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Die Verschwörung der Ketzer: Ein Fall für Picaud 1

Roman

©2015 331 Seiten
Reihe: Ein Fall für Picaud, Band 1

Zusammenfassung

Ein gefährliches Vermächtnis: Der mitreißende Historienroman »Die Verschwörung der Ketzer« von M. T. Schurkus jetzt als eBook bei dotbooks.

Eine Stadt in der Bretagne, eine mutige Frau – und ein Geheimnis mit der Macht, die Welt zu erschüttern … Rennes 1806: Als die junge Arousha, Tochter eines bekannten Gelehrten, dem Treffen mit Admiral Villeneuve zustimmt, ahnt sie nicht, dass es ihr Leben für immer verändern wird. Er vertraut ihr eine kostbare Tonscherbe an, Teil einer Schrifttafel aus dem alten Ägypten. Am nächsten Tag wird der Admiral tot aufgefunden – doch Arousha glaubt nicht, dass er Selbstmord begangen hat. Und auch der ermittelnde Gendarm Picaud hegt schon bald den Verdacht, dass mächtige Männer den Admiral zum Schweigen bringen wollten. Um das Geheimnis der Schrifttafel zu entschlüsseln, reisen Picaud und Arousha nach Paris – und merken dabei nicht, wie sich eine unsichtbare Schlinge um ihren Hals immer enger zieht ...

Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der fesselnde Roman »Die Verschwörung der Ketzer« von M. T. Schurkus. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Über dieses Buch:

Eine Stadt in der Bretagne, eine mutige Frau – und ein Geheimnis mit der Macht, die Welt zu erschüttern … Rennes 1806: Als die junge Arousha, Tochter eines bekannten Gelehrten, dem Treffen mit Admiral Villeneuve zustimmt, ahnt sie nicht, dass es ihr Leben für immer verändern wird. Er vertraut ihr eine kostbare Tonscherbe an, Teil einer Schrifttafel aus dem alten Ägypten. Am nächsten Tag wird der Admiral tot aufgefunden – doch Arousha glaubt nicht, dass er Selbstmord begangen hat. Und auch der ermittelnde Gendarm Picaud hegt schon bald den Verdacht, dass mächtige Männer den Admiral zum Schweigen bringen wollten. Um das Geheimnis der Schrifttafel zu entschlüsseln, reisen Picaud und Arousha nach Paris – und merken dabei nicht, wie sich eine unsichtbare Schlinge um ihren Hals immer enger zieht ...

Über den Autor:

M. T. Schurkus wurde in Köln geboren. Nach einer Ausbildung zum Buchhändler und einem Studium der Literaturwissenschaften arbeitet er heute überwiegend als freier Autor. Seine Leidenschaft gilt dem 19. Jahrhundert, jener Zeit, in der auch seine Romane »Der Dichter des Teufels« und »Die Verschwörung der Ketzer« angesiedelt sind.

M. T. Schurkus veröffentlichte bei dotbooks auch den zweiten Fall für Gendarm Picaud: »Der Dichter des Teufels«.

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Originalausgabe August 2020

Copyright © 2015 dotbooks GmbH, München

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Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/Guilermo Olaizola, kpboojit, faestock, 100ker

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (rb)

ISBN 978-3-95824-341-5

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M. T. Schurkus

Die Verschwörung der Ketzer

Roman

dotbooks.

Kapitel 1

Ein forderndes Klopfen weckte ihn auf. Im Zimmer war es dunkel – in seinem Kopf auch, er konnte keinen klaren Gedanken fassen, denn er war in einem kranken Körper aufgewacht. Picaud spürte das Zudeck schmerzhaft auf der Haut, als wäre diese wund.

Das Klopfen an der Zimmertür wurde zudringlicher. Er schluckte gegen die Entzündung in seinem Hals an. Er war vor dem Klima in der Bretagne gewarnt worden, und das hatte ihn als Veteranen des großen Feldzuges von Austerlitz geradezu beleidigt. Aber nach kaum zwei Tagen hatte die Bretagne ihm mit einer Geste der Verachtung gezeigt, was sie von seinen französischen Heldentaten hielt, indem sie ihm eine Erkältung verschaffte. Das war ein Übel zu gering, um dagegen mit Tapferkeit anzutreten, und zu beschwerlich, um davon unbeeindruckt zu bleiben. Vor allem verführte es dazu, sich im Übermaß zu bemitleiden. Er tastete neben das Bett, fand die Weinflasche und führte sie an den Mund. Die Schlucke brannten angenehm in der gereizten Kehle.

»Monsieur le Gendarm, sind Sie wach?«, wurde mit einer lächerlichen Zurückhaltung gefragt.

»Es fehlt mir an Humor, um auf diese Frage zu antworten!« Er zog ein Schnupftuch unter dem Kopfkissen hervor, und als er sich schnäuzte, spürte er einen drückenden Schmerz hinter den Augen.

»Monsieur Picaud, öffnen Sie doch bitte die Tür!«

Er fasste sich ans Kinn, um zu erahnen, wie weit die Nacht fortgeschritten war. Es fühlte sich nur ein wenig rau an, also war der Morgen noch weit.

»Es ist etwas mit dem Herrn Admiral … es stimmt etwas nicht.«

Admiral Pierre-Charles de Villeneuve, der allseits bekannte, viel umtuschelte Gast des Hotels, der vor einigen Tagen aus der Gefangenschaft in England zurückgekehrt war und hier in Rennes auf Nachricht aus Paris wartete: Unter seinem Kommando war die französische Flotte im vergangenen Jahr bei Trafalgar vernichtet worden, und folglich war der Kaiser nicht gut auf ihn zu sprechen. Wie würde das weitere Schicksal des Admirals in Frankreich aussehen? Anscheinend hatte er sich selbst eine Art Kerkerhaft in seinen angemieteten Zimmern auferlegt, denn Picaud hatte ihn nie zu Gesicht bekommen, seit er vor zwei Tagen ebenfalls im Hotel de la Patrie Quartier bezogen hatte.

Die Erwähnung des Admirals jedenfalls brachte Picaud auf die Beine, auch wenn alles in seinem schnupfengeplagten Körper dagegen protestierte. Im Dunkeln tastete er sich bis zu dem Stuhl, auf dem seine Kleidung lag. Er stieg in seine Hose und zog die Weste über die Chemise. Mühelos fand er zur Tür, denn das Zimmer war klein und hatte nur wenig Möbel.

Draußen im Gang stand der Hausdiener, der nun die Kerze gegen den Luftzug der Tür abschirmte. Das flackernde Licht reizte Picaud in der Nase, und er musste niesen. Er bemühte das Schnupftuch, während es aus seinem Gegenüber heraussprudelte:

»Monsieur le Gendarm: Wir machen uns Sorgen um den Herrn Admiral! Er antwortete nicht auf das Klopfen, und die Tür ist verschlossen! Wenn er nun von einem Unwohlsein befallen ist?«

»Ja, das wäre allerdings ein guter Grund, auf ein Klopfen nicht zu antworten«, versetzte Picaud. Sein Gegenüber scharrte ein wenig verlegen mit den Füßen.

»Und warum kommen Sie damit zu mir?«

»Selbst seinem Diener wird nicht geöffnet – das lässt sich doch kaum damit erklären, dass der Admiral einen gar tiefen Schlaf hat!«

»Ich für meine Person möchte nicht glauben, dass jemand, der so viele Matrosen hat ersaufen sehen, noch einen tiefen Schlaf hat.«

»Monsieur le Patron hat nun beschlossen, dass die Tür aufgebrochen wird, und da Sie doch Gendarm sind …«

Als Gendarm hatte Picaud sich in die Unterlagen des Hotels eingetragen, denn er war nach Rennes gekommen, weil man ihm hier den Posten eines Leutnants bei der Gendarmerie zugesagt hatte. Nun, da er hier war und seine Papiere vorgelegt hatte, war davon nicht mehr die Rede – nur den Dienst eines Sergeanten wollte man ihm anbieten. Offensichtlich sollten seine Aussichten auf Beförderung den unleidlichen Rivalitäten zwischen Paris und den Provinzen zum Opfer fallen. Jedenfalls hatte er unter diesen Voraussetzungen seinen Dienstantritt verweigert und eine Klärung der Angelegenheit verlangt. Vermutlich spekulierte man darauf, dass er nach einigen Tagen die Geduld verlieren würde und nach Paris zurückkehrte. Picaud war also recht in der Stimmung, es den Dienststellen in Rennes heimzuzahlen. Dass man ihn in der Angelegenheit Villeneuve zu Rate ziehen wollte, kam ihm da zupass und ließ ihn beinahe seine Erkältung vergessen.

Also folgte er dem Mann.

***

Vor der Tür des Admirals erwartete Picaud und den Diener ein unruhiger Lichtkranz. Gleich fünf Leute hatten sich dort im Schein eines mehrarmigen Kerzenleuchters versammelt. Drei von ihnen trugen Übermäntel. Picaud schloss daraus, dass sie erst kürzlich eingetroffen waren. Der vierte Mann hatte ein Werkzeug in der Hand, mit dem er sich nun zum Türschloss beugte.

»Die beiden Herren Kommissare sind gleich herbeigeeilt und haben ihr Einverständnis gegeben, dass ein Schlosser die Tür aufbricht«, sagte Maître Ledéax, der Inhaber des Hotels, der den Kerzenleuchter hielt. Ein Mann stand ganz unbewegt und in sich gekehrt dabei – Picaud wunderte sich für einen Moment darüber, dass der Kerzenschein das Gesicht dieses Mannes nicht erhellte: Er war ein Schwarzer.

Der Schlosser hatte sich inzwischen an die Arbeit gemacht, und mit einem kurzen Bersten gab das Schloss der Tür nach. Ohne dass eine weitere Absprache getroffen wurde, trat der schwarze Mann zuerst ein, woraus Picaud schloss, dass dies der Diener des Admirals sein musste. Auf ein vorsichtiges wie drängendes »Monsieur?« folgte keine Antwort. Nun betraten die anderen den Raum. Das Kerzenlicht, das in die Dunkelheit des Zimmers fiel, ließ einen Tisch erkennen. Darauf lagen eine Kladde, ein Buch und einige beschriftete Umschläge. Durch das flackernde Licht schienen sie zu zittern, als wollten sie sich in ihrem eigenen Schatten verbergen.

»Monsieur le Amiral?«, fragte nun auch der Maître, und seine Stimme klang, als befürchtete er das Schlimmste. »Entschuldigen Sie die Störung …«

In den Fensterscheiben spiegelte sich der Kerzenschein und machte die Eintretenden zu geisterhaften Gestalten, zu Schemen, die in einem ätherischen Raum schwebten. Es war kalt in dem Zimmer.

»Wir haben vor einiger Zeit Lärm aus dem Zimmer gehört«, flüsterte Maître Ledéax an Picaud gewandt, »so als würde etwas umgestoßen, und als Monsieur Bacqué sagte, dass er keine Antwort bekomme …« Der Hotelier übergab den Leuchter an den Hausdiener. Der senkte die Kerzen, so dass das Licht auf das Bett fiel. Alle nahmen das Bild schweigend in sich auf: Die Decke war zurückgeschlagen, das Kissen zerdrückt – offensichtlich hatte jemand darin gelegen, aber nun war das Bett leer.

»Admiral Villeneuve?«, fragte der Maître.

Der Diener ging mit dem Kerzenleuchter durch das Zimmer und beleuchtete Möbel und Gegenstände: Ein kleines Pult stand neben dem Bett, mit Schreibzeug darauf. Das Licht wanderte weiter, beleuchtete eine geöffnete Kiste und wurde schließlich durch die dunkle Höhlung des Kamins verschluckt.

»Und Sie sind sich sicher, dass der Admiral nicht ausgegangen ist?« Es musste einer der Kommissare sein, der diese Frage gestellt hatte. Was sich in den Gesichtern der Leute abspielte, konnte Picaud durch das unruhige Spiel des Kerzenscheins kaum erkennen.

Die Antwort auf die Frage des Kommissars war ein schmerzhafter Aufschrei des Dieners. Alle drängten nun einer Türöffnung zu, die in einen Nebenraum führte.

»Mon Dieu!«, stieß einer der Männer hervor.

Picaud schob sich zwischen die vor Schreck erstarrten Gestalten. Der Kerzenschein war zur Ruhe gekommen und beleuchtete die Szenerie in diesem Kabinett. Auf dem Boden hingestreckt lag ein Körper auf dem Rücken, die bloße Brust war rot von Blut. Es hatte die Weste durchtränkt und war auf den Boden gelaufen, wo es in schwarzen Rändern zu trocknen begonnen hatte. In der linken Brust steckte ein Messer. Rote Wülste zeigten, dass dies nicht der einzige Einstich war: Der Brustkorb war schier zerhackt, als habe jemand in Raserei alles Leben in diesem Menschen vollständig auslöschen wollen. Die Blutlache hatte sich bis unter den Kopf des Toten ausgebreitet. Die Augen waren geöffnet, aber der Blick des Vize-Admirals Pierre-Charles-Jean-Baptiste-Silvestre de Villeneuve war gebrochen.

Kapitel 2

Es war sonderbar: Seit der großen Revolution hatte Picaud ungezählte, übel zugerichtete Leiber gesehen – Verstümmelte und Reste von Menschen, um die sich streunende Hunde balgten. Er hatte schnell gelernt, diesen Anblick nicht in seine Seele dringen zu lassen. Und doch berührte ihn die Szenerie im Zimmer des Admirals: Dieser Mann war offensichtlich in einem Moment der Arglosigkeit ums Leben gebracht worden, an einem Ort, wo er, der ein Leben im Krieg geführt hatte, mit solch einer Attacke nicht hatte rechnen können. Ihm war keine Gelegenheit zur Gegenwehr gegeben. Folglich gab es da draußen eine oder mehrere Personen, die sich darin gefielen, mit solch einer feigen Tat davonzukommen. Von solcher Gesinnung hatte Picaud sich seit jeher persönlich verspottet gefühlt. Dass man den Admiral niedergestochen hatte, nur wenige Türen von seiner eigenen Kammer entfernt, war ihm wie ein Fehdehandschuh, ein sehr blutiger noch dazu, den man ihm hingeworfen hatte.

Ein allzu großes persönliches Bedauern empfand Picaud jedoch nicht, zum einen, weil er sich fragte, ob der Tod den Admiral nicht davor bewahrt hatte, mit der übergroßen Last der Niederlage von Trafalgar durch das Leben zu gehen; zum anderen, weil auch er es für möglich hielt, dass diese Niederlage durch die Versäumnisse des Admirals verschuldet worden war. Zehn Jahre dauerte der Krieg nun schon an, den Frankreich gegen die Feinde der Revolution führte: gegen die Feinde im eigenen Land, zu denen die Bretonen zweifellos gehörten, und auch gegen diejenigen im Ausland, allen voran England. Aber diese Seeschlacht im Oktober 1805 war mehr als einer von vielen Waffengängen gewesen: In ihr hatte sich endgültig die Vorherrschaft zur See entschieden, und die lag nun bei England – eine Nation, die sich zwar einer frühen Verfassung rühmte, in der aber die geburtlichen Vorrechte des Adels jedes öffentliche Geschehen bestimmten. Und nun war diesem Denken, war der Privilegien- und Pfründewirtschaft die Welt überlassen!

