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Enwor - Band 4: Der steinerne Wolf

Die Bestseller-Serie

©2015 364 Seiten

Zusammenfassung

Am Ende der Welt bist du nicht allein: „ENWOR – Band 4: Der steinerne Wolf“ von Wolfgang Hohlbein jetzt als eBook bei dotbooks.

ENWOR: Kriegsgeboren und vom Feuer getauft – eine postapokalyptische Welt voller Gefahren.
Man nennt ihn den Wächter, doch wem dient er? Der mysteriöse „steinerne Wolf“ beschützte einst den Stein der Macht. Jetzt ist dieser der Hexe Vela in die Hände gefallen. Mit Hilfe des Steins kann sie die Macht über ENWOR an sich reißen. Um dies zu verhindern, jagt der Krieger Skar ihr nach. Auf seiner gefährlichen Reise merkt er schnell: Er ist nicht der Einzige, der die Verfolgung aufgenommen hat …

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Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Über dieses Buch:

ENWOR: Kriegsgeboren und vom Feuer getauft – eine postapokalyptische Welt voller Gefahren.

Man nennt ihn den Wächter, doch wem dient er? Der mysteriöse »steinerne Wolf« beschützte einst den Stein der Macht. Jetzt ist dieser der Hexe Vela in die Hände gefallen. Mit Hilfe des Steins kann sie die Macht über ENWOR an sich reißen. Um dies zu verhindern, jagt der Krieger Skar ihr nach. Auf seiner gefährlichen Reise merkt er schnell: Er ist nicht der Einzige, der die Verfolgung aufgenommen hat …

Über den Autor

Wolfgang Hohlbein, 1953 in Weimar geboren, ist Deutschlands erfolgreichster Fantasy-Autor. Der Durchbruch gelang ihm 1983 mit dem preisgekrönten Jugendbuch MÄRCHENMOND. Inzwischen hat er 150 Bestseller mit einer Gesamtauflage von über 44 Millionen Büchern verfasst. 2012 erhielt er den internationalen Literaturpreis NUX.

Der Autor im Internet: www.hohlbein.de

Bei dotbooks veröffentlichte Wolfgang Hohlbein die Romane FLUCH – SCHIFF DES GRAUENS, DAS NETZ und IM NETZ DER SPINNEN, die ELEMENTIS-Trilogie mit den Einzelbänden FLUT, FEUER UND STURM und die große ENWOR-Saga; eine chronologische Übersicht der einzelnen Romane finden Sie am Ende dieses eBooks.

Wie wird es mit den Kriegern Skar und Del weitergehen? Finden Sie es heraus im nächsten Roman der ENWOR-Saga: ENWOR – Band 5: Das schwarze Schiff. Eine Leseprobe finden Sie am Ende dieses eBooks.

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Neuausgabe November 2015

Copyright © der Originalausgabe 1984 bei Wilhelm Goldmann Verlag, München

Copyright © der Neuausgabe 2015 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Tanja Winkler, Weichs

E-Book-Herstellung: Open Publishing GmbH

ISBN 978-3-95824-435-1

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Wolfgang Hohlbein

ENWOR

Band 4: Der steinerne Wolf

Roman

dotbooks.

PROLOG

Es war still in dem großen, leeren Raum. Obwohl die Wände an vielen Stellen geborsten und durchbrochen waren und weder den Wind noch das rote, flackernde Licht der Sonne zurückhalten konnten, sperrten sie doch nachhaltig jedes Geräusch, jeden noch so winzigen Laut und jedes Zeichen von Leben aus und verwandelten den steinernen Saal in eine Gruft. Die Kälte war auch hier bemerkbar, vielleicht stärker als draußen; ein unsichtbarer, klammer Hauch, der wie flüsternder Nebel über dem Boden und zwischen den wenigen verfallenen Möbelstücken hing und ihn frösteln ließ. Aber es war mehr als Kälte, das fühlte er, weit mehr als der klirrende Hauch des Schnees, der die Berge und die verfallene Festung mit einem weißen Leichentuch überzog. Es war die Seele Coshs, die er spürte, die Stimme des Sumpfes, die ihnen wie ein unsichtbarer Begleiter gefolgt war: ihre Anwesenheit, ihren Atem, das sanfte Tasten unsichtbarer Finger, mit dem sie irgend etwas tief in seinem Inneren zu berühren oder vielleicht auch nur zu suchen schien. Die schlanke Gestalt auf dem steinernen Lager vor ihm schien hinter einer unsichtbaren Wand aus flimmernder Luft zu liegen, als hätten sich die Gesetze der Natur auf den Kopfgestellt und ließen die Luft nun vor Kälte wabern, und wenn er nur lange genug hinsah und sich dem Flüstern des Nebels und der eisigen Feuchtigkeit hingab, dann begannen ihre Umrisse zu verschwimmen, sich aufzulösen, und auf den erstarrten Lippen des Toten erschien wieder dieses flüchtige, junge Lächeln, dessen wahre Bedeutung vielleicht nur Skar selbst gekannt hatte. Tränen füllten seine Augen und zeichneten dünne Spuren von Wärme auf seine erstarrte Gesichtshaut. O ja, er fühlte Schmerz, jetzt, nachdem alles vorbei war. Einen größeren und furchtbareren Schmerz als je zuvor. Er hatte geglaubt, jenseits von Trauer und Leid zu sein, nachdem er einmal den Haß kennengelernt hatte, aber das stimmte nicht. Wie oft war er in den letzten vier Tagen hier gewesen? Ein dutzendmal? Zwei? Er wußte es nicht mehr. Er wußte auch nicht mehr, wie oft er so wie jetzt neben Dels Lager gesessen und die reglose, tote (es kostete ihn Überwindung, das Wort auch nur in Gedanken zu formulieren, denn es auszusprechen bedeutete, es zuzugeben, und es war das erste Mal in seinem Leben, daß er sich wünschte, die Augen vor der Wahrheit verschließen und sich in irgendeinen Winkel verkriechen zu können) Gestalt des jungen Satai betrachtet hatte, wie oft ihr Leben – ihr gemeinsames Leben, denn das, was vorher gewesen war, zählte nicht (auch das begriff er erst jetzt) – an ihm vorübergezogen war. Mit Del war ein Teil von ihm gestorben, ein Teil von ihm, von dem er bisher nicht einmal gewußt hatte, daß es ihn gab. Haß? Als er neben der blutbesudelten Gestalt im Schnee gekniet und in die offenen, mit Rauhreif bedeckten Augen des Toten gesehen hatte, hatte er für einen kurzen Moment geglaubt, Haß zu empfinden, aber auch das war nicht wahr gewesen. Es war nichts als Schmerz, nur ein anderer Ausdruck dieses Gefühles, und selbst das Ding in seinem Inneren, diese böse, flüsternde Stimme, die sonst jeden Augenblick der Schwäche ausnutzte, um ihn zu verhöhnen und zu verspotten, hatte geschwiegen. Del war tot, und das war alles. Es war so einfach, so brutal und so sinnlos, daß er am liebsten geschrien hätte, und vielleicht war dies das einzige, das wirklichen Zorn 'in ihm hervorrufen konnte. Sein Tod hatte keinen Sinn gehabt, und wenn doch, dann nur den, ihn – Skar – zu treffen und zu verletzen. Der Wolf hatte ihn gemeint und Del getötet, brutal und berechnend die Stelle auswählend, an der er seinem Opfer den größtmöglichen Schmerz zufügen konnte.

