrem Reich gestanden, mit goldenen Händen und unbändiger Wut im Bauch. Und auf der anderen Seite machten sich die Menschen über das Mädchen her. Sie rissen an den goldenen Haaren und den Kleidern, um etwas von dem Reichtum mit nach Hause zu nehmen. Marie, die so sehr für ihren Fleiß belohnt worden war, schrie vor unsäglichen Schmerzen.

Aber daran erinnerte sich heute keiner mehr. Winter für Winter kamen Mädchen zu ihr, verrichteten die Arbeit mal gut und mal schlecht, wurden mit Gold oder mit Pech entlohnt und verschwanden aus Frau Holles Reich so schnell, wie sie gekommen waren.

Und bei den Menschen wurde aus der Tatsache eine Legende und aus der Legende das Märchen von »Frau Holle«, das in der Weihnachtszeit kleinen Kindern vorgelesen wurde, als wäre die Geschichte der Phantasie eines Schriftstellers entsprungen.

Frau Holle war es gleich, was die Menschen dachten, solange der Handel eingehalten wurde, aber nun war der zweite Winter, in dem keine neue Marie durch das Portal zu ihr gekommen war. Die Wolken wurden schwerer und schwerer, alles, was lebte in ihrem Reich und vernachlässigt wurde, fing an zu schreien – die Brote, die Apfelbäume und nicht zuletzt die unzähligen Schneeflocken, die ineinander verhakt waren und den wachsenden Druck kaum noch ertrugen.

Aus ihrem Reich konnte sie den Brunnen im Innenhof mitten in der gewachsenen Stadt sehen, aber sie verstand nicht, warum kein Mädchen mehr hineinfiel.

So kam es, dass sie ein zweites Mal auf die Erde hinabsteigen musste.

Wenn sie sich nicht irrte, war der große Park, dieser grüne Fleck, das Herz der Stadt, und wenn sie den See darin fand, wüsste sie die Richtung.

Mit gerümpfter Nase betrachtete sie Pappbecher und Fastfoodtüten, die vom Wind gegen einen überquellenden Mülleimer getrieben wurden. Alles war so schmutzig – ein ungeliebter Lebensraum. Sie hatte zugesehen, wie sich die Menschen Generation um Generation zu einer Spezies entwickelt hatten, die sich über alles Leben auf dieser Welt stellte.

Flutkatastrophen brachten gegen dieses krankhafte Verhalten der Erdenbewohner keine Linderung mehr. Sie fanden Mittel und Wege, sich über Wasser zu halten – Frau Holle hatte längst den Gedanken verworfen, ihre Macht über den Schnee als Strafe einzusetzen.

Wenn sie so weiterhausten, wie sie es besonders in den letzten Jahren getan hatten, dann würden sie Frau Holle ohnehin bald nicht mehr brauchen, weil die Winter gar nicht mehr kalt wurden.

Es würde nur noch regnen, das ganze Jahr hindurch, und die Erde würde zu einem trostlosen Ort.

Sie empfand kein Mitleid mit diesen Kreaturen. Diese beschwerliche Reise unternahm sie nur für sich selbst, nicht für die egoistischen Seelen, die ihre Namen auf Hauswände kritzelten, Müll auf die Straßen warfen und sich gebärdeten wie die Affen. Sie wussten nicht, dass Frau Holle die Verantwortung für ihr Reich trug und dass es sie nur ein wenig Lebenszeit von ein paar unbedeutenden Mädchen kostete, um das Wunder des Winters zu erleben und vor den Fluten in Sicherheit zu sein.

Schlurfend setzte sie einen Fuß vor den anderen, die Spur aus Frost zog hinter ihr her. Die Laternen standen wie lichtlose Geier am Wegesrand – die geneigten Köpfe in gieriger Vorfreude über die Opfer gesenkt.

»Hast du mal ’nen Euro?«, fragte eine jugendliche Stimme von irgendwo aus der Dunkelheit. »Ich hab Hunger.«

Frau Holle spürte, wie alte Wunden auf ihrer Lippe aufsprangen, als sie grinste. »Ich auch«, sagte sie. Ihre Stimme klang fremd, es fiel ihr schwer, die angemessene Lautstärke zu finden. Sie griff unter ihren Mantel und zog eine kleine Laterne hervor. Nur durch ein leichtes Pusten gegen das dünne Glas entbrannte ein kleines Licht im Innern, das durch die verrußten Scheiben gespenstisch flackerte.

Mit ausgestrecktem Arm hielt sie die Laterne so weit hoch, dass sie das Gesicht des jungen Mannes erkennen konnte.

Seine Augen wirkten glasig, er war blass und zitterte in der Kälte. Fasziniert betrachtete sie das ganze Metall in seinem Gesicht, das er sich durch Wangen, Nasenwurzel, Lippen und Augenbrauen hatte stechen lassen. Zottelige, teils grüne Haare lugten unter einer dicken schwarzen Wollmütze hervor. Sie schätzte ihn auf zwanzig Jahre, vielleicht jünger, wenn sie diesen Ausdruck von Heimweh in seinen Augen genauer betrachtete.

»Warum gehst du nicht nach Hause, mein Junge?«

Er trat frierend von einem Fuß auf den anderen und rieb sich dabei die Hände.