Somit hatte der Tod den Admiral vor manch unangenehmer Frage bewahrt; vielleicht war er deswegen nie ausgegangen, seit er nach seiner Rückkehr aus englischer Gefangenschaft hier Quartier genommen hatte. Picaud jedenfalls hatte ihn in den vergangenen zwei Tagen nicht gesehen, sonst hätte er ihn fragen mögen, warum er, Jean-Louis Picaud, sein Leben bei Austerlitz gewagt hatte, während der Admiral es versäumt hatte, die überraschte britische Flotte bei Barbados zu stellen; warum er, Jean-Louis Picaud, in den Nebel hineinmarschiert war, der vom tausendfachen Mündungsfeuer des Feindes glühte, während der Admiral es nicht gewagt hatte, mit seiner Flotte aus Cádiz auszulaufen. Picaud hätte ihn gefragt, warum dieser Admiral alles verspielt hatte, was er, Picaud, und all die tausend Soldaten und Matrosen unter Einsatz ihres Lebens errungen hatten?

Picaud glaubte, ein Recht auf Antworten zu haben, denn auch er hatte wie so viele über Monate hinweg das meiste seines Solds für den Bau einer Flotte gegeben. Ihm musste niemand erklären, dass in England jenes Denken beheimatet war, das die Menschheit in zwei Kategorien aufteilte: in solche, die zum Herrschen und Besitzen geboren waren, und in solche, die das Hinnehmen und Dienen erdulden mussten. Picaud hatte der Gedanke gefallen, dass ein Balken, bezahlt mit seinem Geld, einige Nägel oder gar ein Segeltuch dem britischen Standesdünkel Einhalt gebieten würden.

Aber es war anders gekommen. Seine Balken und Nägel lagen nun auf dem Grund des Mittelmeeres bei Trafalgar, und seine Segel waren, zerfetzt und abgetakelt, als Beutestücke in irgendeinen englischen Hafen geschleppt worden. Was von den Schiffen geblieben war, hatten die Engländer ausgeschlachtet. Also mochten sich Picauds Balken künftig unter den Stiefeln eines Lords zu See befinden, der dafür sorgen wollte, dass es überall auf der Welt zuging wie auf einem britischen Kriegsschiff.

Picaud hatte nie an einer Seeschlacht teilgenommen, noch hatte er außer einer Fähre je ein Schiff betreten. Und doch stiegen in ihm Bilder auf wie der Dampf aus brodelndem Wasser. Denn jede Schlacht, ob zu Lande oder zu Wasser, ähnelte der anderen ab einem bestimmten Punkt: eben ab jenem Moment, in dem die Elemente – sei es die Erde, die Luft oder das Wasser – in Aufruhr gerieten, jeder Atemzug ein Hauch von Feuer war und die Dinge und die Menschen aufgeschleudert wurden und in Stücke gerissen wieder herabfielen. Er sah sie stürzen, zur Erde und ins Wasser, dort trieben sie zwischen Balken, an die sie sich zu klammern suchten. Vielleicht war es ein Balken, den er mit seinem Sold bezahlt hatte. Vielleicht steckte Picauds Sold aber auch in dem Balken, der den Körper eines Unglückseligen zerschmetterte, oder in einer der Planken, über die die Geschütze bei ihrem Rückstoß rollten und die Verletzten zerquetschten – im Bauch des Schiffes, wo das Geschrei von Befehlen und Schmerzen taub und der Schwefeldampf, der aus den Geschützen schnellte, blind werden ließ. Vielleicht war es der Balken, der in tausend Splitter zerbarst und unzählige Leiber durchbohrte, oder ein Balken, der dem Stoß des feindlichen Schiffes standhielt und dabei ein Donnern von sich gab, als wäre er das Rückgrat der Welt. Denn die Welt der Seeleute bestand nur aus dem, was sie aus den Luken und über die Reling hinweg sehen konnten: den mit Geschütz gespickten Leib des gegnerischen Schiffes, darüber die Takelage, in der die Segel wie zerfetzte Haut hingen. Ein Koloss aus Holz und Tuch, der auf das eigene Schiff zudriftete, in einem Manöver oder aus dem Ruder gelaufen, dann der Moment des Zusammenpralls, in dem Holz, Wasser und Blut aufspritzten. Mensch und Gerät stürzten zur Schlagseite hin, wo das Wasser nach ihnen griff. Vielleicht gab es noch einmal ein Halten, irgendein Beiboot, das sich aus dem jammervollen Zerbersten eines Schiffes gelöst hatte und zwischen seinen zerbrochenen und versinkenden Masten hervortrieb, zwischen Fässern und Leichen, Tauen und Kisten. Vielleicht hatten Hunderte von Händen nach einer Bootsseite gegriffen, die mit Hilfe von Picauds Sold gezimmert worden war. Vielleicht hatten Dutzende Zuflucht gefunden auf einem solchen Boot, bevor die Kugeln des Feindes sie fanden. Denn die Engländer waren auf der Suche nach dem einen Schützen, der ihren Admiral Nelson mit einem gezielten Schuss aus der Takelage heraus getötet hatte.

Und nun, in diesem kleinen Hotel in Rennes, lag der Verlierer dieser Schlacht in seinem Blut.

»Die Schmach der Niederlage lastete wohl so schwer auf dem Gemüt des Admirals, dass er das Leben nicht mehr ertragen konnte«, sagte einer der Kommissare, so als ob er schon an dem Text einer Verlautbarung feilte.

»Tatsächlich?«, entfuhr es Picaud spöttisch: Er erinnerte sich an die eigenen, vergleichsweise geringen Blessuren, die er im Gefecht erlitten hatte, und wie schnell sie zur Unfähigkeit, zur Hilflosigkeit verdammten, weil der Schmerz den gesamten Körper zur Geisel nahm. Wie sollte jemand in der Lage sein, eine Klinge anscheinend ein Dutzend Mal gegen sich selbst zu führen?

Der Admiral war sich der Vorwürfe und der Anschuldigungen, die gegen ihn bestanden hatten, sicher nur allzu bewusst gewesen. Das mochte für einen Mann von Ehre durchaus ein Grund sein, den Tod zu suchen. Vielleicht gar in solcher Raserei: Mehrmals war zugestoßen worden, als ginge es darum, sich eines lästigen Insekts zu entledigen.

Aber auch wenn der Admiral sich mit seinem eigenen Blut hatte reinwaschen wollen, so war es doch auf diese Weise eine körperliche Unmöglichkeit. Also sagte Picaud in das betroffene Schweigen hinein:

»Dieser Mann hat sich nicht umgebracht.«

Kapitel 3

Einer der Kommissare nahm nun den Kerzenleuchter und ließ das Licht in Picauds Gesicht scheinen. Der musste wieder einmal niesen und fingerte sein Schnupftuch aus der Westentasche hervor.

»Wer sind Sie denn eigentlich?«, fragte der Kommissar nun.

»Das ist Monsieur Picaud, er ist Gendarm aus Paris!«, antwortete der Maître, so als wollte er mit seinen ungewöhnlichen Gästen glänzen. Diese Vorstellung entsprach nur teilweise der Wahrheit. Dennoch verlieh Picaud den Worten des Hoteliers mit einer gewichtigen Miene Nachdruck, hätte man ihn doch andernfalls des Schauplatzes verwiesen. Der Kommissar tauschte mit seinem Kollegen einen Blick aus und quittierte die Worte nur mit einem Heben der Augenbrauen, was ebenso »Oh, là, là« wie »Na und?« bedeuten konnte.

»Ich hielt es für angebracht, Monsieur Picaud hinzuzuziehen, da der Admiral … er war bei der Marine …« Der Hotelier schien nicht zu wissen, wie er seinen Satz beenden sollte, oder er wollte im selben Raum mit dem Toten die Begründung nicht aussprechen: weil der Admiral beim Kaiser in Ungnade gefallen war, in Rennes festsaß, befürchten musste, vor ein Kriegsgericht gestellt zu werden … und der Hotelier also den Beistand einer Person suchte, die sich mit militärischen Gepflogenheiten auskannte.

»Ich bin Kommissar Bart«, stellte einer der Kommissare sich nun vor, »und das ist mein Kollege Alexandré Bacon.«

»Der geschätzte Kollege aus Paris wird sicher seinen eigenen Bericht abfassen wollen«, sagte Bacon, dem die Einmischung Picauds hörbar missfiel, »und wird zweifellos erwähnen, dass die Tür zu diesem Zimmer verschlossen war und der Schlüssel von innen steckte …«

»… steckte von innen«, nickte der Schlosser.

»Die Fenster sind ebenfalls verschlossen, wie also kommt der Kollege zu dem Schluss, dass dieser Mann«, Bacon schwenkte den Kerzenleuchter über den Leichnam, »sich nicht selbst getötet hat?«

Picaud drehte das Schnupftuch um seinen Zeigefinger, kniete sich neben die Leiche und betastete die Schnittwunden. Der Diener ließ einen verhaltenen Laut des Entsetzens hören, und auch der Maître trat zwei Schritte zurück, damit die Schatten vor ihm verbargen, was Picaud dort tat.

Er fühlte in die Wunden hinein. Es trat kein frisches Blut mehr aus, als er seinen Finger in den Stichkanal hineinschob. Picaud vermied es, den Toten anzusehen. Er teilte mit den meisten Menschen den Aberglauben, dass die Toten nicht fühllos waren. Daran hatte auch der Krieg nichts geändert, wo er hatte mit ansehen müssen, wie man Leichen dazu benutzte, Straßenfurchen auszugleichen, damit die Geschütze darüber rollen konnten. So nahm er die Untersuchung des Leichnams sorgsam vor. Abschließend unternahm er den Versuch, den leicht geöffneten Kiefer zu bewegen, doch dieser war starr. Die genaue Begutachtung der Wunden gab ihm Aufschluss über ihre Zahl:

»Ich zähle sechs Messerstiche«, sagte Picaud, zog das Schnupftuch von der Hand und tupfte mit den sauberen Ecken seine Finger ab. »Die Wunden sind alle tief und weit, sie wurden also ausnahmslos mit großer Kraft zugefügt.« Picaud machte eine Bewegung, die das Hin- und Herreißen des Messers andeuten sollte. »Sagen Sie mir, Monsieur Bacon: Welcher Mensch ist in der Lage, sich selbst solche Verletzungen zuzufügen?« Picaud hatte sich an den Kommissar gewandt, der ihm zuvor die herausfordernde Frage gestellt hatte.

»Ich habe schon von Seeleuten gehört, die sich einen Unterarm abgetrennt haben, um nicht von ihrem kenternden Boot in die Tiefe gerissen zu werden«, erwiderte Bacon unbeeindruckt.

»Der Admiral wurde schon seit einiger Zeit von Schwermut geplagt«, ließ sich nun unvermittelt der Diener vernehmen, »und sprach auch von seinem baldigen Ableben.«

»Tatsächlich? Dennoch war er offensichtlich in der Lage, sich mit seinem Selbstmord zu überraschen.« Picaud deutete auf die Leiche. »Er stach sich also mehrmals in den Leib, und beim letzten Stoß fiel er – oh, mon Dieu, ich bin erstochen! –«, Picaud warf die Arme empor, »hintenüber.

Jeder Körper hat den Impuls, sich gegen den Schmerz zu krümmen. In diesen hier wurde sechs Mal gestochen. Hätte der Admiral es selbst getan, so hätte ihn die Kraft nach dem dritten, vierten Stoß verlassen müssen, und dann wäre er in sich zusammengesunken. Aber er liegt hier auf dem Rücken. Wissen Sie, warum?« Picaud hob den noch immer blutigen Zeigefinger. »Weil ihn die Wucht der Stiche umwarf, die jemand gegen ihn führte!«

»Und dieser geheimnisvolle Mörder ist dann durchs Schlüsselloch wieder hinausgelangt!«, bemerkte Bacon spöttisch.

Picaud erhob sich und wandte sich an den Hotelier: »Monsieur Ledéax: Gibt es einen zweiten Schlüssel zu diesem Zimmer?«

»Hätte ich dann meine Einwilligung dazu gegeben, dass man dieses Schloss aufbricht?« Der Maître zeigte auf den Schlosser. Dieser wurde gerade von dem Kommissar entlassen. Anschließend wurde der Maître geschickt, einen Arzt zu holen – es kam Bewegung in die kleine Gruppe.

»Es fällt uns allen schwer, die Verzweiflung zu ermessen, die diesen Mann erfasst hatte«, sagte Kommissar Bart nun, als wollte er Picaud mit seinen Zweifeln aussöhnen.

»Hier geht es nicht um Verzweiflung, sondern um das medizinisch Mögliche«, versetzte Picaud. Die Ignoranz der anderen gegenüber den Ungereimtheiten in dieser Szenerie brachte ihn auf und ließ ihn seine Erkältung vergessen, die seine Nase zuschwellen ließ.

»Sehen Sie, wie tief dieses Messer in den Körper eingedrungen ist!« Picaud beugte sich erneut zu der Leiche, fasste das Messer, das bis zum Schaft im Herzen steckte, und zog es heraus. Nun quoll ein wenig hellrotes Blut hervor.

»Monsieur, ich darf doch bitten!« Bacon ging dieser Eingriff offenbar zu weit. »Sie werden die Leiche jetzt nicht mehr anfassen, bis der Arzt hier ist!«

Picaud hörte die Ermahnung kaum, denn das Messer, das er in der Hand hielt, hatte nicht die Klinge, die er erwartet hatte: Es war nicht sonderlich scharf.

»Was ist das für ein Messer?«

»Das ist eines der Tischmesser von Monsieur Villeneuve«, sagte der Diener. Er wahrte dabei jenes undurchdringliche Gesicht, mit dem er bereits das Aufbrechen des Zimmers beobachtet hatte.

»Ein Besteckmesser? Sie meinen, er hat damit gegessen

»Ja. Monsieur hat die meisten seiner Mahlzeiten auf dem Zimmer eingenommen, seit wir hier aus Morlaix eingetroffen sind.«

»Er hat also erst damit gegessen und hat sich dann damit umgebracht?« Diese Frage hatte Picaud nun an Kommissar Bacon gestellt, denn auch der musste aus seiner Erfahrung wissen, dass davon kaum auszugehen war. Dennoch erwiderte dieser:

»Es sollen sich schon Leute in der eigenen Waschschüssel ertränkt haben.«

»In der Bretagne vielleicht, aber wir reden hier von einem Vize-Admiral des Kaiserreiches Frankreich!

Es mag sein, dass ein Offizier, der sich entehrt sieht, seinem Leben ein Ende setzen will, aber Messieurs: Wenn der Ehrenkodex dies vorsieht, so sieht er auch vor, dass man dafür eine Schusswaffe verwendet. In all meinen Jahren in der Armee habe ich noch nie von einem Offizier gehört, der sich halbnackt in seiner Toilette mit einem Messer ersticht, mit dem er zuvor Marmelade aufs Brot schmierte!« Picaud, der spürte, wie ihm der Eifer das Gesicht rötete, deutete mit dem blutbeschmierten Messer auf den Waschtisch und das Kabinett des Abtritts.

»Geben Sie mir das«, sagte Bacon unwirsch und holte sein Schnupftuch aus der Tasche; mit dem Blut, das von der Klinge herabgelaufen war, wollte auch er nicht in Berührung kommen. Seinen zusammengezogenen Augenbrauen war anzusehen, wie sehr ihm Picauds Ausführungen missfielen: Der Tod des durch seine Niederlage berühmt gewordenen Admirals würde einen Skandal nach sich ziehen. Wenn daraus nun ein Mord wurde, brachte das die Behörden mehr als in Verlegenheit.