Das Geräusch leiser Schritte drang in seine Gedanken, und für einen winzigen Moment war es Skar, als husche eine unsichtbare, rasche Bewegung durch den Raum, ein lautloses Huschen und Flüchten, als zögen sich die Schatten und der klamme Griff Coshs eilig zurück. Er sah auf, starrte Gowenna eine endlose Sekunde lang an und erhob sich mit einer langsamen, mühevollen Bewegung. Gowenna wollte etwas sagen, aber er schüttelte rasch und mit einer Geste, die keinen Widerspruch duldete, den Kopf deutete auf den Ausgang und ging an ihr vorbei. Eine schattenhafte Gestalt erhob sich neben ihm, wartete, bis Gowenna das Haus ebenfalls verlassen hatte. und trat dann lautlos hinein. Skar wußte nicht, wer es war – El-tra, Kor-tel oder irgendeiner der anderen namen- und gesichtslosen Sumpfmänner, die während der letzten vier Tage ununterbrochen Wache an Dels Lager gehalten hatten. Wenn er kam, dann gingen sie, immer und ohne auch nur einen Blick oder ein Wort mit ihm zu wechseln, als spürten und respektierten sie seinen Schmerz mit dem Instinkt wacher, finsterer Tiere, aber sie waren immer da; schweigende Schatten, die eine lautlose Totenwache hielten. Es wäre seine Aufgabe gewesen vier Tage und Nächte ohne zu schlafen und ohne sich zu bewegen, Wache zu halten am Totenlager des Satai, wie es die uralten Riten vorschrieben – aber er war zu müde dazu, und er war ihnen dankbar, daß sie ihm diese Last abnahmen. Jedenfalls konnte er sich einreden, daß sie es taten.

Es war keine Totenwache, das wußte er, und sie waren alles andere als Schatten. Aber er wollte nicht wissen, was sie wirklich taten. Er hatte schon einmal bei ihnen gesessen, vor Tagen, die ihm wie Jahre vorkamen, und er hatte schon einmal erlebt, wozu sie fähig waren. Was er gespürt hatte – damals, in einem anderen Leben –, das war nur ein winziger Hauch ihrer Macht gewesen, ein winziges Stückchen der ungeheuren psionischen Gewalt, die zu entfesseln sie in der Lage waren, aber schon diese flüchtige Berührung hatte genügt, ihn bis ins Innerste seiner Seele erschauern zu lassen. Er wollte es nicht wissen.

Er entfernte sich ein paar Schritte vom Eingang, blieb auf halbem Wege zwischen dem Haus und der halb verfallenen Wehrmauer stehen und zog den Umhang enger um die Schultern. Die Zinnen der Mauer begannen rechteckige schwarze Zacken aus der Sonne zu beißen, und die Nacht meldete sich mit einem merklichen Auffrischen des Windes und eisiger Kälte an. Es würde wieder kalt werden, kälter als in der Nacht zuvor, die ihrerseits eine Winzigkeit kälter als die vorhergehende gewesen war; ein winziges bißchen nur, aber doch kälter. Und auf dem Paß würde wieder eine Winzigkeit Schnee mehr liegen. »Du solltest damit aufhören, Skar«, sagte Gowenna leise.

Er hatte nicht gemerkt, daß sie ihm abermals gefolgt war. Er ging ihr aus dem Weg, seit vier Tagen; zuerst unauffällig, schließlich so offen, daß sie es einfach merken mußte. Aber augenscheinlich hatte sie sich entschlossen, seine kaum mehr versteckte Ablehnung zu ignorieren. »Womit?« fragte er, ohne sich umzudrehen. Der Wind peitschte sein Gesicht, und die winzigen Eiskristalle, die er mit sich trug, schmerzten. Es war ihm egal.

»Du weißt genau, womit«, sagte Gowenna betont. In ihrer Stimme schwang eine leise Spur von Ungeduld, hinter der sich Ärger verbergen mochte. »Du quälst dich, Skar«, fuhr sie fort, als klar wurde, daß er nicht antworten würde. »Seit vier Tagen hockst du dort drinnen und quälst dich selbst. Findest du es sinnvoll, das Messer, das dir Vela in die Brust gestoßen hat, auch noch selbst herumzudrehen?«

»Del ist tot«, sagte Skar dumpf Er atmete hörbar ein, drehte das Gesicht aus dem Wind und sah sie nun doch an.

Gowennas Lippen zuckten. In ihrem sehenden Auge blitzte es zornig auf »Das ist er nicht, Skar«, sagte sie gepreßt. »Die Sumpfmänner werden ihn retten und –«

Skar hob mit einer so abrupten Bewegung die Hand, daß Gowenna erschrocken abbrach und einen halben Schritt zurückwich. »Sie werden ihn wieder zum Leben erwecken, wie?« sagte er leise. »Sie werden ihn … wie haben sie es genannt? Neu schaffen? Und was werden sie mir geben? Eine Puppe? Ein Ding, das aussieht wie Del sich bewegt wie Del, redet wie Del und mir jeden Wunsch von den Lippen abliest, wie es deine drei Schattenmänner bei dir getan haben?«

»Dir geben?« wiederholte Gowenna erschrocken. »Sie werden dir nichts geben, Skar. Sie werden Del das Leben zurückgeben, das ist alles.«

Skar erschrak für einen Moment vor seinen eigenen Worten. Er hatte – ohne es im ersten Moment selbst zu bemerken – den Gedanken ausgesprochen, den er seit Tagen sorgsam bekämpft und irgendwo in seinem Inneren vergraben hatte.

»Vielleicht ist es gar nicht wirkliche Trauer, Skar«, fuhr Gowenna fort. »Vielleicht bist du nur zornig, weil Vela dir Del weggenommen hat.«

»Unsinn«, sagte Skar verwirrt. »Ich –«

»Ich bin nicht gekommen, um mich mit dir zu streiten«, unterbrach ihn Gowenna. Sie schüttelte den Kopf versuchte zu lächeln und fuhr sich mit einer raschen, unbewußten Geste über das Gesicht; eine Bewegung, die sie sich in den letzten Tagen mehr und mehr angewöhnt hatte, beinahe als müsse sie sich immer wieder neu davon überzeugen, daß die eine Hälfte ihres Gesichts noch unbeschädigt und heil war und das verbrannte Narbengewebe nicht etwa über Nacht unbemerkt weiter über die Grenze zwischen Engel und Teufel, die sich in ihr Antlitz gebrannt hatte, gekrochen war. »Die Späher sind zurück«, fuhr sie in verändertem, bewußt sachlichem Ton fort. »Es ist so, wie ich es gesagt habe: Der Paß ist verschneit. Du mußt schon fliegen lernen, um über die Berge zu kommen.«

»Ich werde trotzdem gehen«, sagte Skar ruhig.

Gowenna seufzte. »So nimm doch endlich Vernunft an, Skar. Es ist unmöglich. Du kannst nicht über den Paß. Niemand kann das.«

»Niemand?« Skar lächelte, bewußt kalt und bewußt verletzend. »Vela hat es geschafft.«

»Das vermutest du«, erwiderte Gowenna. »Aber es kann auch sein, daß sie irgendwo an einem geschützten Ort überwintert, während du in dein Unglück rennst.«

»Du weißt so gut wie ich, daß das nicht stimmt«, sagte Skar. »Sie ist jetzt bereits auf dem Weg nach Elay, und wenn wir warten, bis der Winter vorbei ist, dann wird sie ihre Macht bereits gefestigt haben, bevor wir überhaupt aufbrechen.«

»Und du wirst unsere letzte Chance, sie aufzuhalten, verspielen, wenn du jetzt losreitest und dich umbringst. Wahrscheinlich hast du recht, aber du vergißt dabei eine Kleinigkeit, Skar: Sie hat den Stein, um sich den Weg zu bahnen. Du nicht.«

Skar wandte sich um und sah lange und nachdenklich zu dem Gebäude am anderen Ende des Hofes hinüber. »Es ist sinnlos, Gowenna«, murmelte er. Er wollte nicht mehr diskutieren, weder mit ihr noch mit irgendwem. Vielleicht hatte sie recht, aber er war einfach müde, zu müde, um auch nur über ihre Argumente nachzudenken. »Ich werde gehen. Noch heute. Ich … hätte es längst tun sollen.«