»Du hast doch ein Zuhause, oder? Liebende Eltern, die dich vermissen und darauf warten, dass du zurückkehrst?«

Mit gesenktem Blick schüttelte er den Kopf. Aber das war eine Lüge. Frau Holle konnte er nichts vormachen. Sie hatte so vielen Maries, die versuchten, tapfer und ohne Klagen ihre Arbeiten zu verrichten, das Heimweh angesehen, dass dieser erwachsene Junge für sie war wie ein offenes Buch. Er wusste genau, dass seine Eltern sich sorgten, aber ganz offensichtlich stand ihm die Scham im Wege. So wie die untauglichen Maries sich schämten, wenn sie von Frau Holle rausgeworfen wurden. Ein jämmerlicher Anblick.

»Lass uns was essen, mein Junge«, sagte sie freundlich und leckte sich etwas Blut von der gesprungenen Lippe. »Es wird eine lange Nacht für mich.«

Das war anscheinend nicht ganz das, was er hören wollte. »Nur einen Euro, mehr will ich gar nicht«, erwiderte er und wandte den Blick ab.

Sie wusste, dass sie keine Augenweide war. Junge Menschen waren nie gern in ihrer Nähe gewesen, aber wer sie respektierte, der wurde belohnt.

»Du bekommst einen Euro, ich nehme das Brot«, sagte sie und steckte ihre Hand in die Manteltasche.

Seine Haltung änderte sich, wurde selbstsicherer. Mit einem zufriedenen Grinsen zog sich das Metall seiner Lippen im Laternenlicht glänzend auseinander. Er sah aus wie ein wehrhafter Fisch, dem die Haken erfolgloser Angler als Trophäen im Maul hingen.

Da sie kein weltliches Geld besaß, tat sie nur so, als würde sie etwas aus ihrer Tasche holen, und wartete darauf, dass er seine Hand ausstreckte. Doch statt ihm etwas hineinzulegen, umfasste sie sein Handgelenk und dachte: Brot.

Der junge Mann zuckte zusammen, erzitterte und begann, an ihrem Griff zu zerren. Ohne Erfolg. Nicht einer ihrer Finger ließ sich bewegen. Es gelang ihm nicht, sich ihr zu entwinden, als wäre sie massives Eis. In der Luft um sie herum knackte und knisterte es wie schockgefrierendes Wasser. Rauhreif und Frost überzogen den Gehweg, jeden Halm und jeglichen Unrat, als entzöge die Kälte diesem Ort das Wasser, um kleine, scharfe Klingen wachsen zu lassen, während sich sein Körper unaufhaltsam von innen erhitzte.

Vielleicht hätte er sogar geschrien, wenn in seinen Lungen nicht bereits die Gärung eingesetzt hätte. Es roch nach Hefe, Roggen und frischen Gewürzen. Sein Oberkörper, seine Arme und Beine blähten sich auf, ließen die Kleidung unter dem brutalen Druck reißen und in Fetzen zu Boden fallen.

Bei seinen letzten verzweifelten Bewegungen rieselten Krümel auf den Boden. Die Piercings wurden im Gesicht eingebacken, während die restliche Kleidung verbrannte und einen leckeren Laib Brot freigab, dessen Kruste eine goldene Farbe bekam. Frau Holle liebte den Duft, der sie an zu Hause erinnerte. Frisches Brot und saftige Äpfel – sie konnte es kaum erwarten, in ihr Reich zurückzukehren und die stinkende Erde weit unter sich zu lassen.

Statt den Griff zu lösen, riss sie mit einem Ruck seine Hand ab und pustete über das dampfende Backwerk. Mit der Laterne leuchtete sie ein letztes Mal in sein Gesicht. Der entsetzte Ausdruck auf den knusprigen Zügen war geblieben, aber er würde nie wieder frieren, saufen, hungern oder rauchen müssen.

Sie biss von der Hand ab und schloss genüsslich die Augen, dabei ließ sie das Licht in der Laterne erlöschen und steckte sie zurück unter ihren Mantel. Das Brot schmeckte nach Weizen, einer Note Anis, Erinnerungen, Träumen und Heimweh. Dreck und Fingernägel waren weggebacken worden, Drogen und Alkohol waren einfach verdampft und hatten einen leckeren jungen Mann zurückgelassen. Sie hätte ihn gern für seinen guten Geschmack gelobt, aber er konnte sie in diesem Zustand nicht mehr hören.

Mit einem geflüsterten Befehl wollte sie Mäuse und Spatzen herbeirufen, aber die Tiere, die zögerlich erschienen, waren nur gemeine Ratten und Tauben. Sie kamen aus allen Winkeln des Parks, scheuten jedoch vor Frau Holle zurück. Auf den weißen Frostkristallen sahen die vielen kleinen Leiber aus wie eine Flut aus Schatten. Frau Holle zerrieb etwas Brot zwischen ihren Fingern und warf die Krumen in die ersten Reihen.

»Na los«, lockte sie. »Erlöst ihn.«

Sie ging ein paar Schritte rückwärts. Sie vermisste das knirschende Geräusch frischen Schnees unter den Schuhen.

»Fresst euch satt, bevor der Schnee kommt.«

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
2015
ISBN (eBook)
9783958244252
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2015 (Oktober)
Schlagworte
Fantasy Horror Mystery Okkulture Romane Märchenromane Markus Heitz Clive Barker Stephen King Neuerscheinung Winter-Thriller eBooks
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Titel: Eine Spur aus Frost und Blut
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