Picaud war entschlossen, die Angelegenheit nicht den Gepflogenheiten der Provinz zu überlassen, in denen nichts den gewohnten Gang stören durfte.

»Admiral Villeneuve hat also auf seinem Zimmer gegessen?«, wandte sich Picaud an den Diener. Dieser nickte. In seinem Blick lag etwas seltsam Mahnendes, so als wollte er sagen: Ich bin der Einzige, dem der Tod dieses Mannes zu Herzen geht, denn ich bin in diesem Raum der Einzige, der ihn kannte.

»Hat der Admiral heute Besuch empfangen?«, fragte Picaud weiter.

Erneut zögerte der Diener, so als vermutete er hinter der Frage eine Falle: »Nein, empfangen hat er niemanden.«

Die Wortwahl ließ Picaud nachhaken: »Aber jemand wollte ihn aufsuchen?«

Der Diener warf den Kommissaren einen unsicheren Blick zu.

»Eine Dame hat nach ihm gefragt.«

»Was für eine Dame?«

»Ihren Namen hat sie nicht genannt. Sie wünschte … Sie wollte den Herrn Admiral in einer persönlichen Angelegenheit sprechen.«

»Ach so. Nun ja, auch Admiräle sind nur Männer, aber …«

»Aber nein, Monsieur«, unterbrach ihn der Diener, »eine solche Dame war es nicht. Sie wirkte ein wenig fremdländisch

Eine solche Einschätzung aus dem Munde eines Mohren ließ Picaud eine durchaus exotische Erscheinung erwarten.

»Aber der Admiral wollte sie nicht sehen?«

»Er hat mir die Anweisung gegeben, keine Besucher zu ihm vorzulassen. Der Admiral fühlte sich in den letzten Tagen nicht wohl.« Wieder wanderte sein Blick zu dem Toten. »Die Monate auf See … die Zeit an Bord des englischen Schiffes … das hat ihn sehr ausgezehrt. Er konnte über viele Stunden hinweg sein Bett nicht mehr verlassen.«

»Nun, Monsieur …« Picaud entfernte sich ein wenig von der Leiche, denn er hatte den Eindruck, dass es dem Diener schwerfiel, in der Gegenwart seines toten Dienstherrn zu reden.

»Bacqué, François Bacqué«, sagte der Diener.

»Monsieur Bacqué: Heute Abend wollte er offenbar ausgehen – er trägt Stiefel.«

»Ja. Es sind dieselben Stiefel, mit denen er auf der Brücke der Bucentaure stand.« Bacqué senkte, offenbar überwältigt von der Erinnerung, den Kopf.

»Sie begleiten ihn schon länger, nicht wahr?«, fragte Picaud mit gesenkter Stimme. Der Diener nickte.

»Monsieur Bacqué: Glauben Sie, Admiral Villeneuve hat sich selbst getötet?«

Die Frage schien den Diener sehr aufzuwühlen. In seinem Gesicht zuckte es, als wollte etwas herausbrechen, das er nur mit größter Anstrengung zurückzuhalten vermochte.

»Sie können sich nicht vorstellen, wie dieser Mann gelitten hat! Mehrmals am Tag fragte er mich, ob ein Brief vom Marine- oder vom Kriegsministerium gekommen sei … oder vom Kaiser.« Das letzte Wort ließ er fallen wie eine Grabplatte. »Als wir einmal ausgegangen sind … Er sah sich oft um, fragte mich: François, hast du diese Mamelucken gesehen? Sind sie uns nicht gefolgt?«

»Er fühlte sich verfolgt?« Picaud zog überrascht die Augenbrauen hoch.

In diesem Moment wurde die Tür zum Gang geöffnet, und Kerzenschein kündigte den Arzt an. Er ging mit der für seine Zunft typischen Sachlichkeit zu Werke. Auch war er anscheinend vom Boten unterrichtet worden, um welch bekanntes Opfer es sich handelte, so dass er sich nicht mit Verwunderung aufhielt. Der Wortwechsel, der nun zwischen den Kommissaren und dem Arzt stattfand, gab Picaud die Gelegenheit, den Diener ganz aus dem Schein der Kerzen in einen dunklen Bereich des Zimmers zu führen und damit weg von der Aufmerksamkeit der anderen Herren.

»Wann haben Sie den Admiral zuletzt gesehen?«, setzte Picaud seine Befragung in leiserem Ton fort.

»Am frühen Abend, als ich das Geschirr abräumte.«

»Was tat der Admiral zu diesem Zeitpunkt?«

Die Gruppe um den Arzt ging in das Waschkabinett hinüber.

»Er beantwortete einen Brief«, sagte der Diener. »Er hatte ihn heute Nacht aus dem Ministerium erhalten.«

»Was stand darin?«

»Das weiß ich nicht, Monsieur, aber ich vermute, dass seine Bitte um Audienz beim Kaiser abgelehnt worden war. Er war sehr in sich gekehrt. Man hat allerlei Verleumdungen über ihn und sein Verhalten in der Schlacht in die Welt gesetzt, dem wollte er entgegentreten.«

»Sie haben also das Geschirr abgeräumt und sind gegangen?«

»Nein, der Admiral bat mich zuvor, ihm einige Dinge aus seiner Seekiste zu geben.«

»Welche Dinge?«

Bacqué deutete auf den Tisch:

»Einige Umschläge, in denen sich Geld befand. Schon vor der Schlacht …« Der Name wollte Bacqué nicht über die Lippen kommen. »… der Admiral hat für den Fall seines Ablebens einige Anweisungen getroffen und die Dienerschaft und Freunde bedacht.«

Picaud trat an den Tisch. Der schwache Lichtschimmer genügte, um zu erkennen, dass die Umschläge noch dort lagen. Ein Dieb war also nicht am Werk gewesen.

»Monsieur Bacqué, ich muss Ihnen diese Frage stellen, denn Sie sind derjenige, der den Admiral zuletzt gesehen hat: Waren Sie mit Ihrer Anstellung zufrieden? Wurden Sie für Ihre Arbeit bezahlt?«

Das dunkle Gesicht seines Gegenübers unterschied sich nicht vom Hintergrund, aber Picaud sah die hellen Zähne und wusste, dass Bacqué lächelte.

»Sie meinen, ich hätte hier mein eigenes Haiti inszeniert?«

Der Sklavenaufstand in der ehemaligen französischen Besitzung war allen in blutiger Erinnerung geblieben. »Ich wohne zwar in einem Dachzimmer, aber ich werde für meine Dienste bezahlt. Ich habe den Admiral sehr geschätzt, und er hat mich geschätzt.«

Tatsächlich hatte Picaud den Diener nicht im Verdacht. Und doch schien ihm, dass Bacqué etwas verschwieg – vielleicht etwas, das den Toten in einem ungünstigen Licht erscheinen lassen würde.

»Sie haben den Admiral dann alleine gelassen?«

»Ja, ich bat um Ausgang.«

»Wo sind Sie gewesen?«

Die kaum kenntliche Gestalt straffte sich wie in erhöhter Wachsamkeit. »Es hat nichts mit dem zu tun, was hier geschehen ist!« Nach einem kurzen Schweigen fuhr er fort: »Als ich zurückkehrte, fand ich die Tür verschlossen, und der Admiral antwortete nicht auf mein Klopfen.«

»Das hat Sie beunruhigt? Warum sind Sie nicht einfach davon ausgegangen, dass er sich zur Ruhe begeben hat?«

»Weil er sich in letzter Zeit häufiger unwohl fühlte. Er klagte bisweilen über Schmerzen in der Brust. Ich befürchtete daher, er könnte ohnmächtig geworden sein oder im Fieber liegen.«

»Aber Sie befürchteten nicht, er könnte sich ein Messer in die Brust gestoßen haben?«

Statt einer Antwort hörte Picaud den mitternächtlichen Stundenschlag.

»Es ist spät, Messieurs, wir wollen den Körper ins Palais de Justice bringen lassen und morgen fortfahren.« Bacon hatte dies zu seinem Kollegen und dem Arzt gesagt, als sie nun in das Zimmer zurückkehrten. Sobald sein Blick auf Picaud fiel, äußerte er unwirsch: »Sie sind ja immer noch hier!«

»Wir danken unserem geschätzten Kollegen aus Paris!«, sagte Kommissar Bart verbindlicher und nötigte Picaud einen Händedruck auf, der ihn wohl hinauskomplimentieren sollte. »Erweisen Sie uns die Ehre, uns morgen im Palais aufzusuchen? Fragen Sie nach Bacon, man wird Sie gleich zu ihm führen!«

Picaud ließ sich nicht darüber hinwegtäuschen, dass dies eine Vorladung war. Man würde sich bis dahin über ihn erkundigt haben und wissen, dass er weder Gendarm war noch irgendeine Bevollmächtigung aus Paris besaß. Und auch Bacon schien zu ahnen, dass eine Begegnung in seiner eigenen Amtsstube mehr nach seinem Sinn verlaufen würde.

»Ganz recht! Ich bin neugierig auf Ihre weiteren Überlegungen, Monsieur …?« Bacon hatte einen Zettel hervorgeholt, ebenso einen Bleistift. Das Papier breitete er mit wichtigtuerischer Geste auf dem Tisch aus, auf dem die Habseligkeiten des Admirals verstreut lagen. Der Kerzenleuchter, den der Kommissar abgestellt hatte, ließ die nautischen Instrumente, die ebenfalls dort lagen, golden funkeln: ein Fernglas, ein Sextant und ein geöffnetes Kästchen mit einem Zirkel darin. Ganz offensichtlich hatte der Admiral all dies vor seinem Tod noch einmal zur Hand genommen. Auch Picaud überkam die Versuchung, den ein oder anderen Gegenstand zu berühren, so als könnte ihm dies mehr über das Innenleben des Mannes verraten, dessen Schicksal sich auf dem weiten Meer entschieden und sich in dieser dumpfen Kammer erfüllt hatte.

»Monsieur …?«, wiederholte Bacon noch einmal fordernd.

»Monsieur Jean-Louis Picaud … man schreibt es mit ›c‹ wie ›Courage‹«, fügte er hinzu, denn wie die meisten machte Bacon den Fehler, »Picquer« zu schreiben. Bacon verbesserte sich kritzelnd und brummte: »Kommen Sie morgen in mein Büro – und sprechen Sie mit niemandem über das, was Sie hier heute Abend gehört und gesehen haben!«

Picaud schien es recht einfältig zu glauben, man könnte diesen Vorfall geheim halten, bis es eine offizielle Anweisung zu den Verlautbarungen gab – allein der Schlosser und der Hotelier hatten wahrscheinlich schon dafür gesorgt, dass die halbe Stadt davon wusste. Dennoch nickte Picaud und musste niesen. Nun fehlte ihm aber ein geeignetes Schnupftuch, denn seines war voller Blut, und er hatte es neben der Leiche liegen lassen. Der Diener bemerkte Picauds kurzes Tasten in der Westentasche und reichte ihm ein anderes aus dem Besitz des Admirals. Als Picaud es mit einem Dank entgegennahm, fing er Bacqués Blick auf, mit dem dieser ihn um Stillschweigen über das zwischen ihnen Gesagte zu bitten schien.

»Sie können es behalten«, sagte Bacqué. »Monsieur le Amiral braucht es nun nicht mehr.«

Mit einem Nicken bekräftige Picaud, dass sie eine andere Gelegenheit finden würden, unter vier Augen zu sprechen.

Kapitel 4

Er wälzte sich ruhelos, geplagt von den Unannehmlichkeiten der Erkältung, entkam ihnen bisweilen in den Schlaf, wurde wach, wenn sich seine Nase zugesetzt hatte, und musste niesen und husten.

Zwischen Halbschlaf und Traum sah er den Körper des Toten wieder vor sich, dessen Augen jedoch waren nicht leblos, sondern auf Picaud gerichtet. Sie forderten ihn ohne Worte auf: Gib dich nicht mit dem zufrieden, was der erste Eindruck folgern lässt; sieh genau hin!

Die Lage des Körpers, die zahlreichen Messerstiche, die Art des Messers – das hatte er gesehen, und es sprach gegen den Tod durch die eigene Hand. Aber da war noch etwas. Etwas, das er wahrgenommen hatte, aber bei dem sich eine Folgerung vor ihm entzog wie der Inhalt eines ungeöffneten Briefes: die Schriftstücke! Er hätte sich die Schriftstücke auf dem Schreibtisch ansehen sollen, am darauffolgenden Tag würde man ihm den Zugang zum Zimmer nicht mehr gestatten … Aber nein, das war es nicht. Wieder sah er den Leichnam vor sich. Die Haare im Nacken gebunden, altmodisch, Villeneuve stammte aus einer alten Adelsfamilie … Etwas stimmte nicht an der Art, wie er gekleidet war: Hose und Stiefel, das Hemd hatte er ausgezogen. Falls er sich selbst erstochen hatte: Wollte er vermeiden, dass sich das Messer im Stoff verfing? Oder … Mit einem Niesen kam Picaud die Erkenntnis: die Weste. Warum trug der Admiral eine Weste? Kein Hemd, aber eine Weste! Ausgehen konnte er so nicht. Er hatte sich entkleidet und dann eine Weste angezogen. Doch warum? Picaud war sich sicher: Man zog sich keine Weste an, um sich zu erdolchen!

Picaud schnäuzte sich heftig, das Denken wurde ihm zu mühsam. Dennoch war es um seinen Schlaf geschehen. Er setzte sich auf die Kante seiner Bettstatt, die von seinem leichten Fieber erhitzt war.

Das schwache Licht einer Straßenlaterne fiel in sein Zimmer; auf dem Tisch, der am Fenster stand, schimmerte ein Papier: Es war ein Brief, den er am Abend begonnen hatte. Er hatte es vor sich selbst mit seiner Erkältung entschuldigt, dass er die Arbeit daran abgebrochen hatte. Aber die Wahrheit war, dass es für ihn immer schwierig war, die richtigen Worte für einen Brief an Amélie zu finden. Wie unterhielt man eine der bekanntesten Salon-Damen von Paris? Eine unbedachte Äußerung, und man fiel bei ihr in Ungnade – oder wenn der Brief sie in einem ungünstigen Moment erreichte, oder … Das Schicksal des Admirals mochte sie wenig interessieren; sie hatte Picaud sogar ausdrücklich verboten, sie mit »Tressengeschichten« zu langweilen. Aber sie schätzte es sehr, spektakuläre Neuigkeiten als Erste zu erfahren, und mit ein wenig Glück und guten Straßen würde dieser Brief sie vor der offiziellen Verlautbarung erreichen. Picaud stand auf, entzündete die Kerze auf dem Tisch und warf einen Blick auf das, was er bereits geschrieben hatte: Es war nichts weiter als das Datum, denn schon an der Anrede war er verzweifelt. Sie sollte Wertschätzung ausdrücken, aber keine Anhänglichkeit, denn Amélie verachtete Anhänglichkeit. Deswegen war er aus Paris abgereist, ohne sich von ihr zu verabschieden. Auch Unaufmerksamkeit erzürnte sie. Er tunkte die Feder in das Tintenfass:

Verehrte Amélie – die Anrede war entsetzlich beliebig, da musste ihm noch etwas Besseres einfallen.