»Wenn du stirbst, Skar, dann verliert Enwor vielleicht seine letzte Chance.«

»Enwor …« Die Schwärze hinter dem rechteckigen Eingang schien sich zu verdichten. Es war ein Grab. Selbst wenn Del sich nach einer Weile von seinem Totenbett erheben und das Haus verlassen würde, würde es nur ein Schatten des jungen Satai sein. Und er, Skar, wollte es nicht erleben. »Was kümmert mich die Welt, Gowenna«, sagte er abfällig. »Sie wird nicht untergehen, wenn ich sterbe. Vielleicht hat Vela sogar recht, und Enwor wird besser, wenn es Männer wie mich nicht mehr gibt.«

Gowenna erstarrte. Der Ausdruck auf ihrem Gesicht verhärtete sich. »Und Frauen wie mich, nicht wahr? Das meinst du doch?«

Skar zögerte einen Moment zu antworten. Er wußte genau, wie sinnlos es war, dieses Spiel fortzusetzen. Es war wieder die alte Gowenna, wie er sie seit dem ersten Tag kannte. Sie wechselte ihre Taktik, schnell und ohne wirklich zu überlegen, instinktiv auf der Suche nach einer verwundbaren Stelle, nach einer Lücke in seiner Deckung, nach irgend etwas, wo sie ihn packen und festhalten konnte. Sie hatte noch nicht begriffen, daß es den Skar, mit dem sie geritten war, nicht mehr gab.

»Vielleicht«, sagte er schließlich. »Vielleicht sind wir beide nur Überbleibsel einer Welt, die schon längst gestorben ist, Gowenna. Vielleicht ist unsere Welt schon tot, ohne daß wir es bisher bemerkt haben, und vielleicht gehört die Zukunft Menschen wie Vela.«

Gowenna verzog abfällig das Gesicht. »Wenn du wirklich so denkst, Skar«, sagte sie, »warum nimmst du dann nicht dein verdammtes Schwert und stürzt dich hinein?«

»Vielleicht werde ich das tun, Gowenna«, antwortete er ernst. »Wenn alles vorbei ist.«

Gowenna wollte etwas erwidern, aber Skar drehte sich ohne ein weiteres Wort um und ließ sie stehen.

1. Kapitel

Der schwere Regen der letzten zehn Tage hatte aufgehört, und das Meer war so ruhig, wie man es sonst nur vor einem Sturm beobachten konnte. Aber der Himmel war leer, und als die Sonne aufging und mit ihren wärmenden Strahlen auch den letzten Rest von Morgennebel und Dunst zu vertreiben begann, war nicht einmal die winzigste Wolke zu entdecken. Trotzdem machte die SHANTAR gute Fahrt – die Segel, die während der letzten Wochen mehr als nur einmal naß und schlaff von den Rahen gehangen hatten, blähten sich unter einer steifen, beständigen Brise, und die zwanzig Doppelruder auf jeder Seite verliehen dem Freisegler zusätzliche Geschwindigkeit, so daß das scheinbar plumpe Schiff mit überraschendem Tempo an der Küste entlangglitt. Das verquollene Holz der Masten, zehn Tage lang vollgesogen mit Regen und Nebel, dessen Feuchtigkeit beharrlich in jede Pore und jeden noch so winzigen Riß gekrochen war, ächzte unter der Belastung, als es die Kraft des Windes auffangen und an den Schiffsrumpf weitergeben mußte, und das monotone Klatschen der Ruder begann einen einschläfernden Einfluß auf Skar auszuüben. Seine Augen brannten – zum Teil eine Wirkung des Salzwassers, das in einem dünnen Sprühregen von den Spieren empor und auf das Deck gewirbelt wurde, zum größeren Teil jedoch einfach vor Müdigkeit. Er hatte während der zweieinhalb Wochen, die er an Bord der SHANTAR verbracht hatte, nicht sehr viel Schlaf gefunden. Das Schiff war groß, bot jedoch kaum Platz für Passagiere, denn es war vom Bug bis zum Heck vollgestopft mit Lade- und Frachträumen, und die Wände seiner Kabine waren so hellhörig gewesen, daß er nahezu jedes Wort gehört hatte, das irgendwo an Bord des Schiffes gesprochen wurde. Dazu kam etwas, das so banal wie ärgerlich war – Seekrankheit. Von der ersten Stunde an, die er an Bord gewesen war, war ihm übel gewesen, und wenn sich sein Körper auch allmählich an das beständige Auf und Ab des Schiffes zu gewöhnen begann, so genügte doch noch immer eine unbedachte Bewegung, um seinen Magen in einen schmerzhaften Klumpen zu verwandeln. Zumindest konnte er der Situation ein gewisses Maß an Ironie nicht absprechen – was Vela mit all ihrer Macht und Bosheit nicht gelungen war, das hatte das Meer geschafft. Er wäre im Moment nicht einmal fähig gewesen, mit einem Kind zu kämpfen.

»Nun, Satai?«

Skar sah auf, als eine hochgewachsene, in einen schwarzen, ledernen Regenmantel gehüllte Gestalt neben ihm an die Reling trat. Andred, der Kapitän des Freiseglers. Skar mochte ihn. Er war ein schlanker Mann unbestimmbaren Alters, der sich gern selbst reden hörte, dabei aber nicht annähernd solch haarsträubenden Unsinn verzapfte wie die meisten anderen Männer seines Schlages. »Deine Wache ist zu Ende«, fuhr er mit einer Kopfbewegung zum Horizont fort. Die Sonne war vollends aufgegangen und stand als glosender roter Ball über dem Meer. »Du kannst in deine Kabine gehen. Ich lasse dich wecken, wenn Essenszeit ist.«

Skar stemmte sich von der Reling hoch, massierte mit der Linken seinen steifen, schmerzenden Rücken und schüttelte den Kopf. Er war so müde, daß er Mühe hatte, die Augen offenzuhalten, aber irgend etwas sagte ihm, daß er sowieso keinen Schlaf finden würde. Vielleicht war es die Nähe Elays, die ihn wach hielt.

»Ich bleibe noch«, sagte er, ohne den Blick vom Meer zu nehmen. Die Küste war als schwarzer, unregelmäßiger Streifen an Backbord sichtbar, so wie während der gesamten vergangenen Woche. Die SHANTAR segelte – zumindest in nautischen Maßstäben – dicht an der Küste entlang; weit genug entfernt, um vor den Untiefen und Riffen, die diese Gewässer zu den gefürchtetsten der Welt werden ließen, sicher zu sein, aber auch nahe genug, um sich mit einem schnellen Manöver in Sicherheit bringen zu können, falls Piraten auftauchen oder ein Sturm heraufziehen sollte. Ein Tümmler näherte sich dem Schiff, ließ seine dreieckige Rückenflosse eine Zeitlang parallel zu dem gewaltigen schwarzen Rumpf durch die Wellen schneiden und entfernte sich dann so rasch, wie er aufgetaucht war. Skar sah ihm nach, bis er verschwand.

»Wie du willst«, sagte Andred nach einer Weile. Er lehnte sich neben Skar gegen die Reling, starrte blicklos auf die Wellen hinab und schüttelte ein paarmal und ohne Skar irgendeinen Grund dafür erkennen zu lassen, den Kopf. Sein Fuß hämmerte den Takt zu einer unhörbaren Melodie auf die Planken. »Unsere Reise endet bald, Satai«, sagte er plötzlich. »Wenn der Wind weiter so günstig bleibt, dann erreichen wir noch vor Sonnenuntergang Anchor.«

Skar nickte. »Ich weiß.«

»Du willst dort wirklich von Bord?« fragte Andred, nachdem er eine Weile vergeblich darauf gewartet hatte, daß Skar das Gespräch von sich aus weiterführen würde.

»Warum nicht?«

»Anchor ist ein seltsamer Ort für einen Satai«, murmelte Andred. »Eine Stadt voller verrückter alter Weiber und bissiger Drachen – was sucht ein Mann wie du dort?«

Skar lächelte. Wenn es etwas gab, das Andreds Schwatzhaftigkeit noch übertraf, dann war es seine Neugier. Er hatte vom ersten Tag an versucht, mehr über den wahren Grund von Skars Reise in Erfahrung zu bringen.

»Nimm an, ich hätte ein Geschäft zu erledigen«, sagte Skar.

»Ein Geschäft?« Andred sah ihn einen Herzschlag lang verblüfft an und lachte dann. Es klang unsicher. »Du? Seit wann sind die Satai unter die Krämer gegangen?«

Skar schwieg einen Moment. Er hätte Andred eine scharfe Abfuhr erteilen können, aber er wollte den Freisegler nicht vor den Kopf stoßen. Immerhin hatte Andred ihm einen Platz auf der SHANTAR gewährt, ohne daß er für die Passage bezahlen konnte. Und es konnte sein, daß er schon bald in eine Situation kam, in der er einen Freund – oder wenigstens einen Mann, der nicht sein Feind war – gebrauchen konnte. »Ich … suche jemanden«, sagte er ausweichend.

»In Anchor?«

»In Elay«, antwortete Skar. »Wenn du mich zufällig dorthin bringen kannst …«

Das Lächeln auf Andreds Zügen wurde um eine Spur eisiger. »In Elay«, wiederholte er. »In Ordnung – du willst nicht darüber sprechen. Vielleicht hast du recht, und es geht mich nichts an.« Er drehte sich mit einer abrupten Bewegung um und wollte gehen, aber Skar hielt ihn noch zurück.

»Verzeih, Andred«, sagte er in versöhnlichem Tonfall. »Ich wollte dich nicht brüskieren.«

»Das … hast du nicht«, sagte Andred in einem Ton, der die Worte Lügen strafte. »Es geht mich wirklich nichts an. Ich bin nur ein Kauffahrer und sollte mich nicht in die Angelegenheiten eines Kriegers mischen. Ich …« Er stutzte, sah an Skar vorbei in Richtung Küste und streifte dessen Hand mit einer unbewußten Bewegung ab. Seine Augen wurden schmal.

Skar drehte sich ebenfalls um. Vor der dunklen Linie der Küste war ein schlanker, noch dunklerer Schatten erschienen. Ein Schiff. Es war noch zu weit entfernt, als daß man seine Herkunft oder auch nur seine Bauart hätte erkennen können, aber selbst für Skars nicht gerade seemännisch geschulten Blick war nach wenigen Sekunden klar, daß der fremde Segler direkten Kurs auf die SHANTAR hielt.

»Was ist das für ein Schiff?« fragte er.

Andred schüttelte langsam und nachdenklich den Kopf. »Ein Thbargscher Kapersegler«, murmelte er. »Aber hier? In diesen Gewässern?«

Skar sah den Freisegler an. »Glaubst du, daß er uns gefährlich werden wird?«

»Gefährlich?« Andred sah ihn einen Moment verwirrt an, als müsse er sich erst ins Gedächtnis rufen, was dieses Wort überhaupt bedeutete. Dann schüttelte er den Kopf. »Nein. Das Wort klingt gefährlicher, als es ist – zumindest sind es keine Piraten, wenn es das ist, was du befürchtest. Aber sie halten sich normalerweise nur oben im Norden auf. Ich habe jedenfalls …« Er stockte, fuhr herum und schrie, mit den Händen einen Trichter vor dem Mund bildend, ein paar scharfe Kommandos zu den Matrosen in den Rahen hinauf. Skar sah erstaunt, wie die Männer begannen, die Segel zu reffen. Gleichzeitig wurde der Ruderschlag langsamer und hörte nach wenigen Augenblicken ganz auf. Die SHANTAR trieb, von ihrem eigenen Schwung getragen, noch weiter auf dem bisherigen Kurs, wurde aber bereits merklich langsamer.

»Was hast du vor?« fragte Skar mißtrauisch.

Andred zuckte abermals mit den Schultern, stellte sich wieder neben ihn und blinzelte aus zusammengekniffenen Augen zu dem anderen Segler hinüber. »Ich nehme Fahrt weg«, sagte er.

Skar schluckte die scharfe Entgegnung, die ihm auf der Zunge lag, im letzten Moment hinunter. »Das ist mir nicht entgangen«, sagte er spitz. »Aber warum?«

Der Freisegler deutete mit einer knappen Geste auf das schwarze Kaperschiff. »Er hält Kurs auf uns«, erklärte er geduldig. »Und das heißt, daß sein Kapitän mit mir sprechen will. Und er ist mindestens doppelt so schnell wie wir und würde uns so oder so einholen. Warum also sollten wir uns auf ein ebenso sinnloses wie kräftezehrendes Rennen mit ihm einlassen? Außerdem haben wir keinen Streit mit ihm – weder mit ihm noch mit irgendeinem anderen Thbarg.« Er schwieg einen Moment, sah Skar mit einem langen, nachdenklichen Blick an und fuhr in verändertem Tonfall fort: »Ich verstehe deine Nervosität nicht, Satai. Die Thbarg sind zwar gefürchtete Kapersegler, doch sie tun keinem etwas, der ihre Grenzen nicht überschreitet. Und einem Freisegler schon gar nicht.«

Skar schwieg. Seine Finger schlossen sich in einer unbewußten, kraftvollen Geste um das brüchige Holz der Reling. Andreds Worte klangen einleuchtend ganz egal, aus welcher Richtung er es bedachte; er hatte keinen Grund, nervös oder gar ängstlich zu sein. Und doch war etwas an diesem schwarzen, viermastigen Schiff dort drüben, das ihn alarmierte.

Vielleicht, versuchte er sich einzureden, war er auch nur übernervös. Die zweiwöchige Schiffsreise hatte mehr an seinen Kräften gezehrt, als er zugeben wollte, und die Nähe Elays und damit Velas tat ein übriges, ihn gereizt und vielleicht übervorsichtig werden zu lassen. Seit er Vela und die Sumpfleute verlassen und sich allein auf den Weg zu der Verbotenen Stadt im Herzen des Drachenlandes gemacht hatte, hatte er fast ununterbrochen an die ehemalige Errish gedacht, an sie und an das, was ihn erwarten mochte. Wenn man lange genug über eine unbekannte Gefahr nachdachte, dann fing man irgendwann einmal an, Gespenster zu sehen.

Aber der Thbargsegler dort drüben war kein Gespenst. Ganz und gar nicht.

Skar atmete hörbar ein, trat einen Schritt von der Reling zurück und sah sich unschlüssig an Deck um. Am liebsten wäre er in seine Kabine gegangen und dort geblieben, bis der Thbarg weitergesegelt war, aber das hätte zu sehr nach Flucht ausgesehen. Einen Moment überlegte er, ob er einfach seinen Mantel abstreifen und sich unter die Mannschaft mischen sollte, verwarf diesen Gedanken aber sofort wieder. Die Besatzung der SHANTAR bestand ausschließlich aus kleinen, gelbhäutigen Freiseglern, unter denen er sofort aufgefallen wäre.

Er merkte plötzlich, daß Andred ihn beobachtete, drehte sich verlegen um und lächelte. »Ist es normal, daß ein Schiff auf hoher See den Kurs ändert, nur weil die Kapitäne einen Plausch halten wollen?« fragte er, ehe Andred Gelegenheit hatte, eine Frage zu stellen. Skars Verhalten konnte dem Freisegler nicht entgangen sein.