Sie sind überrascht, dass ich ohne ein Wort und wie in Eile Paris verließ? – Welchen Grund sollte er ihr dafür nennen? Gar keinen, das war es! Ihre Neugierde würde ihr Interesse an ihm wachhalten.

Ich bin nun den dritten Tag in der Bretagne und könnte Ihnen schon unzählige Absonderlichkeiten über die Provinz erzählen. Die Frauen haben hier alle etwas von Schankweibern, es ist leicht, ihr Wohlwollen zu gewinnen – würde sie ihm den recht billigen Versuch übelnehmen, sie eifersüchtig zu machen? Ein bretonisches Weib konnte ihr ebenso wenig Konkurrenz machen, wie sich Schafwolle messen konnte mit der Seide und der Musseline, in die Amélie sich kleidete und bettete. Das Blatt vor ihm verwandelte sich in ein Stück ihrer Haut, und vor sich sah er nun all die Verlockung, die von ihr ausging und an der sich nun zweifellos jemand anderes erfreuen würde.

Ach, ich werde mich nie daran gewöhnen, sie mit anderen teilen zu müssen! – nur ein Gedanke, aber heftig genug, um ihm ein Aufseufzen zu entlocken. Jeden seiner Briefe begleitete die Angst, durch eine unbedachte Formulierung, durch ein falsch gewähltes Wort in jene Gruppe der Liebhaber verbannt zu werden, die in ihren Gemächern nicht mehr empfangen wurden.

Sie würde den Brief ohnehin nicht beantworten, sie hatte nie einen seiner Briefe beantwortet. Die Ungewissheit war eine der kleinen Qualen, mit denen sie dafür sorgte, dass sie ihm im Gedächtnis blieb.

Das gab ihm einen Satz ein:

Beantworten Sie diesen Brief nicht, es würde sonst das liebgewonnene Bild von Ihnen zerstören, an das ich mich so gewöhnt habe.

Er notierte ihn unten auf dem Blatt. Er würde diesen Brief ohnehin noch einmal schreiben und noch einmal und noch einmal.

Aber jetzt glühte ihm der Kopf. Er legte sich wieder in sein Bett und schlief ein.

***

Was Bacqué betraf, erlebte Picaud am darauffolgenden Morgen eine unliebsame Überraschung. Picaud hatte den erfolglosen Versuch unternommen, sich den Schnupfen auszuwaschen: Er hatte seine Nase mit Salzwasser gespült und den Schnäuzer von den Spuren des Fließschnupfens gereinigt. Aber die Nase lief immer noch. So trat er also – das Schnupftuch des Admirals gegen die Nase gedrückt – an den Tresen des Hotels und fragte nach Bacqué. Der sei abgereist, bekam er zur Antwort. Oder vielmehr habe man ihn am frühen Morgen auf die Polizei gerufen, und dann habe man seine Sachen holen lassen.

»Soll das heißen, man hat Monsieur Bacqué verhaftet?«, fragte er beunruhigt.

»Nein, nein – so wie ich es verstanden habe, soll er die Familie aufsuchen und ihnen die persönlichen Gegenstände des Admirals geben. Er wurde ja offenbar von Monsieur de Villeneuve damit beauftragt, sein Erbe zu verteilen …«

»Aber warum diese Eile?« – Diese Frage stellte Picaud eher sich selbst, denn der Maître würde sie ihm nicht beantworten können. Man wollte den Fall ganz offenbar so schnell wie möglich zu den Akten legen, auch wenn das hieß, dass man sich mit voreiligen Schlüssen zufriedengab.

Da man Picaud ohnehin in den Palais de Justice beordert hatte, machte er sich auf den Weg – nicht, um dort Fragen zu beantworten, sondern um Fragen zu stellen. Als er aus der Tür in die Rue des Foulons trat und seinen Zweispitz aufsetzte, stieß er in jenem kleinen Moment der behinderten Sicht mit jemandem zusammen.

»Oh, pardon …«, entschuldigte er sich.

Die Person wich ihm rasch aus – es war eine junge Frau in einem Kleid mit ungewohnt farbenfrohen Mustern. Ihr Gesicht hatte eine für diese Breitengrade seltene braune Hautfarbe. Auch waren die Züge dieses Gesichts nicht von dem Typ, den man ansonsten in den Gassen sah: Ihre Lippen waren voller, mit einem stolzen Zug um die Mundwinkel. Die Wangenknochen lagen hoch, insgesamt wirkte ihr Gesicht eher klein. Unter der Kopfbedeckung, die nach der Mode wie ein Turban geschlungen war, lugten schwarze Haare hervor. Picaud kam die Bemerkung von der fremdländischen Frau in den Sinn, die nach Bacqués Aussage den Admiral am Vorabend hatte aufsuchen wollen. Da exotische Erscheinungen in der Bretagne eher selten waren, konnte er davon ausgehen, es hier mit derselben Person zu tun zu haben. Er verbeugte sich mit der Hand am Zweispitz, gab den Weg aber nicht frei.

»Madame, ich befürchte, der Monsieur, den Sie zu sprechen wünschen, kann Sie auch heute nicht empfangen!«, sagte er.

»Was wissen Sie von meinen Angelegenheiten«, erwiderte die Frau leicht ungehalten und raffte ein wenig den Rock, um anzuzeigen, dass sie vorbeizugehen wünschte.

»Zu wenig, Madame, bedauerlicherweise zu wenig!«

Nun sah sie ihm offen, fast ein wenig streitlustig, ins Gesicht:

»Monsieur, ich stamme aus einem Land, wo es für Männer höchst ungehörig ist, fremde Frauen einfach in der Gasse anzusprechen!«

»Aber nun sind Sie in Frankreich, und hier gilt es unter gewissen Umständen als unschicklich, das nicht zu tun. Ich bin mir allerdings bewusst, dass man es in Ägypten damit ganz anders hält.«

Ihr überraschter Gesichtsausdruck zeigte ihm, dass er recht hatte. Aufgrund ihrer Aufmachung hatte er in seiner Folgerung zwischen Griechenland und Ägypten geschwankt. Da Frankreichs Verbindungen nach Ägypten aber die innigeren waren, hatte er dieser Vermutung den Vorzug gegeben – und lag offensichtlich richtig.

»Auch wenn Sie das richtig einzuschätzen wissen, erlaubt es Ihnen dennoch nicht, mich zu belästigen. Geben Sie mir den Weg frei!«

Sie hielt immer noch ihren Rock.

Er hatte weder das Recht noch die Mittel, ein Gespräch mit ihr zu erzwingen, aber sein Instinkt sagte ihm, dass sie auf irgendeine Weise mit dem Ableben des Admirals in Verbindung stand.

Er nahm seinen Zweispitz ab, was ihn kleiner machte, als er ohnehin schon war. »Es ist mir eine Freude, eine Nachfahrin Kleopatras kennenzulernen!«

Sie straffte ihren Rücken und musterte ihn.

»Und ich freue mich, einen Nachfahren des Vercingetorix kennenzulernen«, versetzte sie.

»Dereinst war Rom das Schicksal unserer Völker, jetzt treffen wir uns auf den Stufen des Hotel de la Patrie.«

»Ich würde ja nicht auf den Stufen stehen, wenn Sie mir nicht den Weg versperren würden!«

»Ich sagte Ihnen doch, dass Ihr Weg vergeblich ist, denn Sie wollen offenbar zu Admiral Villeneuve.«

»Das ist richtig. Sind Sie ein Diener des Admirals?« Sie sagte das mit frechem Unterton, denn zweifelsohne war an seiner Kleidung zu erkennen, dass er kein Domestik war.

»Nein, Madame, ich bin Gendarm. Jean-Louis Picaud ist mein Name.«

»Sie tragen keine Uniform.«

»Es ist noch nicht ganz über meine Position entschieden, daher.

Standen Sie dem Admiral sehr nahe?«

»Was verstehen Sie darunter?«

»Sie haben ihn in den vergangenen Tagen aufgesucht und wollten ihn unter vier Augen …«

»Oh, Sie sollten sich schämen! Sie denken, weil ich einen alleinreisenden Mann aufsuche … Das ist wirklich unerhört!« Diesmal wandte sie sich ruckartig ab.

»Oh, nein, Madame!« Er machte Anstalten, sie am Ärmel zu fassen, doch sie machte eine rasche Bewegung zu ihrem Kopfputz hin und hielt ihm plötzlich eine lange, spitze Hutnadel unter die Nase. »Ich verschwende keine Zeit damit, um Hilfe zu rufen!«

»Sie wollen sich doch nicht mit dem Blut eines Gendarmen besudeln!«

»Ich habe Handschuhe an, das geht in Ordnung.«

In diesem Augenblick musste Picaud niesen. Da er in Schach gehalten wurde, konnte er nicht zum Schnupftuch greifen, um dem Einhalt zu gebieten. Also ging ein Tröpfchenregen auf die kleine Stichwaffe und den Handschuh der Dame nieder. Sie zog die Hand zurück.

»Monsieur, ich darf doch sehr bitten!«

»Sie sind nicht sehr standhaft darin, Ihre Ehre zu verteidigen – was in meinem Fall auch nicht nötig ist«, Picaud zog das Tuch hervor und schnäuzte sich, »denn sehen Sie: Ich frage nach Ihrer Verbindung zu dem Admiral, weil … der Bedauernswerte hat die vergangene Nacht nicht überlebt.«

»Er ist tot?«, fragte sie mehr verwundert als betroffen und säuberte die Hutnadel an ihren Handschuhen.

»Ja, wir fanden ihn in der vergangenen Nacht tot in seinem Zimmer.«

»Monsieur Bacqué sagte mir, dass der Admiral sich nicht wohl fühlte, aber ich wusste nicht, dass es so schlimm um ihn stand. Das tut mir leid.«

»Madame, er starb keines natürlichen Todes. Er hatte ein Messer in der Brust.« Picauds Blick folgte der kleinen Stichwaffe, die sein Gegenüber nun wieder in den Stoff des Turbans steckte.

»Er wurde ermordet? Oder hat er …?« Das Taktgefühl verbot ihr offenbar, es auszusprechen. Picaud missfiel es, dieses Gespräch am Zugang zum Hotel zu führen, und diesmal ließ sie sich durch eine kleine Geste dazu bringen, einige Schritte in die Gasse hinauszutreten.

»Madame, ich sprach Sie an, weil jeder, der den Admiral in den vergangenen Tagen gesehen hat, zur Aufklärung seines bedauerlichen Todes beitragen kann.«

»Aber ihn persönlich habe ich überhaupt nicht gesehen …«

»Und in welcher Angelegenheit wollten Sie ihn nun aufsuchen, Madame …«

Mit einer Geste forderte er sie auf, ihren Namen zu nennen. Die tragische Nachricht schien ihren Sinn ein wenig gewandelt zu haben, und bereitwillig antwortete sie:

»Ich bin Al-Masati, Arousha.«

»Madame … Arousha – was hat Sie zu dem Admiral geführt?«

»Ich bin im Auftrag meines Vaters hier. Ich sollte etwas bei Monsieur Villeneuve abholen, und da der Admiral sich nicht wohl fühlte, übergab es mir der Diener. Es war ursprünglich für meinen Vater bestimmt. Dieser sollte es schon in Ägypten erhalten − inzwischen leben wir in Frankreich, es ging dann aber durch verschiedene Hände in den Besitz des Admirals über. Eines Tages erhielten wir einen Brief von ihm: Man hatte es ihm anvertraut, damit er es sicher nach Frankreich bringt. Er wollte es uns per Bote zukommen lassen, aber er wurde zuvor zu der Flotte im Mittelmeer abkommandiert. Nun, Sie wissen: Er war dann lange auf See, und die Ereignisse nahmen eine unglückliche Wendung für ihn. Aber als er wieder nach Frankreich zurückgekehrt war, sahen wir endlich die Gelegenheit gekommen, dieses Stück zu erhalten. Mein Vater ist aber … aus verschiedenen Gründen nicht in der Lage, Paris zu verlassen, daher schickte er mich.«

In Picauds Kopf erschien eine Landkarte: Nordafrika, das Mittelmeer, Frankreich. Darauf drei Linien mit unterschiedlichem Verlauf, eine stand für die Reise des Admirals, eine für die Familie Aroushas und eine für den unbekannten Gegenstand, den die junge Frau offenbar nicht benennen wollte. Alle drei endeten in Rennes.

»Ich habe dem Admiral ein Billett geschickt, als ich in Rennes eintraf«, fuhr Arousha fort, »und er bat mich in dieses Hotel. Da der Admiral unpässlich war, habe ich nur mit seinem Diener sprechen können. Er gab mir lediglich den Gegenstand. Ich wollte aber erfahren, ob der Admiral mehr über dessen Herkunft weiß, wer ihn gefunden hat und wo …«

»Augenblick, Madame«, unterbrach Picaud ihren Redestrom. In seinen Schläfen pochte immer noch die Erkältung, die es ihm schwermachte, dem Gesagten zu folgen. »Was ist das für ein Gegenstand, von dem Sie sprechen? Was wurde aus Ägypten durch viele Hände nach Frankreich gebracht?«

»Das ist schwer zu sagen, denn für die meisten ist es wohl ein völlig belangloses Stück. Wer aber gewisse Kenntnisse besitzt, begreift auch den außergewöhnlichen Wert dieses Fundstücks.«

»Ein Wert in Gold?«

»Ja und nein. Der Wert des Materials beträgt wohl nur einige Sous, denn es ist aus Ton. Aber sein Wert für die Menschheit dürfte wohl unschätzbar sein.«

»Das sind wahrlich große Worte!«, sagte Picaud, der es für möglich hielt, dass sie zu orientalischen Übertreibungen neigte. »Sie würden dieses Ding aus Ton also als wertvoll bezeichnen – wertvoll genug, um einen Mann umzubringen, der es in seinem Besitz hat?«

Auf Aroushas Gesicht zeichnete sich ein beunruhigter Ausdruck ab: »Mit Sicherheit ist es ein sehr seltenes und durchaus begehrtes Objekt … und manche behaupten gar, es läge ein Fluch darauf.«

»Sie haben es an sich genommen. Wo befindet sich dieses außergewöhnliche Stück nun?«

»Ich wohne hier bei koptischen Freunden. Dort ist es.« Ein kaum wahrnehmbares Zittern in ihrer Stimme zeigte ihm, dass sie begriffen hatte, welche Gefahr ihr drohte.

»Es besteht die Möglichkeit, dass der Admiral Dieben zum Opfer gefallen ist, die ebendieses Objekt bei ihm vergebens suchten.«

»Ja.« Sie nickte, und mit einem Mal erschien sie Picaud ernst und nachdenklich.

»Bitte erklären Sie mir, worum genau es sich handelt!«

»Es ist … es wäre besser, wenn Sie es sich selbst ansehen.«

»Gut, ich werde Sie begleiten.«

Sie nickte zustimmend.

»Monsieur Picaud!« Der strenge, befehlsartige Tonfall dieser Worte ließ Picaud herumfahren. Kommissar Bart kam durch die Gasse auf ihn zu. »Darf ich Sie daran erinnern, dass Sie im Palais de Justice erwartet werden!«

Diese Vorladung war Picaud schon am Vorabend ungelegen erschienen, jetzt war sie ihm mehr als lästig. Um Aroushas Geheimnis zu erfahren, hätte er sich über seine Erkrankung hinweggesetzt – nicht aber, um sich von der Polizei gängeln zu lassen. Doch solange sein eigener dienstlicher Status nicht geklärt war, musste er sich gegenüber den hiesigen Behörden vorsichtig verhalten.