Aber wenn er sich seine Gedanken darüber machte, so ließ er sich – jedenfalls im Augenblick – nichts anmerken. »Manchmal«, sagte er. »Zumindest auf hoher See. In Küstennähe wie hier … Vielleicht brauchen sie Wasser oder Proviant«, sagte er achselzuckend. »Oder einen Heilkundigen. Wir werden es in wenigen Augenblicken wissen.«

Skar zuckte zusammen und sah beinahe erschrocken an Andred vorbei nach Westen. Der Thbarg hatte schon fast die halbe Entfernung zurückgelegt und kam rasch näher. Die Segel an den vier großen Masten waren gebläht, und vor dem beilscharfen Rammsporn des Schiffes gischtete ein weiße Bugwelle. Andred hatte nicht übertrieben – der Thbarg war doppelt so schnell wie die SHANTAR; mindestens.

»Wenn du unter Deck gehen willst«, sagte Andred plötzlich, »dann tu es, solange noch Zeit ist. Von der Mannschaft wird niemand verraten, daß du an Bord bist. Freisegler nehmen normalerweise keine Passagiere mit.«

»Ich …« Skar schüttelte den Kopf, sah Andred jedoch nicht direkt an. »Wie kommst du darauf, daß ich unter Deck möchte?« fragte er ausweichend.

Der Freisegler grinste, wurde jedoch sofort wieder ernst. »Nur so«, murmelte er. »Du siehst nicht gerade aus wie ein Mann, der sich über das Zusammentreffen freut.«

Skar warf ihm einen finsteren Blick zu, schwieg jedoch und starrte dem näher kommenden Thbarg entgegen. Das Kaperschiff pflügte wie ein gewaltiger schwarzer Wal durch die Wellen. Es war größer als die SHANTAR, aber schlanker, so daß die Kraft des guten Dutzends Segel, die sich an den vier Masten blähten, optimal genutzt wurde und dem Schiff eine erstaunliche Geschwindigkeit – und wohl auch Wendigkeit – verlieh. Seine Bordwand war gut eine Manneslänge höher als die des Freiseglers, und hinter der hohen, durchbrochenen Reling waren die Drachenköpfe zahlreicher gespannter Katapulte zu erkennen, als das Schiff näher kam.

»Das ist seltsam«, murmelte Andred.

»Was?«

»Der Rauch dort – siehst du ihn?« Der Freisegler deutete auf das Heck des Thbarg. Eine Anzahl dünner, schwarzgrauer Rauchsäulen erhob sich vorn Achteraufbau des Kaperseglers. Sie trieben fast sofort im Wind auseinander, waren jedoch trotzdem deutlich zu erkennen. Über dem hinteren Teil. des Schiffes schien die Luft leicht zu flimmern, als wäre sie erhitzt. Skar nickte.

»Kohlen«, erklärte Andred. »Für die Katapulte. Sie sind in voller Kampfbereitschaft.«

»Hast du nicht gerade erst gesagt, daß du keinen Streit mit den

Thbarg hast?« fragte Skar mit mühsam beherrschter Stimme.

»Das gilt nicht uns«, widersprach der Freisegler. »Wollten sie uns angreifen, hätten sie es längst getan. Wir sind längst in ihrer Reichweite. Außerdem würde er dann kaum längsseits gehen, sondern uns im rechten Winkel rammen.« Seine Zunge fuhr in einer raschen, nervösen Bewegung über seine Unterlippe, und die Worte klangen nicht ganz so überzeugt, wie sie es hätten tun sollen. Der Freisegler war nervös, das sah Skar ganz deutlich.

Schweigend beobachteten sie das Näherkommen des Kaperschiffes. Der Thbarg minderte seine Geschwindigkeit nicht, änderte seinen Kurs erst im letzten Moment und segelte schließlich ein Stück hinter und neben der SHANTAR. Die Segel wurden gerefft; Skar konnte sehen, wie das Schiff wie ein großes, schwerfälliges Tier zitterte, als der Druck des Windes auf seine Spanten nachließ. Es war noch immer schneller als die SHANTAR, verlor jedoch nun rasch an Fahrt und kam nach wenigen Minuten fast auf den Meter genau neben dem kleineren Freisegler zum Stehen. Andred begleitete das Manöver mit einem flüchtigen Stirnrunzeln, aber selbst Skar – der von Schiffen kaum mehr verstand, als daß sie groß waren und schwimmen konnten – begriff, daß er hier Zeuge einer seemännischen Meisterleistung wurde.

»Ahoi, SHANTAR!« dröhnte eine Stimme vom Deck des Thbarg herüber. »Wir kommen an Bord!«

Eine Anzahl dunkler, gegen den flammenden Morgenhimmel nur als flache schwarze Schattenrisse zu erkennende Gestalten erschien hinter der Reling des Kaperseglers. Das gewaltige Schiff zitterte wieder, neigte sich ein wenig zur Seite und trieb dann ganz langsam auf die SHANTAR zu. Skar sah weder Ruder noch sonstige Hilfsmittel, mit denen das Schiff bewegte wurde; trotzdem schmolz die Entfernung zwischen den beiden Seglern sichtlich zusammen.

»Wie macht er das?« fragte Skar.

Andred zuckte erneut mit den Achseln. »Ich habe keine Ahnung«, antwortete er. »Aber irgendwie hast du recht, –Satai – die Sache gefällt mir nicht.« Er hatte unwillkürlich die Stimme gesenkt und flüsterte nur noch; seine Hände lagen auf der Reling, so fest, daß die Knöchel weiß durch seine sonnenverbrannte Haut hindurchschimmerten. Er gab sich alle Mühe, seine Unruhe zu verbergen, aber es gelang ihm nicht.

Der Thbarg kam näher und hielt schließlich auf die gleiche, geheimnisvolle Weise, auf die er sich in Bewegung gesetzt hatte, weniger als eine Armlänge neben der SHANTAR an. Ein schwacher Geruch nach frischem Teer und brennenden Kohlen wehte zu ihnen herüber.

In die Gestalten hinter der Reling kam Bewegung. Eine Planke wurde zum Deck der SHANTAR herabgelassen und mit kleinen kupfernen Krallen festgehakt; dann traten drei der Männer – rasch und mit ausgebreiteten Armen, um auf der abschüssigen Laufplanke das Gleichgewicht zu halten – zu ihnen herab.

Skar musterte die Neuankömmlinge mit unverhohlenem Mißtrauen. Sie waren allesamt groß und sehr muskulös und in bodenlange, dunkelblaue, mit silbernen Stickereien verzierte Mäntel gehüllt. Das einzige Unterscheidungsmerkmal war ein wuchtiger, goldbeschlagener Helm, den einer von ihnen trug. Nach dem einfachen, schon beinahe ärmlichen Leben, das Skar an Bord der SHANTAR kennengelernt hatte, erschien ihm die Aufmachung der drei Thbarg schon fast barbarisch in ihrer Pracht.

»Ich bin Gondered«, stellte sich der Anführer der Thbarg vor. Es war der Mann mit dem Goldhelm. Sein Blick tastete, rasch und mit der Selbstsicherheit eines Mannes, der im Umgang mit Menschen geübt war, über Skars Gestalt, blieb eine halbe Sekunde an seinem Gesicht hängen und wandte sich dann Andred zu. »Ihr seid der Kapitän?« Es war keine Frage, sondern eine Feststellung, und allein der herrische Ton, in dem sie vorgebracht wurde, klärte die Fronten zwischen ihnen deutlicher, als es die gespannten Katapulte gekonnt hatten.

Andred nickte. Die Bewegung wirkte abgehackt und verkrampft, und Skar sah, wie die Hand des Freiseglers langsam und in einer Bewegung, über die er sich wahrscheinlich selbst nicht im klaren war, zum Gürtel kroch. Der Griff seines Kurzschwertes zeichnete sich deutlich durch das glänzende Leder des Regenmantels ab. »Mein Name ist Andred«, sagte er mühsam beherrscht. »Ich bin Eigner und Kapitän der SHANTAR. Würdet Ihr mir verraten, was der Grund für Euren Besuch ist?« Seine Stimme klang spröde. Von der Freundlichkeit, die Skar an ihm kennen- und schätzengelernt hatte, war nichts mehr geblieben.

Auch Gondered entging der ablehnende Tonfall in den Worten des Freiseglers nicht, aber seine Reaktion fiel anders aus, als Skar erwartet hatte. In seinen Augen blitzte es amüsiert auf. »Gern, Kapitän«, sagte er. »Wir segeln im Auftrag der Ehrwürdigen Frauen von Elay und kontrollieren jedes Schiff, das sich den Küsten des Drachenlandes nähert.«

»Kontrollieren?« konterte Andred. »Wonach? Wenn Ihr nach Schmuggelgut sucht …«

Gondered unterbrach ihn mit einer abfälligen Handbewegung. »Wer spricht von Schmugglern?« sagte er lächelnd. »Wir sind Thbarg, Kapitän, keine Steuereintreiber. Ihr solltet uns besser kennen. Wir suchen Quorrl.«

»Hier?« erwiderte Andred ungläubig. »Verzeiht, Kapitän, aber –«

Erneut wurde er von Gondered unterbrochen. »Ich habe meine Befehle«, sagte der Thbarg hart. »Und die lauten nun einmal, mir jedes Schiff genau anzusehen.« Er schwieg einen Moment und lächelte dann flüchtig, wohl, um seinen Worten nachträglich etwas von ihrer Schärfe zu nehmen. »Natürlich glaube ich nicht, daß ich auf Eurem Schiff Quorrl oder sonstiges Kroppzeug antreffen werde, Kapitän, aber Ihr werdet mir erlauben, Eure Laderäume ganz kurz zu inspizieren?«

Skar sah alarmiert von Gondered zu Andred und wieder zurück. Er spürte, daß es in dem Freisegler kochte. Gondereds Freundlichkeit war bewußt aufgesetzt, und der Spott, der sich dahinter verbarg, kaum mehr zu überhören. Es schien dem Thbarg Freude zu bereiten, sich an der Hilflosigkeit seines Gegenübers zu weiden.

»Mein Schiff steht Euch zur Verfügung«, sagte Andred steif. »Wenn Ihr die Frachtpapiere sehen wollt …«

Gondered winkte ab. »Mit dem Papierkram sollen sich die Hafenbehörden befassen«, sagte er. »Ihr segelt nach Anchor?«

Andred nickte. »Wir wollen noch heute einlaufen.«

»Das werdet Ihr«, versicherte Gondered. »Es dauert nicht lange, vorausgesetzt, daß wir nichts finden.«

Andreds Lächeln wurde um eine weitere Spur eisiger, aber er zog es vor zu schweigen. Der Thbarg drehte sich herum, gab seinen Männern an Deck des Kaperschiffes ein Zeichen und trat zur Seite, als weitere Männer über die Planke zur SHANTAR herunter kamen. Sein Blick heftete sich wieder auf Skar.

»Ihr seid kein Freisegler?« fragte er.

Skar schüttelte den Kopf, schwieg aber. Er spürte ganz genau, daß Gondered mehr war als ein einfacher Kaperkapitän, der seine Befehle ausführte. Und der Thbarg gab sich nicht einmal sonderliche Mühe, sich zu verstellen.

»Wie kommt es, daß sich ein Thbarg in die Dienste der Errish stellt?« fragte Skar. »Ich dachte immer, ihr wäret ein stolzes Volk, das sich nicht verkauft.« Seine Worte taten ihm im gleichen Moment schon wieder leid, aber Gondered gehörte zu den Männern, die allein durch ihren Anblick schon Aggressionen in ihm weckten.

Die Mundwinkel des Thbarg zuckten. »Wir verkaufen uns nicht«, sagte er betont. »Aber wenn die Errish nach Hilfe rufen, dann kommen wir. Folgen nicht sogar die Satai dem Ruf der Ehrwürdigen Frauen?«

Skar hatte Mühe, nicht zusammenzufahren. Gondereds Gesicht wirkte entspannt und so herablassend-freundlich wie zuvor, aber es war gewiß kein Zufall, daß er ausgerechnet diese Frage stellte. Und das mißtrauische Glitzern in seinen Augen war unübersehbar.

Skar zuckte mit den Achseln, wandte sich halb um und sah scheinbar interessiert zu, wie Gondereds Männer über das Deck der SHANTAR ausschwärmten und in den Frachtluken und Aufbauten verschwanden. »Möglich«, sagte er. »Ich kümmere mich im allgemeinen nicht um solche Dinge.«

»Ihr habt nicht zufällig einen Satai getroffen, in letzter Zeit?« fuhr Gondered lauernd fort.

Skar wandte sich wieder zu ihm um, hielt seinem Blick eine endlose Sekunde lang stand und schüttelte den Kopf. »Der letzte, von dem ich hörte, schlug sich gerade in der Arena von Ikne für Geld mit irgendwelchen Barbaren herum«, sagte er ruhig.

Gondered nickte. Einen Moment schien er über Skars Worte nachzugrübeln. »Und wer seid Ihr?« fuhr er dann fort. »Wenn die Frage gestattet ist – immerhin trifft man selten einen Passagier an Bord eines Freiseglers.«

Andred sog erschrocken die Luft ein. Gondered mußte es erkennen, ließ sich jedoch keine Reaktion darauf anmerken.

»Mein Name ist Bert«, log Skar. »Ich bin ein reisender Händler aus Malab. Kapitän Andred war so freundlich, mir eine Passage auf seinem Schiff anzubieten. Der Landweg nach Elay ist weit und voller Gefahren.«

»Vor allem für einen hilflosen Kaufmann wie Euch, wie?« Skar lächelte dünn. »Wer sagt, daß Kaufleute unbedingt hilflos sein müssen?« gab er zurück.

»Bert ist ein guter Bekannter von mir«, mischte sich Andred ein. »Ich stand seit langem in seiner Schuld. Er … hat mir einmal zu einem guten Geschäft verholfen. Mit der Überfahrt kann ich das wettmachen.«

Gondered runzelte die Stirn, sah Andred einen Herzschlag lang zweifelnd an und wandte sich dann wieder an Skar. »Ihr werdet in Anchor keine guten Geschäfte machen«, sagte er. »Die Stadt steht in Waffen, und die Menschen haben anderes zu tun, als Geschäfte abzuschließen.«

»Gegessen wird immer«, gab Skar mit gespieltem Gleichmut zurück. »Und wo ein paar Goldstücke zu verdienen sind, da ist auch der Krieg rasch vergessen.«

»Was soll das heißen, die Stadt steht in Waffen?« fragte Andred hastig.

Gondered bedachte ihn mit einem beinahe mitleidigen Blick. »Ihr seid lange nicht mehr in diesem Teil Enwors gewesen, wie?« fragte er. »Das ganze Drachenland ist zu den Waffen geeilt, Kapitän, aus dem gleichen Grund, aus dem wir hier patrouillieren.«

»Quorrl?« fragte Skar.

Der Thbarg nickte. »Die Ehrwürdige Mutter ist endlich zur Besinnung gekommen und tut, was schon vor Jahrzehnten hätte getan werden sollen. Ein Heereszug der Quorrl hat die Grenzen überschritten und eine Stadt geschleift. Und jetzt jagen wir sie zur Hölle.«

Skar runzelte die Stirn. »Ihr sprecht sehr respektlos von Eurer Dienstherrin, Kapitän«, sagte er leise.