»Ich war eben auf dem Weg zu Ihnen«, sagte er.

»Monsieur.« Arousha verabschiedete sich dezent und mit einem kleinen Knicks, bevor sie sich abwandte und auf den Weg machte. Picaud ließ sie nur widerwillig gehen: Es hatte ein wenig Geschick bedurft, bis sie bereit gewesen war, sich mitzuteilen. Es konnte also sein, dass ihr die Unterbrechung die erwünschte Gelegenheit verschaffte, sich mit ihrem Geheimnis in die Unauffindbarkeit zurückzuziehen. Vor allem aber befürchtete er, dass die Mörder des Admirals nun auch ihr auf der Spur waren. Aber wenn er sich noch einmal mit ihr verständigt hätte, so wäre auch dem Kommissar ihre Rolle bei den Ereignissen offenbar geworden, und – es war wiederum nur ein Instinkt – das wollte Picaud vermeiden. Also konnte er ihr lediglich nachblicken, wie sie über die Rue des Foulons entschwand.

Kapitel 5

Bacon saß hinter einem großen Schreibtisch, auf dem zahlreiche Schriftstücke ausgebreitet lagen, als sollten sie der Zurschaustellung seiner Macht dienen. Denn zweifellos sprach jedes von einer Angelegenheit, über die er zu entscheiden hatte. Dieser Anblick bestätigte Picauds Befürchtung: Man hatte ihn nicht herbestellt, um ihn zu Rate zu ziehen, sondern um seinen unbequemen Fragen ein Ende zu bereiten. Im Angesicht dieses Hofstaates aus Papier sagte Bacon nun warnend:

»Sie haben hier überhaupt keinen Posten als Gendarm, wie Sie behauptet haben! Wissen Sie, dass ich Sie für diese Anmaßung festsetzen könnte?«

Picaud hatte den Zweispitz unter den Arm geklemmt und zog sich die Handschuhe von den Fingern:

»Monsieur, ich habe nie behauptet, hier Gendarm zu sein, das hat der Maître gesagt. Als Polizist sollten Sie den Details mehr Aufmerksamkeit schenken.«

»Sie haben dieser Anrede nicht widersprochen!«

»Die Stammrolle der Rheinarmee führt mich als Gendarm.« Picaud zog seine Dienstpapiere aus der Innentasche seines Rockes. »Und nach dem Austerlitz-Feldzug …« – er ließ das Wort einen Moment im Raum schweben, denn der Kaiser selbst sorgte dafür, dass den Austerlitz-Veteranen besondere Wertschätzung zuteilwurde –, »… nach dem Austerlitz-Feldzug hat mein Colonel mich für einen Posten in der Gendarmerie empfohlen. Man sagte mir den Rang eines Leutnants in der 4e Légion zu.« Da Picaud das Schreiben in der Hand hielt und keine Anstalten machte, es seinem Gegenüber zu reichen, war Bacon gezwungen aufzustehen, um es entgegenzunehmen. Er tat es mit einer ruppigen Bewegung und ließ sich auf seinen Stuhl zurückfallen.

»Man weiß hier aber nichts von Ihrem Anspruch auf solch einen Posten.« Bacon studierte das Dokument. »Und ich habe daher entschieden, dass Sie Rennes unverzüglich zu verlassen haben!«

»So wie Sie Monsieur Bacqué aufgefordert haben, Rennes heute zu verlassen?«, sagte Picaud.

»Die Familie des Admirals hat ein Recht darauf, umgehend von seinem Ableben zu erfahren!«

»Und was wird Monsieur Bacqué der Familie mitteilen? Etwa, dass der Admiral den nicht sehr ehrenwerten Ausweg des Selbstmordes wählte?«

Bacon machte eine »bedauerlich, aber zutreffend«-Geste, indem er die flache Hand an die Weste legte.

»Dann erklären Sie mir eins, Monsieur: Warum trug der Admiral seine Weste über einem ansonsten bloßen Oberkörper?« Picaud stützte sich mit beiden Händen auf den Schreibtisch.

»Es war frisch in dem Raum«, entgegnete Bacon mit aufgesetzter Gleichgültigkeit. Picaud fiel das Sprechen schwer, sein Hals war entzündet, aber diese lapidare Folgerung konnte er nicht hinnehmen: »Ach, kommen Sie! Versetzen Sie sich in diesen Mann: Sie haben beschlossen, Ihrem Leben ein Ende zu setzen, Sie wissen, dass die ewige Verdammnis für diese Tat auf Sie wartet, und das Letzte, woran Sie denken, ist: Mon Dieu, das ist aber frisch hier?!«

Kommissar Bart, der sich im Hintergrund hielt, lachte auf und wurde von Bacon mit einem Blick ermahnt.

»Und was denken Sie, warum er eine Weste trug?«, fragte Bacon, hörbar unmutig darüber, dass er sich eine Erklärung dafür geben lassen musste.

»Ein Mann will zu Bett zu gehen. Er entkleidet sich bis auf Hose und Stiefel und geht in das Kabinett hinüber, um sich zu waschen.« Picaud ahmte die beschriebenen Bewegungen nach. »Und dann klopft es.« Er deutete zur Tür. »Der Admiral muss davon ausgehen, dass es sein zurückgekehrter Diener ist, und fordert ihn zum Eintreten auf. Dann aber bemerkt er, dass ein Fremder sein Zimmer betreten hat. Monsieur, was erfordern die Regeln der Schicklichkeit in einem solchen Moment? – Dass man sich angemessen bedeckt. Also zieht er seine Weste an und tritt dem Fremdling gegenüber. Der hat den Moment genutzt und die Tür von innen verriegelt, damit er nicht von dem zurückkehrenden Diener überrascht wird, denn er hat ein heikles Anliegen.«

»Sie meinen, er ist als Mörder gekommen?«

»Nein, Monsieur, denn ein weiteres Detail lässt den Schluss zu, dass der Mord nicht geplant war.«

Er ließ Bacon Zeit, das Detail zu ergänzen, doch der Kommissar ließ nur einen unmutigen Laut hören.

»Das Messer, Monsieur Bacon. Wir müssten es doch mit einem ziemlichen Kretin von einem Mörder zu tun haben, der kein angemessenes Mordwerkzeug mitbringt und sich stattdessen mit einem Besteckmesser behilft!«

»So, und wie ist Ihr geheimnisvoller Besucher entkommen? Die Fenster waren geschlossen.«

»Aber waren sie auch verschlossen? Das Zimmer ist im ersten Stockwerk, es gibt eine Brüstung davor und ein Sims, es ist kein Kunststück, darüber ungesehen zu entkommen, immerhin war es dunkel!«

»Er kam also nicht in der Absicht, einen Mord zu begehen …«

»Nein. Unser Besucher hat ein Anliegen, das er vorträgt. Aber der Admiral weist ihn ab, brüsk womöglich …« Picaud bemerkte, dass er sich von seinem eigenen Eifer hatte hinreißen lassen: Die Oberflächlichkeit des Kommissars hätte ihn fast dazu verleitet, das preiszugeben, was er auf den Stufen des Hotels de la Patrie erfahren hatte.

»Was für ein Anliegen soll das gewesen sein?«, hakte Bacon sogleich nach. »Er kannte hier niemanden.«

Picaud verschaffte sich ein bisschen Zeit, indem er sich die Nase putzte. »Die Bretagne ist eine unruhige Provinz.«

Bei diesem Wort zuckte Bacon leicht – nein, die Bretonen hatten sich nicht daran gewöhnt, eine Provinz zu sein, deren Geschicke von Paris aus gelenkt wurden.

Bacon stieß geräuschvoll Luft aus geblähten Nasenflügeln und faltete die Hände auf den Papieren: »Ach, sind Sie etwa vom Polizeiministerium hergeschickt worden auf der Suche nach der großen, englisch-bretonischen Verschwörung?«

Dem war zwar nicht so, aber Picaud wollte es sich zunutze machen, dass man ihn für einen Abgesandten des ebenso allmächtigen wie gefürchteten Polizeiministers Joseph Fouché hielt. Er sah sich nach einem Stuhl um, setzte sich, tupfte sich die Nase und sagte: »Man ist in Paris allzu besorgt über die Unruhestifter, die von England herüberkommen: Agenten, Exilanten, Abenteurer. Und nun haben wir einen toten Admiral. Man könnte diesen Todesfall in Paris dahingehend auslegen, dass man hier das Problem mit den Separatisten nicht im Griff hat.«

»Wie meinen Sie das?« In Bacons Augen blitzte Misstrauen.

»Man könnte etwa mutmaßen, dass der Admiral gestern Besuch erhielt von einigen bretonischen Patrioten. Immerhin hatte der Admiral – wenngleich auch unfreiwillig – eine Weile in England verbracht, und er war ein erfahrener Seemann. Die Bretonen versuchen schon seit einiger Zeit, einen Brückenkopf nach England zu eröffnen, getreu dem Motto: Die Feinde deiner Feinde sind deine Freunde. Sie suchten also in dem Admiral Unterstützung, der aber erwies sich dem Kaiserreich gegenüber loyal und musste wegen seiner Mitwisserschaft sterben.«

»Absurd!«, sagte Bacon nur.

»Vielleicht – aber Gerüchte sind gerne absurd und immer schneller als die Wahrheit. Ich würde Ihnen gerne auf der Suche nach dieser Wahrheit behilflich sein. Aber leider bestehen Sie darauf, dass ich Rennes verlasse.«

»Sie halten sich offenbar für sehr gewitzt.«

»Das ist ganz und gar abhängig von der Einfalt meines Gegenübers.«

Bacon wahrte eine undurchdringliche Miene, aber Picaud ahnte seine Gedanken: Der Kommissar fragte sich, wer von ihnen beiden in der stärkeren Position war.

»Alle Ihre Überlegungen sind reine Zeitverschwendung«, sagte er dann. »Der Admiral hat einen Brief an seine Frau hinterlassen, in dem er seine bedauerlichen Absichten erklärt.«

»Die Absicht, sich zu töten?«

»Ja, Monsieur, in diesem Brief sagt er, dass das Leben ihm eine Last geworden sei …«

»Ah, als ich vergangene Nacht mit diesem Schnupfen zu kämpfen hatte, hätte ich dasselbe schreiben mögen! Hätte man mich heute Morgen mit durchschnittener Kehle aufgefunden, wäre Ihre Folgerung also gewesen, dass ich mir das Leben genommen hätte?«

»Der Admiral hatte andere Gründe, von denen er in diesem Brief schreibt: dass die Verantwortung für das Geschehene ihn erdrückt und nicht einmal der Glaube ihm noch Trost spendet.«

»Zeigen Sie mir diesen Brief!«

Nun hob Bacon die Augenbrauen und lächelte, wie man es tat, wenn man eine charmante Idee hatte: »Natürlich nicht. Der Brief war für Madame Villeneuve bestimmt, und dorthin soll Monsieur Bacqué ihn auch bringen.

Sie können mir aber glauben, dass der Brief die Verzweiflung des Admirals offenlegt. Zudem wissen wir von Monsieur Bacqué, dass der Admiral hier in Rennes eine Trauerfeier für seine Person bezahlt hat und dass er vorgestern ein großes Diner für seinen Arzt gab. Das kann man dann wohl als Abschiedsessen bezeichnen.«

»Nach Monaten in englischer Gefangenschaft, nach Monaten mit englischem Essen – diesem bedauernswerten Mann blieb wirklich nichts erspart! – gibt Monsieur le Amiral ein Diner, und Sie folgern daraus, dass er sich umbringen wollte? Ich hätte da einen Schluss, der weitaus näher liegt: Wenn ihm das Leben unerträglich geworden wäre, dann hätte er sich eher im Anblick von englischer Minzsauce umgebracht und nicht bei seiner Rückkehr nach Frankreich, wo seine Familie auf ihn wartet!

Und ich frage mich, wozu genau der Admiral einen Arzt hätte konsultieren sollen, …«

»Er hatte Herzbeschwerden, erklärte uns Monsieur Bacqué.«

»… wenn er vorhatte, sich umzubringen!«, beendete Picaud seinen Satz. Dem Kommissar war anzumerken, dass er schwankte zwischen dem Willen, einen möglichen Mord aufzuklären, und dem Unwillen, sich dies von einem Gendarmen aus Paris aufdrängen zu lassen. Doch dann lenkte er ein:

»Nun, also: Ich werde die Protokolle, die nach Paris gehen sollen, noch bis morgen früh zurückhalten. Wenn ich sie aber mit der Erklärung des Selbstmordes abgeschickt habe, werde ich es nicht dulden, dass man daran zweifelt.«

»Wie Sie wünschen, Monsieur le Commissaire.« Picaud nahm seinen Hut und die Papiere. Picaud war also ein Tag Zeit gegeben, die geheimnisvolle Ägypterin wiederzufinden und eine weitere Frage zu klären: Hatte der Admiral ihr den besagten Gegenstand vielleicht nicht aushändigen wollen, und sie war deshalb nach dem Weggang des Dieners zurückgekehrt, um das Begehrte an sich zu nehmen? Warum aber hätte sie dann an diesem Morgen noch einmal das Hotel aufgesucht?

Kapitel 6

Als Picaud den Palais de Justice verließ, empfing ihn Sonnenschein, und das reizte seine Nase erneut: Er musste niesen. Er betrachtete das Monogramm des Admirals auf dem Schnupftuch. Dieses vollgeschnäuzte Stück Stoff verband ihn nun mit der Weltgeschichte, denn von der Schlacht bei Trafalgar würde man sicher ebenso lange sprechen wie von der Schlacht des Varus. Man würde sie aber nicht die Schlacht des Villeneuves nennen.

Und für diesen mittlerweile toten Mann werde ich also nun meine Aussichten als Gendarm aufs Spiel setzen, dachte sich Picaud. Für einen Mann von adliger Abstammung, der es vor einem Jahrzehnt vielleicht noch als Zumutung angesehen hätte, sich mit Picaud, dem Sohn eines Viehhändlers, in einem Raum aufhalten zu müssen. Ob das Herz des Admirals, in dem am Ende ein Messer steckte, so sehr für das neue Frankreich hatte schlagen können, wie es Picauds Herz tat? Aber Gerechtigkeit ohne Ansehen der Person bedeutete eben auch, den Aristokraten ihren Geburtsstand nicht vorzuwerfen. Mochte man sie in der Revolution auch zu Tausenden hingerichtet haben: Der Aderlass des Überkommenen war vorüber, und der Mörder des Admirals gehörte überführt.

***

Auf dem Place des Lices wurde Markt abgehalten. Eine frische und freche Frühlingssonne schien auf die altersschwachen Gebäude. Diese gebeugten Häuser mit ihren überhängenden Traufen waren die letzten ihrer Generation – vor beinahe hundert Jahren hatte ein Feuer in Rennes gewütet, und mit ihm war das Mittelalter aus den Gassen gelöscht worden. Dass es Brandstiftung gewesen sei, munkelte man auf Marktplätzen wie diesem bis heute. Für die Bretonen spielten die Jahrzehnte und Jahrhunderte keine Rolle, denn in ihrer Geschichte ging es um die immer selben Kräfte: Eigenständigkeit und Unterdrückung. Für Letztere stand das neue Rennes mit den geraden Straßen und den aus Stein gemauerten Häusern, mit den Amtsgebäuden und mathematischen Fassaden.