»Elay ist weit«, antwortete Gondered achselzuckend. »Und wie Ihr schon so richtig bemerkt habt, Bert« er betonte den Namen auf so seltsame Weise, daß Andred erneut zusammenfuhr –, »verkaufen wir Thbarg uns nicht. Wir erfüllen nur unsere Aufgabe. Aber das gründlich, mein Wort darauf.«

Skar verbiß sich die böse Bemerkung, die ihm auf der Zunge lag. Gondered wußte – oder ahnte zumindest –, daß er alles andere als ein harmloser Kauffahrer war, und wollte ihn provozieren. Skar mußte zugeben, daß Gondered nahe daran war, sein Ziel zu erreichen. Vielleicht hatte die Reise an Bord der SHANTAR zu lange gedauert. Nach der ununterbrochenen Anspannung, unter der Skar seit seinem ersten Aufbruch aus Ikne gestanden hatte, ließen ihn die zwei Wochen Ruhe an Bord des Seglers nicht nur müde, sondern auch unvorsichtig werden.

»Seit wann treiben sich Quorrl auf dem offenen Meer herum?« fragte Andred, bevor Skar vollends einen Streit mit dem Thbarg beginnen konnte.

Gondered zuckte mit den Achseln, als interessiere ihn die Antwort auf diese Frage überhaupt nicht. »Sie sind überall«, sagte er. »Das Heer wurde zerschlagen, aber die Überlebenden haben sich zu kleinen Banden zusammengeschlossen und ziehen plündernd durch das Land. Vor zwei Wochen haben sie einen Küstensegler gekapert und versucht, mit ihm das freie Meer zu erreichen.«

»Und?« fragte Skar.

Gondered lächelte häßlich. »Unsere Katapulte schießen sehr weit«, sagte er. »Und sehr genau, Bert. Die Quorrl haben das nicht geglaubt, aber wir haben es ihnen demonstriert.« Er wurde übergangslos wieder ernst. »Ihr solltet auf der Hut sein, Bert, wenn Ihr Anchor verlaßt und weiter durch das Land zieht.«

Skar lächelte böse. »Solange es Männer wie Euch gibt, Gondered, fürchte ich mich nicht vor Quorrl.«

Gondereds Hand schloß sich um den Schwertgriff unter seinem Mantel. Der Stoff bewegte sich raschelnd, und Skar sah, daß Gondered darunter ein glitzerndes Panzerhemd trug. Auch die letzte Spur von Freundlichkeit verschwand aus Gondereds Gesicht. »Das braucht Ihr auch nicht, Bert«, sagte er dumpf. Er fuhr mit einer abrupten Bewegung herum, entfernte sich ein paar Schritte und begann seine Leute anzubrüllen und zur Eile anzutreiben.

Skar und Andred sahen schweigend zu, wie die Thbarg das Schiff untersuchten. Es war alles andere als ein flüchtiger Blick, wie Gondered angekündigt hatte. Sie brauchten weniger als eine halbe Stunde, aber es mußten an die hundert Mann sein, die nach und nach auf das Deck der SHANTAR herunterstiegen, unter Deck gingen und jeden Winkel und jede Ecke durchstöberten.

Skar spürte, wie sich die Stimmung unter den Freiseglern mehr und mehr zuspitzte. Es war nicht viel, was er über das Volk der Freisegler wußte – er war den Männern während der letzten vierzehn Tage aus dem Weg gegangen, soweit dies in einer so beengten Umgebung wie einem Schiff möglich war; und sie ihm auch aber der Stolz dieser seefahrenden Händler war überall auf Enwor zur Genüge bekannt. Es gehörte nicht viel Phantasie dazu, sich vorzustellen, was jetzt hinter den scheinbar unbewegten Gesichtern der Männer vorging, und er sah mehr als eine Hand, die mit einer unbewußten Geste nach Säbel, Tau oder Enterhaken tastete. Im stillen bewunderte er die Disziplin, die Andreds Männer an den Tag legten. Gondereds Verhalten war mehr als eine bloße Provokation. Es war eine Demütigung, wie sie schlimmer kaum sein konnte, und zugleich eine ebenso überhebliche wie unnötige Demonstration von Stärke. Skar beobachtete den Thbarg genau – Gondered wirkte nur äußerlich gelassen und ruhig. Seine Freundlichkeit war nur eine dünne, nicht einmal besonders sorgsam aufgetragene Tünche, und dem Blick seiner dunklen, stechenden Augen schien nicht die winzigste Kleinigkeit zu entgehen. Skar war sicher, daß Gondered die gereizte Stimmung unter den Freiseglern ebenso deutlich bemerkte wie er. Gondered genoß die Situation sichtlich. Wahrscheinlich, überlegte Skar, wartete er nur darauf, seine Stärke und die Feuerkraft seines Seglers demonstrieren zu können.

Aber der gefährliche Moment ging vorbei, und schließlich zogen sich Gondereds Männer so schnell und unauffällig, wie sie gekommen waren, wieder zurück. Auch der Thbarg und seine beiden Begleiter wandten sich zum Gehen, blieben jedoch kurz vor Erreichen der Laufplanke noch einmal stehen.

»Ihr könnt weitersegeln, Andred«, sagte Gondered kalt. »Der Wind steht günstig, und wenn Eure Ruderer kräftig auslegen, dann erreicht Ihr Anchor noch vor Sonnenuntergang.« Er nickte, lächelte wieder sein dünnes, humorloses Lächeln und wandte sich noch einmal an Skar. »Auch wir segeln nach Anchor, Bert«, sagte er. »Ihr könnt den Rest der Reise auf unserem Schiff verbringen, wenn Ihr wollt. Ihr gewinnt einen halben Tag.«

Skar schüttelte den Kopf. »Es lohnt sich nicht mehr«, entgegnete er. »Mein Gepäck müßte umgeladen werden, und ich will Euch nicht länger von der Jagd auf Quorrl abhalten als nötig ist. Danke für das Angebot.«

Gondered zuckte die Achseln. »Wie Ihr wollt. Ich denke, wir sehen uns noch. In Anchor. Guten Wind, Kapitän.«

»Guten Wind«, erwiderte Andred steif. Mit unbewegtem Gesicht sah er zu, wie Gondered und seine drei Begleiter an Bord des Kaperseglers zurückkehrten und die Laufplanke eingezogen wurde. Ein tiefes, mahlendes Stöhnen ging durch den Rumpf des größeren Schiffes. Der Bug mit dem messerscharfen Rammsporn drehte sich ein wenig von der SHANTAR weg auf die entfernte Küste zu, die Segel wurden gesetzt, und das Schiff nahm wieder Fahrt auf. Andred starrte ihm länger als eine Minute nach, fuhr dann mit einer abrupten Bewegung herum und maß Skar mit einem undeutbaren Blick. »Ich glaube, Ihr seid mir eine Erklärung schuldig, Satai?« sagte er kalt.

Skar nickte. »Ich –«

Andred unterbrauch ihn mit einer hastigen Handbewegung. »Nicht hier«, sagte er. »In meiner Kabine. Ihr könnt schon hinuntergehen. Ich habe hier noch zu tun, komme aber gleich nach.« Er nickte, ging ohne ein weiteres Wort an Skar vorbei und begann seinen Männern Kommandos und Befehle zuzurufen.

Skar blieb noch einen Moment an der Reling stehen, ehe er sich ebenfalls umdrehte und langsam zum Achteraufbau der SHANTAR ging. Er hatte gespürt, wieviel Mühe es Andred gekostet hatte, ihn zumindest höflich zu behandeln – es war kein Zufall, daß der Freisegler nach fast zwei Wochen vom vertraulichen Du wieder zum reservierten Ihr zurückgekehrt war, und eigentlich kam es Skar jetzt erst richtig zu Bewußtsein, daß Andred vielleicht nicht nur seine Freiheit, sondern sein Leben und sein Schiff riskiert hatte, als er ihn deckte.