Hier, auf dem Place des Lices dagegen konnte man noch das alte Rennes sehen, hier standen die Häuser zueinandergeneigt, ihr Gebälk ächzte, und das rautenförmige Fachwerk erinnerte an die Runzeln alter Gesichter, die miteinander tuschelten: Von petite Anne, Herzogin der Bretagne, die sich in den Mauern der Stadt vor der erzwungenen Eheschließung mit dem französischen König zu verbergen versucht hatte – vergeblich; und von dem Admiral, den man tot in seinem Zimmer im Hotel de la Patrie aufgefunden hatte.

Picaud hörte den Namen Villeneuve einige Mal, und so spitzte er die Ohren auf seinem Weg durch das Gewimmel von Menschen, Tieren und Gerüchen. Er kam an einem Stand vorüber, der getrocknete Kräuter anbot. Zu seiner Enttäuschung fiel sein Blick nirgends auf frische Limonen. Es war noch früh im Jahr, aber in Paris konnte man sie bei jedem Limonadenhändler bekommen. Der Biss in das Fruchtfleisch verlieh ihm wie nichts anderes Frische im Kopf.

Der säuerlich würzige Duft von Käse stieg ihm in die Nase. Die gelben und weißen Laibe zogen vor allem die Fliegen an. Die Katzen lockte ein übler Gestank: Der Boden vor einem Fischstand war mit Eingeweiden, Blut und Schuppen beschmiert, und die Tiere leckten gierig davon.

»Greifen Sie zu! Alles frisch von heute!«, forderte ihn ein Mann auf, dessen blaugrauer Gehrock sudelig schimmerte wie die Haut der toten Fische, zwischen die er nun seine Hand tauchte. Aufgeschlitzte Bäuche und schleimige tote Augen vermengten sich in einem stinkenden Pfuhl, und Picaud, der sich von jeher vor Fisch ekelte, winkte ab. Dabei fing er den Blick eines Einarmigen auf, der einen Bauchladen vor sich hertrug. Derselbe Mann war auch vor dem Palais de Justice auf und ab gegangen. Das war seine Art, Käufer zu finden, aber in Anbetracht der Ereignisse machte Picaud die erneute Begegnung misstrauisch.

»Der Admiral konnte eben mit der Schande nicht mehr leben. Nach allem, was man hört, ist diese Seeschlacht bei Trafalgar nicht gut für Frankreich ausgegangen«, sagte gerade ein Fleischer am Stand nebenan.

Ein Herr im Bürgerrock merkte an, das wisse man doch gar nicht genau. Überhaupt hätten die ausländischen Zeitungen übertrieben, die den französischen Streitkräften immerzu eine Niederlage andichten wollten …

Was der Bürger sonst noch sagte, ging in dem Geschrei einer Kinderbande unter, die durch die Gassen zwischen den Ständen stürmte, die einen barfuß, die anderen mit laut auf dem Pflaster klappernden Holzpantinen.

»Seht’s euch vor, ihr Lausebande!«, rief eine Frau am Spinnrad hinter ihnen her. Sie löste einen Holzschuh vom Fuß. Der war so grob und dick, dass man kaum den Unterschied zum Holz sah.

»Das Meer macht eben, was es will«, sagte sie. Picaud sah einige nicken. Sie dachten hier alle wie Insulaner, obwohl die Bretagne nicht vollends vom Wasser umgeben war. Aber jeder kannte jemanden, der vom Meer lebte, und also kannte jeder jemanden, der auf dem Meer geblieben war.

»So viele Jungs ertrunken«, sagte die Frau am Spinnrad, »wenn er schuld ist« – sie nickte zur Rue des Foulons –, »dann werden die ihm eine Hölle geben.«

Um weiter zuhören zu können, gab Picaud vor, sich die Spinnware auf dem Tisch anzusehen, denn auf einem Schild war von Hundewolle zu lesen.

»Was geht uns Frankreichs Unglück an«, murrte ein krummer Alter, der im Rauch seiner Pfeife vorüberging. »Wenn englische Schiffe vor unserer Küste aufkreuzen, tät ich denen selbst beim Landen helfen!«

Die Frau am Spinnrad antwortete ihm auf Bretonisch, und auch wenn Picaud diese Sprache nicht verstand, so wusste er doch, dass die Frau den Alten ermahnte, solche Aussagen besser gleich auf Bretonisch zu machen, damit nur die es verstanden, die ihm darin recht gaben. In seiner Eigenschaft als Gendarm würde er sie zur Rechenschaft ziehen müssen, wenn sie Bretonisch sprachen, denn die Republik hatte dies verboten, und der Kaiser hatte das Verbot nicht zurückgenommen. Aber der Kaiser regierte sein Reich wie die Römer ihr Imperium: Die Gebräuche der Provinzen blieben unangetastet, solange die Steuern bezahlt wurden und die öffentliche Ordnung erhalten blieb. So sprach man in der Eifel eben immer noch Deutsch und in der Bretagne eben Bretonisch.

»Das ist eine gute, fein gesponnene Wolle!«, sagte die Frau nun zu Picaud und hielt ihm ein Knäuel hin. Sie sprach sehr laut und sehr bemüht mit dem, was sie für ein gewähltes Französisch hielt. Picaud war an ihrer Auslage stehen geblieben, warf einen verstohlenen Blick auf den Einarmigen, der nun hinter ihm vorbeischlenderte.

»Ist das tatsächlich Hundewolle?«, fragte Picaud die Frau.

»Jaja, Hundewolle!« Mit dem nackten Fuß stupste sie einen dunklen Schatten unter dem Stand an. Dort lag ein großer schwarzer Hund, der die Berührung mit einem pflichtschuldigen Schwanzwedeln beantwortete.

»Aus der dichten, weichen Unterwolle, fühlen Sie mal!« Die Frau nickte zu den grau-schwarzen Knäueln hin. Picaud zog den Handschuh aus und strich über den zarten Flaum.

»Erstaunlich! Verarbeitet man sie genauso wie die Wolle von Schafen?«

»Jaja.« Die Frau unterbrach ihr Tun am Spinnrad und blinzelte gegen die Sonne an. »Sie sind nicht von hier, nicht wahr? Kommen Sie aus Paris?« Ihre laute Frage klang wie das Quaken einer Entenmutter, die ihre Küken warnen will, dachte Picaud. Er spürte die misstrauische Aufmerksamkeit, die ihn nun umgab. Aus Paris waren zahlreiche Verordnungen gekommen, die bei den Bretonen auf Gegenwehr gestoßen waren. Noch im Vorjahr 1805 hatten die Chouans von sich reden gemacht, die im Namen des Königs erst gegen die Republik und dann gegen das Kaiserreich rebelliert hatten.

»Nein, ich komme aus Lyon«, sagte Picaud, denn dort war er geboren.

»Ach, aus Lyon!«, sagte die Frau laut zu den Zuhörern, die vorgaben, mit etwas anderem beschäftigt zu sein, und es klang wie ein Freispruch in der ersten Instanz.

»Und was führt Sie zu uns nach Rennes?«

»Familienangelegenheiten«, sagte Picaud und zog seinen Handschuh wieder an.

Die Angelegenheiten der französischen Familie, ergänzte er in Gedanken.

»Da kann Ihre Frau Ihnen schöne Socken draus stricken!«, fuhr die Spinnerin geschäftstüchtig fort und widmete sich wieder ihrer Wolle.

Die Vorstellung, Amélie stricken zu sehen, belustigte ihn, nicht nur weil sie nicht seine Frau war: Sie strickte auch nicht für ihren Mann. Sie verachtete jede Form der Fürsorglichkeit, und also schätzte sie auch jene Männer gering, die darin eine der wichtigsten weiblichen Tugenden sahen.

»Da werde ich mir erst eine bretonische Frau mit geschickten Händen suchen müssen«, sagte er mit Blick auf ihre Finger, durch die ein entstehender Faden lief.

»Ach ja, Monsieur möchte sich wohl gleich ne lange Unterhose anmessen lassen«, erwiderte die Frau heiter. Sie war sich ihres Publikums bewusst und gab dem Wort »Unterhose« eine Betonung, die zeigte, dass es sich dabei um ein sonderbares auswärtiges Kleidungsstück handelte, von dem man gerüchteweise gehört hatte.

»Ah, Madame, wenn das die einzige Art ist, wie man sich in der Bretagne warm hält …« Den Rest des Satz überließ Picaud der Belustigung. Der Einarmige hatte das Markttreiben bereits verlassen, wie Picaud mit einem Blick in die Menge feststellte.

Picaud tippte sich an den Zweispitz und setzte seinen Weg fort.

»Sei’s, wie’s ist, ob’s uns gefällt oder nicht«, sagte der Fleischer. »Wir sitzen mit den Franzosen in einem Boot, im wahrsten Sinne des Wortes, denn auch unsre Jungs sind bei Trafalgar ertrunken. Jetzt hat der Admiral seine Strafe! Das war eine höhere Macht, die den gerichtet hat.«

Durch eine Wolke säuerlichen Buttergeruchs, vorbei an dem vergorenen Duft verschütteten Weins, umschmeichelt von dem Bukett, das Salben und Seifen entströmte, trat Picaud aus den Budengassen hervor. Die Zugtiere, die am Rande wieder angeschirrt wurden, hatten stattliche Misthaufen auf dem Pflaster hinterlassen. Ein Hund wälzte sich voll Wonne darin. Ein schwergewichtiger Fuhrmann drohte den Kindern mit der Peitsche, die versuchten, ein wenig Rosshaar zu ergattern, eine Magd mit gestärkter Haube tippelte um die Hinterlassenschaften und die stinkenden Pfützen herum. Die bretonischen Bemerkungen, die die Pfeife rauchenden Burschen ihr hinterhersagten, konnte sich Picaud selbst übersetzen. Eine Sau schrie fürchterlich, als man sie auf den letzten Weg zerrte.

Und da war auch wieder der Einarmige. Diesmal sprach er Picaud an: »He, Kamerad, geh nicht einfach vorüber!«

Der graubraune, abgetragene Gehrock sorgte dafür, dass er mit dem Hintergrund verschwamm oder, wie es Picaud in diesem Moment eher schien: aus diesem hervortrat. Der Mann deutete über seinen Bauchladen. In der Holzlade reihten sich Papiertüten.

»Bonbons«, sagte der Mann, »mit Bergamotte aus Nancy, Veilchenpastillen, Lakritze, wie der Kaiser es schätzt, Karamell und Sahne, Salbei …«

Das würde Picauds entzündetem Hals sicher guttun – aber der Mann hatte ihn wohl kaum aus einem Gespür für Unpässlichkeiten angesprochen.

»Mit Bienenwachs getrennt!« Er hob einen der Beutel an und ließ zum Beweis den Inhalt klappern.

Picaud trat heran. Der Mann trug eine Augenklappe, und das verbliebene Auge blickte in doppelter Wachsamkeit.

»Was willst du für einen Beutel mit Salbeibonbons haben?«, fragte Picaud.

»Zehn Sous für dich. – Unter welchem Kuckuck bist du marschiert?«

Der Schnäuzer kennzeichnete Picaud als Veteranen, und nur die Soldaten und Veteranen der Grande Armée erlaubten einander, von den Adler-Standarten als »Kuckuck« zu sprechen.

»5. Corps, 51. Regiment.«

»Marschall Lannes? Austerlitz? Wacker! Als Voltigeur?«

Picauds geringe Körpergröße verriet, dass er zu denen gehörte, die man gerne für die Spähdienste bei der leichten Infanterie einsetzte. Er nickte, als er dem Mann das Geld gab.

»Und wer bezahlt dich dafür, dass du mir mit deinem einen Auge folgst?«, fragte Picaud. Der Mann lächelte.

»Die Frage ist eher, wer am meisten dafür bezahlt. Nimm dich in Acht, Kamerad«, sagte der Veteran, als er Picaud den Beutel reichte. »Es schleicht seltsames Volk hier durch die Gassen.« Und dabei nickte er, wie anscheinend jeder in Rennes in diesen Tagen, in Richtung der Rue des Foulon. »Sie kommen nachts raus und holen diejenigen, deren Stunde gekommen ist. Komm ihnen nicht in die Quere!«

»Was hast du in der vergangenen Nacht gesehen?«, fragte Picaud und zeigte ihm eine Münze.

»Mit diesem Auge«, er tippte sich auf das gesunde, »gar nichts! Aber mit diesem Auge«, er tippte sich auf die Augenklappe, »habe ich die Teufelsdiener gesehen, die gekommen sind, um ihn zu holen!«

»Was hast du in der Rue des Foulon gesehen?«, fragte Picaud noch einmal.

»Es gibt keinen Ort, den ich in der vergangenen Nacht mehr gemieden hätte!«

»Und was treibt dich nachts in die Gassen, Freund?«, fragte Picaud, der langsam ungeduldig wurde.

»Der Arm, den ich verloren hab!« Der Stumpen zuckte unter dem aufgesteckten Ärmel. »Was von ihm übrig ist, schreit nachts nach der verlorenen Hälfte, und ich muss sie suchen. Hab sie auch mal gesehen: im Maul eines Wolfshundes! Der lief hier durch die Gassen. Nimm dich in Acht, Kamerad!«

Es bestand die Möglichkeit, dass der Bedauernswerte im Krieg nicht nur einen Arm und ein Auge verloren hatte, sondern auch den Verstand. Und es bestand die Möglichkeit, dass er sich nur verwirrt stellte.

»Wo kann ich die Frau mit dem Turban finden?«, fragte Picaud.

Der Einarmige lächelte.

Kapitel 7

Sein Weg führte ihn tiefer in den alten Teil Rennes’, zwischen die Fachwerkhäuser und Schuppen, vorbei an Hühnerhöfen und Schweinekoben, wo Laubengänge, Mauernischen, Treppen und Innenhöfe sich von selbst zu vermehren schienen. Eine schmale Gasse entließ ihn auf einen kleinen Platz, der von zwei brüchigen Fachwerkhäusern und einer Mauer gebildet wurde, aus der an vielen Stellen das Kraut emporwuchs. Auch ein Obstbäumchen hatte seine Wurzeln dort vergraben und blühte gegen das Alter der Steine an. Das Häuschen ihm gegenüber musste die Adresse sein, die der Einarmige genannt hatte.

Kaum dass er geklopft hatte, erhob sich im Inneren ein Gepolter, so als würde jemand in großem Zorn Möbel beiseitestoßen, schwere Tritte waren zu hören – für einen Moment kam Picaud die Befürchtung, der Einarmige könnte ihn in eine Falle geschickt haben, denn da er als Invalide nicht selbst in der Lage war, ihn zu überwältigen …

Nun hörte er eine Frauenstimme: »Diaboli!«, darauf folgte ein Scheppern.

In dem Häuschen ging ein Tumult vor sich. Picaud stieß die Tür auf. Vor ihm lag ein kleiner dunkler Gang, die Stimme kam von dessen Ende.

»Mater Maria et Santos!«, rief eine andere Frauenstimme.

Picaud hastete durch den Gang – der Lärm kam aus dem Raum vor ihm. In der Tür hielt er inne: Zwei Gestalten, ganz in schwarze Mäntel gehüllt, packten allerlei Gegenstände, warfen sie zu Boden, fegten Utensilien von einem großen Tisch.

»Eccola!«, rief der eine und hielt etwas in die Höhe.

In der Ecke stand Arousha, schützend vor einer alten, gebeugten Frau.

»Monsieur Picaud!«, rief Arousha erleichtert aus. »Monsieur le Gendarm!«

Diese Anrede machte die Eindringlinge auf ihn aufmerksam.

»Aufhören!«, rief Picaud ihnen entgegen. Sie durchsuchten das Haus offenbar nach dem begehrten Gegenstand, und sie wollten dabei nicht erkannt werden: Ihre Gesichter waren hinter schwarzen Halbmasken verborgen.

»Diaboli! Diaboli!« Die krumme Alte wagte sich hinter Arousha hervor und schlug mit dem Stock nach dem, der ihr am nächsten stand.

»La ragazza!«, rief er seinem Kumpan zu.

»Gebt das zurück!« Arousha ging auf den einen Mann zu und wurde sogleich von ihm beim Arm gepackt.

Einer der Diebe hielt einen kleinen, braunen Gegenstand in der Hand. Das musste das Objekt der Begierde sein. Picaud stürzte sich auf den Eindringling, der Arousha mit sich zu zerren suchte – da warf sich der zweite Mann in Picauds Seite und riss ihn zu Boden. Er befreite sich, indem er mit dem Ellbogen hinter sich stieß. Doch sein Angreifer packte ihn an den Schultern. Picaud versuchte, auf die Füße zu kommen, denn er sah, wie Arousha darum kämpfte, freizukommen. Picaud stieß sich vom Boden hoch, das Gewicht seines Angreifers hochstemmend. Der schlug ihm die Fäuste in den Rücken, so dass Picaud die Luft wegblieb. Endlich gelang es ihm, sich umzudrehen. Er zielte mit der Faust auf das Kinn, das von der Halbmaske nicht bedeckt war, aber sein Gegner duckte sich weg. Hinter sich hörte er Arousha schreien, und der Moment der Ablenkung gab seinem Angreifer Gelegenheit, ihm den Arm auf die Kehle zu drücken, was dazu führte, dass Picaud niesen musste. Jeder Mensch hatte den Impuls, sich vor einem solchen Sprühregen zu schützen, und unwillkürlich wischte sich der Mann mit dem Ärmel über den freien Teil des Gesichts, musste also lockerlassen, und Picaud konnte ihm einen gehörigen rechten Haken in die Rippen versetzen. Der Maskierte fiel zu Boden.

»Diaboli!« Die Alte schlug mit dem Stock nach seinem Kopf.

Arousha zerrte an dem zweiten Eindringling, und endlich gelang es ihr, freizukommen. Als Picaud hinzusprang, hatte Arousha plötzlich einen Dolch in der Hand, den sie gegen den Mann richtete.

»Gib das zurück! Gib es zurück!« Das Turbantuch hatte sich gelöst, ihre Haare hingen wirr hervor, ihre Augen funkelten entschlossen.

Der Dieb hielt das Stück Lehm herausfordernd empor, als wollte er sagen: Werft noch einen letzten Blick auf dieses einzigartige Stück – dann verschwand es in seiner Rocktasche, und er war mit einem flinken Sprung zu dem Fenster hinaus, durch das er gekommen war. Picaud setzte ihm nach, doch er wurde von dem zweiten Eindringling gepackt und mit dem Kinn so übel auf die Tischkante geschlagen, dass ihm der Kopf mit zuckenden Blitzen aufzuspringen schien. Das Poltern verriet ihm, dass auch der zweite Maskierte durch das Fenster entkam, während er selbst mit dem Gleichgewicht kämpfte. Er schmeckte Blut.

»Tante Evgenia!« Arousha lief zu der Alten hin, die in einer fremden Sprache klagte.

»Verschließen Sie die Fenster hinter mir«, sagte Picaud, schüttelte die Benommenheit ab, strich noch seinen Schnäuzer glatt und hastete nach draußen.

Die Diebe hatten einen gewissen Vorsprung. Picaud sah, wie der eine, der die Mauer bereits erklommen hatte, dem anderen hinaufhalf. Picaud setzte ihnen nach, doch selbst mit gehörigem Anlauf schaffte er es nicht, sich auf die Mauer hinaufzuziehen. Es bescherte ihm nur aufgerissene Hände, und er fluchte, als er die beiden auf der anderen Seite davonlaufen hörte. Er musste einen Durchlass suchen und fand ihn im Hof hinter dem Haus. Die kleine schmiedeeiserne Pforte, die stark von Efeu umrankt war, ließ sich mühelos öffnen. Sie war so niedrig, dass sich selbst Picaud klein machen musste, um hindurchzugehen. Dahinter lag ein alter Friedhof. Im Schatten eines klobigen Kirchenchors duckten sich graue Grabsteine im frischen, grünen Gras. Hier gab es genügend Winkel, um sich zu verbergen, und Picaud blieb dicht bei der Mauer – immerhin waren die anderen zu zweit, und er musste darauf achten, nicht vom Verfolger zum Gejagten zu werden.

Eine Bewegung lenkte seine Aufmerksamkeit auf einen der Grabsteine. Eine schwarzgekleidete Frau, gebeugt vom Alter, erhob sich.

»Mütterchen, hast du hier zwei Burschen vorbeilaufen sehen?«, sprach er sie an.

»Man läuft nicht über die Gräber«, sagte sie mit brüchiger Stimme und klopfte mit ihrem Stock an einen der Grabsteine, als wollte sie sich seine Zustimmung holen. »Willst du wissen, wo man den toten Admiral hinbringt?«

Mit einer gewissen Anspannung kam Picaud näher.

»Den Admiral Villeneuve?«

»Ja, den Franzosen. Hat den Priester großzügig bezahlt.« Sie deutete mit dem Stock auf die Kirche. »Nicht hier. Hinten in
Saint-Germain. Wird ein großes Begräbnis. Hier ist nur Platz für arme Seelen. Für zwei Francs im Monat bewein ich sie.« Sie streckte ihm auffordernd eine knochige Hand hin.

»Warum sagst du mir das über den Admiral?«

»Du bist doch der Gendarm aus Paris? Der Admiral wär besser auf See geblieben. Hier findet er keinen Frieden, auch nicht im Gewölbe von Saint-Germain. Wirst sehen: Keiner wird sein Grab kennen.«

Redete sie nur wirr, oder wusste sie etwas? Immerhin wusste sie, wer er war … Da nahm Picaud eine rasche Bewegung links von ihm wahr. Jemand lief vom Hauptportal der Kirche weg, und ohne sich zu besinnen, setzte Picaud ihm nach. Entlang des Stücks mittelalterlicher Stadtmauer konnte Picaud ihn nicht aus den Augen verlieren, aber dann mündete die Gasse auf den Place des Lices, wo ein reges Treiben aus Menschen und Fuhrwerken herrschte. Der Schwarzgewandte sprang auf einen dieser Lastkarren und von dort auf ein niedrig liegendes Dach auf der anderen Seite der Gasse.

»Bursche, sticht dich der Hafer?«, rief der Fuhrmann wütend, denn nun waren seine Pferde unruhig. Picaud nahm denselben Weg, wurde ebenfalls angebrüllt, und die Pferde zogen an. Picauds Sprung ließ ihn nahe an der Dachkante landen, einige Schindeln gaben nach, er fiel vornüber. Der Dieb war hinter dem Dachfirst verschwunden, auffliegende Tauben markierten seinen Weg. Wo war der zweite Bursche? Picaud war sich sicher, dass der die Beute hatte und dass dieser hier ihn weglocken sollte. Aber was blieb ihm anderes übrig, als ihm zu folgen, wenn er den anderen nicht mehr entdecken konnte?

Er hatte auf den Schindeln Halt gefunden, arbeitete sich auf allen vieren zum Dachfirst vor und stützte sich am Kamin empor. Die Erkältung machte ihn kurzatmig. Unter ihm lag das Bleichdach einer Wäscherei. In dichten Reihen hingen Laken und Tischtücher, Bahnen aus gefärbten Stoffen, Decken und Vorhänge. Die leichten Stoffe flatterten im Wind und warfen zahlreiche bewegte Schatten. Aber dieser Schatten dort war eine Gestalt. Picaud sprang auf das Bleichdach, schob Tücher zur Seite, duckte sich unter Leinen, blieb in dieser Haltung – denn Wäschestücke hatten keine Beine, sein Gegner schon. Vier Wäschebahnen trennten sie voneinander. Picaud schlüpfte unter ihnen hindurch. Er entdeckte einen Bleuel und hatte endlich eine Waffe.

Sein Gegner nutzte das Labyrinth geschickt, hatte sich in den schattigen Teil zurückgezogen, wo die gefärbten Stoffe hingen, und war sehr behutsam, denn Picaud hörte keine Vögel mehr auffliegen. Hier hingen Teppiche bis zum Boden herab, die Beine seines Gegners konnte Picaud nicht mehr sehen. Also blieb er reglos unter einer niedrigen Traufe und wartete. Für einen Moment war nur das Flattern der Wäsche zu hören und einige Stimmfetzen vom Platz, das Gurren von Tauben und das Rufen der Schwalben. Und dann, endlich – vorsichtige Schritte. Der Dieb glaubte, sein Verfolger habe aufgegeben. Picaud sah die dunkle Gestalt zwischen den Wäschebahnen argwöhnen und zwang sich zur Ruhe. Der Dieb sah unter den Wäschestücken hindurch und blickte auf Zehenspitzen darüber hinweg. Picaud erfreute sich an seiner wenig stattlichen Körpergröße, die ihn zwischen Traufe, Regenrinne und gestapelten Wäschekörben beinahe unsichtbar machte.

Dann war endlich kein Wäschestück mehr zwischen ihm und dem Dieb. Picaud sprang hervor, schlug mit dem Plättbrett zu, sein Gegner stolperte, Picaud schlug erneut zu, doch sein Gegenüber rollte sich rasch über den Boden. Als Picaud erneut ausholte, hinderte ihn ein Laken, das sein Gegner herunterriss. Picaud versuchte, den Knüppel aus dem Stoff zu befreien, doch zu dem Laken kam ein Teppich – er musste den Bleuel fallen lassen, um sich zu befreien, und dann sah er nicht nur seinen Gegner am Rand des Bleichdachs, er sah auch dessen Komplizen: Er stand auf den Stufen zu einer Giebelpforte, und was der Schatten vor Picaud verbarg, enthüllte die Körperhaltung: Er hielt eine Pistole.

Picaud sprang zur Seite, der Schuss krachte, Vögel flogen auf. Er stürzte in die leeren Wäschekörbe, und während er wieder auf die Beine kam, flohen die beiden in unterschiedliche Richtungen. Picaud sah den größeren der beiden vom Rand des Dachs einen hölzernen Balkon herabklettern. Er folgte ihm, in die Äste einer Linde, in die Gasse, vorbei an aufgeschreckten Pferden und Hühnern. Dann schlüpfte der Dieb durch ein offenes Tor in einen der zahlreichen Innenhöfe, warf das Gitter hinter sich zu und legte von innen einen Riegel vor – in dem Moment, als Picaud atemlos das Gitter mit beiden Händen fasste. Der Dieb stand auf der anderen Seite, unter seiner Halbmaske zeigte sich ein siegessicheres Lächeln, und mit schwingender Stimme sagte er:

»Adieu, mon petit Gendarm«, bevor er im Halbdunkel des Hofes verschwand. Picaud, der es nicht ertragen konnte, wenn man ihn verspottete, warf sich wütend gegen das Tor, mit der Folge, dass ihm endgültig der Atem knapp wurde. Er musste sich vorbeugen, um die Schmerzen in seiner zugesetzten Brust zu mildern. Er hustete und suchte nach dem Schnupftuch, dessen Monogramm ihm zu sagen schien: Du hast meine Mörder entkommen lassen.

Kapitel 8

Picaud musste husten.

»Na, Kamerad, brauchst du noch mal Salbeibonbons?«

Die Stimme kam von oben. Picaud blickte empor. Auf einem jener durchhängenden Laufgänge, die mit Schnitzwerk und Spinnweben versehen waren, stand der Einarmige und sah zu ihm herunter.

»Du hast nicht nur mir gesagt, wo ich die Ägypterin finden kann, oder?«, fragte Picaud. Der Veteran lehnte sich auf den verbliebenen Arm.

»Ich hab dir gesagt, du sollst ihnen nicht in den Weg kommen, Kamerad. Ich habe es gut mit dir gemeint. Nun sieh dich an!«

»Wem nicht in den Weg kommen?«

»Den Boten Gottes.«

Picaud war wieder zu Atem gekommen und trat unter den Balkon.

»Vorhin waren es noch die Sendboten des Teufels.«

»Es ist dieselbe Dienststelle.«

»Du weißt, wer diese Leute sind?«

»Nein, weiß ich nicht. Ich weiß nur, was sie wollten.«

»Eine alte Tonscherbe.« Der Einarmige sagte nichts darauf, und Picaud fuhr fort: »Und du hast ihnen geholfen, und sie haben dir Geld gegeben.«

»Man muss schauen, wo man bleibt.« Der Veteran hob den leeren Ärmel an.

»Du bist der Mitwisser eines Mordes – willst du, dass ich mit der Polizei hierher zurückkomme?«

Selbst im mäßigen Licht der Gasse konnte Picaud erkennen, dass ein spöttisches Lächeln um den Mund des ehemaligen Soldaten lag. »Die Polizei, der du erzählt hast, du seist ein Spitzel Fouchés? Die Polizei, die dich aus Rennes forthaben will? Bacon ist nicht gut auf dich zu sprechen. Falls du noch einmal bei ihm erscheinst, wird er dich verhaften, nicht mich. Ich bin nur ein Krüppel, der viel hört und viel sieht …« – Und beunruhigend gut Bescheid wusste, dachte Picaud den Satz weiter. Offenbar war er auch bereits dafür bezahlt worden, Picaud auszuspionieren – aber von wem? Von der Polizei oder gar von den Übeltätern?

Picaud blickte nach der Tür des Hauses, aber auch das hatte der Veteran gesehen und sagte:

»Die ist verschlossen. Du könntest mich ein ganzes Jahr in Rennes suchen und nicht finden.«

Das glaubte Picaud sofort und versuchte es daher anders:

»Kamerad: Fremde sind hierhergekommen und haben einen getötet, der wie du und ich für Frankreich gekämpft hat – und du hast ihnen dabei geholfen! Warum?«

Der Veteran verschwand im Schatten des Gebälks. Ungeduldig von den wirren Andeutungen, probierte Picaud nun doch die Tür, aber sie war verriegelt. Oben hatte der Veteran zu singen begonnen:

»Nehmt euch in Acht vor der Royal Navy und ihren trügerischen Fahnen, branle bras! Branle bras! …«

Picaud fragte: »Im Besitz des Admirals befand sich ein Gegenstand – wurde er deswegen ermordet? Waren die Mörder die Burschen, die ich verfolgt habe?«

»Nehmt euch in Acht vor der Royal Navy …« Der Veteran trat wieder an die Brüstung: »Du solltest Rennes verlassen und deinen Schützling mitnehmen. Ihr Wissen ist gottlos, und der Bote Gottes wird sie richten.

Nehmt euch in Acht vor der Royal Navy … ich habe dir doch von dem Hund erzählt, der meinen Arm geraubt hat: Dort ist er.«

Mit dem verbliebenen Arm zeigte er in die Gasse. Dort stand ein schwarzer Wolfshund, die Augen auf Picaud gerichtet, die Ohren aufgestellt. Picaud wusste nicht, ob der Veteran verrückt war oder nur so tat – dieser Hund jedenfalls war wirklich und kam langsam näher. Wenn er abgerichtet war zu töten, so wäre es um Picaud geschehen. Noch einmal sah er zu dem Balkon auf, doch der Veteran war fort. Niemand war in der Gasse. Nur der Hund, der seine Nase mit der Zunge anfeuchtete, stand noch da.

Durch den Umstand, dass sein Vater ein Viehhändler gewesen war, hatte Picaud schon als Kind gelernt, dass Tiere nur vom Menschen verdorben werden konnten. Wie es um diesen Hund bestellt war, konnte er nur auf eine Weise herausfinden: Er ging mit großer Selbstverständlichkeit auf den Hund zu, nicht in der zögerlichen Art, die Hunde misstrauisch machte, und klopfte dem großen Tier die Schulter, wie einem wiedergefundenen Freund. Tatsächlich ruckte der Schwanz kurz, doch die Anspannung blieb im Körper des Tieres, und sein Blick war immer noch der des Raubtieres. Picaud fasste sich in die Westentasche, sortierte Unsichtbares in seiner Hand, und die Neugierde siegte: Der Hund wimmerte kurz mit Ungeduld, Picaud hielt ihm die Hand hin, die der Wolfshund mit freundlichem Interesse beschnüffelte. Nach ein paar Worten setzte Picaud seinen Weg fort – gefolgt von dem Hund. Picaud wusste: Sollte sein Besitzer einen Befehl rufen, würde der Hund ihn anfallen. Picaud wandte sich nicht um, hörte nur das gleichmäßige Tappen auf dem Pflaster. Erst an der Mündung zur Place des Lices blieb der Hund zurück, markierte die Ecke und verschwand wieder in der Gasse. Picaud atmete durch, schnäuzte sich und machte sich auf den Rückweg zu Arousha. Ob sie ihm erklären konnte, worin ihr »gottloses Wissen« bestand?

***

»Sie haben mir einiges zu erklären«, sagte Picaud, kaum dass Arousha die Tür geöffnet hatte.

»Haben Sie es?«, fragte sie drängend, und ihr suchender Blick ging über seine Gestalt.

»Nein − und ich weiß noch nicht einmal, warum alle nach einem Stück Ton so verrückt sind!« Er nieste in das Schnupftuch.

»Nach all den Jahren ist es uns dann doch verlorengegangen … Mein Vater wird furchtbar enttäuscht sein!

Kommen Sie.« Arousha bedeutete ihm, einzutreten.

Picaud folgte ihr in das Zimmer, das die Diebe verwüstet hatten. Die alte Frau hatte die Hände an die Schläfen gepresst und klagte laut in einer fremden Sprache. Arousha legte ihr einen Arm um die Schulter und sprach beruhigend mit ihr. Die Alte heftete plötzlich ihren Blick an Picaud, und nun wurde ihre Stimme sehr scharf, sie zeigte auf ihn, und ihr faltiger Mund wurde hart. An ihrem Kinn bemerkte Picaud etwas wie ein Muster aus sonderbaren Zeichen, und unwillkürlich strich er sich über den Schnäuzer.

»Was sagt sie?«

»Nichts weiter. Sie kann nur Franzosen nicht leiden.«

»Wie sich die Zeiten doch ändern. Früher musste ich mein Land verlassen, um das zu hören.«

Picaud fand, dass die Jagd über Dächer und durch Gassen ihn weiterer Höflichkeit enthob, richtete einen Stuhl auf und setzte sich.

»Meine Tante macht Ihnen einen Tee«, sagte Arousha, als die alte Frau murrend den Raum verließ.

»Wird sie mich vergiften? Ein Wein wäre mir lieber …«

Arousha hob zwei Bücher vom Boden auf.

»Das … Ding, das uns gestohlen wurde, nachdem ich es vom Admiral erhalten habe, ist eine Tonscherbe«, erklärte sie. »Man hat früher Tontafeln als Schriftstücke benutzt, Zeichen in den feuchten Ton geritzt und die Tafeln dann gebrannt. Und diese besondere Scherbe gehört zu einer Tontafel mit einem höchst ungewöhnlichen Text.«

Picaud löste seine Halsbinde ein wenig. »Wovon handelt er?«

»Das wissen wir nicht …«

»Woher wissen Sie dann, dass es ein ungewöhnlicher Text ist?«

»Weil auf diesem Fragment zwei unterschiedliche Schriften zu sehen sind: Einerseits Hieroglyphen, andererseits ein demotischer Text.«

»Dämonisch?«

»Demotisch«, wiederholte sie mit leichter Ungeduld über sein Unwissen. »Eine Schrift, die aus dem Griechischen hervorgegangen ist, als das Christentum in Ägypten Verbreitung fand. Hieroglyphen waren zu dieser Zeit gar nicht mehr in Gebrauch. Das macht diese Scherbe zu einer Kuriosität.«

Picaud tupfte sich die Stirn. Der elende Schnupfen machte es ihm schwer, einen klaren Gedanken zu fassen.

»Eine solche Scherbe ist doch aber sicher nur von Interesse für Gelehrte und Forscher – ist es deren Art, auf maskierte Raubzüge zu gehen oder gedungene Mörder zu schicken?«

Arousha setzte sich niedergeschlagen auf einen Schemel.

»In diesen Zeiten ist sogar die Forschung zu einem Schlachtfeld geworden. Man denkt in Siegen und Niederlagen, dabei kennt die Wissenschaft kein Vaterland, sie braucht die Zusammenarbeit … Das ist die Überzeugung meines Vaters … und auch die meine. Ach, wenn er erfährt, in welche Gefahr mich sein Auftrag gebracht hat! Er hätte mich nie geschickt …«

Picaud konnte nicht umhin, sich zu fragen, was sie selbst tun würde, um an ein solch außergewöhnliches Stück zu gelangen.

»Ich weiß, dass um die Entschlüsselung der Hieroglyphen ein wahrer Wettstreit entbrannt ist«, sagte er. »Seit dem unglückseligen Verlauf unserer ägyptischen Expedition ist das Land in den Händen der Engländer, und sie setzen alles daran, unsere Forschung zu sabotieren.« Die Sache war also nicht ganz unpolitisch. Das würde für den Mord an einem Admiral genügen.

»Kennen Sie die Geschichte des Steins von Rascid? Rosette, sagt man hierzulande …«, fragte Arousha.

»Ganz Frankreich kennt diese Geschichte: Unsere Wissenschaftler haben den Stein entdeckt, im Friedensvertrag mit den Engländern wurde der Stein daher der französischen Nation zur Erforschung zugesprochen – aber kaum waren unsere Truppen abgezogen, kam irgend so ein Lord daher und hat den Stein mit höhnischen Scherzen beschlagnahmt!«

»Die Scherbe, die mir geraubt wurde, ist Teil einer Tontafel. Entstanden ist sie vermutlich auf der Insel Philae im Nil. Die Legende behauptet, ein Mönch habe sie im Zorn über den ketzerischen Inhalt in zwei Hälften zerbrochen. Man spricht daher von der Mutter Philae und von der Tochter Philae. Der Admiral ließ mir die ›Mutter‹ überreichen.« Sie deutete resignierend auf das Fenster, durch das die Diebe entschwunden waren. »Ich hatte kaum genug Zeit, ihre Besonderheit zu erkennen: Auf ihr ist ein und derselbe Text in drei verschiedenen Sprachen eingemeißelt«, sagte Arousha. »Das Griechische kann man lesen. Der Vergleich mit den Hieroglyphen scheint aber bisher kaum Erfolge gebracht zu haben. Denken Sie nur, welche Welt sich uns eröffnen würde, wenn wir die alten Inschriften der Tempel lesen könnten!« Sie hatte einen fast überirdischen Glanz in den Augen, als sie das sagte. Auch Picaud hatte die Ausstellungen in Paris aufgesucht, in denen Relikte und kolorierte Kupferstiche von der Expedition des Generals Bonaparte zeugen, die 1801 so unrühmlich geendet war – aber die Welt erinnerte sich seitdem wieder der Tempel und Pyramiden, die seit fast 2000 Jahren vergessen im Sand gelegen hatten.

Seine Fragen mussten sich aber auf ganz irdische Dinge richten:

»Ist Ihnen hier in Rennes ein Einarmiger aufgefallen?«

Arousha blickte aus ihren Gedanken auf: »Ja, das ist dieser Bursche, der in den Gassen Bonbons verkauft.«

»Der hat Sie ausgespäht. Sie und den Admiral.« Picaud machte von dem Schnupftuch Gebrauch, denn die Sonne fiel durch das Fenster auf sein Gesicht, und die Wärme ließ seine Nase laufen. »Sie haben gesagt, die Scherbe sei durch viele Hände gegangen, also wissen viele von ihr. Durch wessen Hände?«

Arousha stand auf, hob ein Buch vom Boden, strich kurz über den Einband und stellte es ins Regal:

»Mein Vater erhielt eines Tages einen Brief von Monsieur Kléber …«

»Unserem Gouverneur in Ägypten?«

»Ja, er wollte meinem Vater einige Papyri und Tonscherben nach Alexandria bringen lassen, von dort sollten sie nach Frankreich verschifft werden. Aber Monsieur Kléber …« Sie sah Picaud an.

»Er wurde ermordet.«

»Erstochen«, ergänzte Picaud.

»Mein Vater wollte wegen der damaligen Unruhen nicht selbst nach Kairo, also schrieb er an Monsieur Ya’qûb. Er war der –«, sie benutzte einige fremdartige Worte, überlegte und sagte: »Er war ein indentent general, also auch für die koptischen Angelegenheiten zuständig. Er verließ Ägypten 1803 mit einer Kommission, die sich in Europa dafür einsetzen sollte, Ägypten die Unabhängigkeit vom Osmanischen Reich zu verschaffen. Aber er kam nie in Frankreich an, sondern starb auf der Überfahrt.«

»An dieser Scherbe haftet offenbar tatsächlich ein Fluch – der Fluch der Gier! Wurde dieser koptische Herr erstochen?«, fragte Picaud.

»Nein … aber er starb überraschend …«

»War es ein englisches Schiff?«

»Ja, es gab ein Abkommen zwischen England und Frankreich, dass die Royal Navy …«

»… waren alle das Papier nicht wert, auf dem sie geschrieben waren. – Nehmt euch in Acht vor der Royal Navy.«

Ein »Bote Gottes«, ein Fluch und die Royal Navy. Langsam ergab sich ein Geflecht, in das der einarmige Veteran offenbar einen tieferen Einblick hatte. Und anscheinend spielte er die verschiedenen Seiten sehr einträglich gegeneinander aus. Die eine Seite war Frankreich, ansehnlich verkörpert von Arousha. Die andere Seite war fast zwangsläufig England. Aber es musste noch eine dritte Seite geben, nicht nur weil Picaud es für ausgeschlossen hielt, dass ein Bote Gottes aus England kam. Die Diebe hatten einander auf Italienisch zugerufen.

»Sie sagten, diese Tontafel sei ketzerischer Natur. Woher will man das wissen, wenn keiner sie lesen kann?«

Arousha zuckte mit den Schultern.

»Aber Sie besitzen oder besaßen ein Wissen, das man als ›gottlos‹ bezeichnen könnte?«, fragte er weiter. »Etwas, das mit den Lehren des Christentums unvereinbar ist?«

Sie sah ihn mit einer Falte zwischen den Augenbrauen an.

»Monsieur, ich bin eine gute Koptin!«

»Und was ist das?«

Sie strich sich das Kleid glatt, als wollte sie sich zum Ausgehen vorbereiten, aber der Ausgang war mehr gedanklicher Natur, denn nun führte sie in belehrender Stimme aus:

»Die Bezeichnung ›Kopten‹ geht zurück auf das griechische Wort für Ägypten. Meine Vorfahren lebten dort schon zu Zeiten der Pharaonen. Nach unserer Zeitrechnung ist dieses Jahr nicht 1806, sondern 1522, denn für uns beginnt die Zeitrechnung mit Diokletian. Wir Kopten wahren das Erbe von Mose, der in ägyptischer Gefangenschaft war, das Erbe der heiligen Familie, die in Ägypten Zuflucht fand, das Erbe der ersten Kirche, die Christus selbst in Qusqâm weihte, das Erbe der Märtyrer und des Evangelisten Markus.« Sie hatte dies in einem stolzen und belehrenden Ton gesagt. In Frankreich lastete man den Kopten einen erheblichen Teil der Schuld daran an, dass die ägyptische Expedition gescheitert war, die der General Bonaparte im Jahr 1798 begonnen hatte. In den Berichten der Gouverneure wurden die Kopten als korrupt, verschlagen und feige beschrieben. Picaud war nie in Ägypten gewesen, also zog er es vor, das koptische Volk nach der Vertreterin zu beurteilen, die er vor sich hatte. Und dieses Urteil wäre ganz und gar wertschätzend ausgefallen, gäbe es nicht noch ein Detail. Er spielte mit einem kleinen Dolch, der auf dem Tisch lag. Diese junge Dame umgab sich anscheinend gerne mit Stichwaffen.

»Kann der Text auf dieser Scherbe aus der Bibel stammen?«, fragte er nun.

»Nein, das denke ich nicht.« Sie öffnete eine Ledermappe und holte ein Papier hervor. »Mir wäre noch nie ein biblischer Text begegnet, der Hieroglyphen verwendet. Ich hatte gestern Abend begonnen, die Kartuschen von der Scherbe abzuzeichnen.«

Picaud erhob sich, um einen Blick auf das Papier werfen zu können.

»Kartuschen? Damit lädt man eine Muskete!«

Arousha schmunzelte. »Ja. Ihre Soldaten gaben dieser Anordnung von Zeichen in einem Oval daher diese Bezeichnung. Man geht davon aus, dass die Kartuschen für Herrschernamen stehen. Das ist alles, was mir von der Scherbe geblieben ist: drei Kartuschen und zwei Zeilen des demotischen Textes daneben. Mir scheint, dass der Text eine Erläuterung aus späterer Zeit zu diesen Namen ist. Und sehen Sie«, sie tippte mit dem Finger auf die Zeile unter den Kartuschen, die mehrere Schneckenkringel zeigte. »Nur Ornament oder sinnhafte Zeichen?«

»Das sieht aus wie eine Ähre«, meinte er. »Ein Arm, ein Vogel, ein Kreis mit einem Punkt darin und ein paar Striche.«

»Ja, aber was bedeuten Ähre, Vogel, Arm? Sie können nicht nur das sein, wonach sie aussehen.«

»Sagen Sie es mir, Sie sind die Ägypterin.«

»Monsieur, sprechen Sie Latein? Nein? Warum nicht? Es ist doch die Sprache Ihrer Vorfahren! – Und Ägypten hat seine alte Sprache ganz verlernt.«

In diesem Moment meldete sich die Alte mit Gezeter zurück.

»Was für eine Sprache spricht sie?«, fragte Picaud leise.

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
2015
ISBN (eBook)
9783958243415
Dateigröße
1.5 MB
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2015 (November)
Schlagworte
Historischer Kriminalroman Krimi Die Sünden unserer Väter Heidi Rehn P. D. James Bretagne Paris 19. Jahrhundert Neuerscheinung eBooks
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Titel: Die Verschwörung der Ketzer: Ein Fall für Picaud 1
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