Er erreichte die Tür, blieb noch einmal stehen und sah dem rasch kleiner werdenden Kapersegler nach. Der Thbarg hatte volle Segel gesetzt und jagte mit großer Geschwindigkeit nach Norden, wie die SHANTAR der Küste folgend, jedoch näher; wahrscheinlich nahe genug, daß man von Deck aus noch das Geschehen auf den Küstenfelsen verfolgen konnte und gleichzeitig durch den gewaltigen schwarzen Schatten der Basaltklippen vor einer Entdeckung von See aus geschützt war. Skar konnte Gondered ein gewisses Maß an Anerkennung nicht versagen. In seinen Augen war der Thbarg nichts als eine Ratte, doch eine intelligente, gefährliche Ratte. Aber im Grunde hätte ihn diese Entwicklung nicht überraschen dürfen. Es war genau dieser Typ Mann, den Vela in ihre Dienste nehmen würde.

Mit einem entschlossenen Kopfschütteln vertrieb er den Gedanken, drehte sich herum und trat durch die Tür. Andreds Kabine lag am Ende eines langen, fensterlosen Ganges ganz im Heck des Schiffes. Es war der einzige Raum an Bord, der die Bezeichnung Kabine wirklich verdiente – auch er war klein, kaum fünf mal zehn Schritte messend, aber die Decke war wenigstens hoch genug, daß man stehen konnte, ohne sich ständig den Schädel anzustoßen, und durch die vier großen, aus farbigem Glas bestehenden Luken an der Rückseite drang genügend Sonnenlicht herein, um dem Raum wenigstens etwas von seiner Kerkeratmosphäre zu nehmen.

Skar schloß die Tür hinter sich, streifte seinen Umhang ab und warf ihn achtlos in eine Ecke. Gondereds Männer waren auch hier gewesen – einige der Bücher auf dem schmalen, mit einer silbernen Kette gesicherten Regal neben der Tür waren umgeworfen und nur achtlos wieder aufgestellt worden, und die Tür des Wandschranks stand einen Spaltbreit offen. Skar trat besorgt an die niedrige, metallbeschlagene Seekiste des Freiseglers heran und ließ sich davor in die Hocke sinken. Das Haar, das er in eines der Scharniere geklemmt hatte, war noch da.

Skar atmete innerlich auf. Er war sicher, daß die Thbarg auch seine Kabine durchsucht hatten, vielleicht gründlicher als jeden anderen Raum an Bord. Im nachhinein beglückwünschte er sich zu dem Entschluß, Andred gleich zu Beginn der Reise sein Tschekal und das schmale Satai-Stirnband in Verwahrung gegeben zu haben.

Als er sich wieder aufrichtete, wurde die Tür geöffnet, und Andred betrat den Raum. Er blieb einen Herzschlag lang stehen, sah zuerst Skar, dann die Seekiste an und ging schließlich mit übertrieben eiligen Schritten zu seinem Tisch. »Setz dich, Satai«, sagte er knapp, nachdem er selbst hinter dem wuchtigen, mit kostbaren Schnitzereien verzierten Schreibtisch Platz genommen hatte.

Skar zog sich einen der niedrigen dreibeinigen Schemel heran, ließ sich darauf nieder und sah Andred an. Der Freisegler hatte seinen Regenmantel abgelegt und wirkte jetzt noch schmaler, als er ohnehin war. Seine Finger spielten nervös mit einer zusammengerollten Karte. Aber er hielt Skars Blick gelassen stand.

Skar begann sich allmählich unwohl zu fühlen. Ihm wäre wohler gewesen, wenn Andred ihm Vorhaltungen gemacht oder wenigstens irgend etwas gesagt hätte.

»Du … wartest auf eine Erklärung«, sagte er stockend.

Andred lächelte. »Nicht unbedingt. Nur, wenn Euch danach ist, Satai«, sagte er spöttisch.

Skar zuckte zusammen. »Du hast dein Schiff und deine Ladung in Gefahr gebracht«, begann er, »und –«

»Ich habe mein und das Leben meiner Besatzung aufs Spiel gesetzt, wenn du es genau wissen willst«, unterbrach ihn Andred kühl. »Dieser Thbarg hätte uns mit Freuden die Wirkung seiner Katapulte demonstriert, wenn ich ihm Gelegenheit dazu gegeben hätte. Aber ich habe es nicht wegen dir getan.«

»Sondern?« fragte Skar, obwohl er die Antwort bereits kannte.

Andred verzog angewidert die Lippen. »Nimm an, daß ich Männer wie Gondered nicht mag«, sagte er. »Und nimm weiter an, daß ich es nicht schätze, auf offener See aufgebracht und wie ein gemeiner Schmuggler behandelt zu werden. Aber das ist keine Antwort auf meine Frage, Skar. Warum hast du dich als malabesischer Händler ausgegeben?«

»Hätte ich es nicht getan«, antwortete Skar nach einer genau bemessenen Pause, »dann wären wir jetzt vielleicht alle schon tot.«

Andred zog die linke Augenbraue hoch, schwieg aber.

»Ich kann mich täuschen«, fuhr Skar nach einer Weile fort, »aber ich glaube nicht, daß Gondered wirklich auf der Suche nach Quorrl oder Schmugglern ist. Er sucht mich.«

»Dich?«

Skar nickte. »Ich fürchte«, bestätigte er. »Und ich fürchte, er hat mir die Geschichte von dem malabesischen Händler nicht geglaubt. Es wird am besten sein, wenn ich von Bord gehe, ehe die SHANTAR den Hafen von Anchor anläuft.«

Andred runzelte zweifelnd die Stirn und beugte sich ein wenig vor. »Wie kommst du darauf, daß sie dich suchen?« fragte er.

»Das ist eine lange Geschichte«, antwortete Skar ausweichend. Er rutschte unruhig auf seinem Schemel hin und her und sah an Andred vorbei zur Luke. Das farbige Bleiglas zerstäubte das Sonnenlicht zu glitzernden Streifen aus Blau und Rot und Orange und Gelb, und für einen Moment glaubte Skar einen mächtigen, struppigen Schatten zwischen den farbigen Lichtbahnen zu gewahren.

Aber der Schatten war natürlich nicht wirklich da. Es war seine Vergangenheit, die ihn wieder eingeholt hatte. Die zwei Wochen auf See waren eine Atempause gewesen, mehr nicht. Es war nicht vorbei. Vielleicht hatte es noch nicht einmal wirklich begonnen.

»Erzähl sie«, sagte Andred. »Wir haben Zeit genug, und ich bin ein geduldiger Zuhörer.«

»Wie kommst du darauf, daß ich sie erzählen will?« fragte Skar in einem Tonfall, der ihm fast sofort wieder leid tat. »Es wäre vielleicht nicht gut für dich, sie zu wissen«, fügte er hastig hinzu. »Ich habe Feinde, Andred. Mächtige Feinde.«

Der Freisegler zuckte gleichmütig die Achseln und ließ sich zurücksinken. »Wenn du recht hast«, sagte er, »dann werde ich so oder so Schwierigkeiten bekommen. Aber nimm keine Rücksicht auf mich – ich habe dir schon gesagt, welche Gefühle ich Gondered entgegenbringe. Ich hätte ihn in Ketten legen und kielholen lassen, wäre sein verdammter Kapersegler nicht gewesen. Ich werde mich bei der Hafenbehörde von Anchor über ihn beschweren.«

Skar lachte hart. »Wenn du mich fragst, dann ist er die Hafenbehörde.«

Andred sah ihn einen Moment lang fast erschrocken an und lachte dann ebenfalls. »Seinem Benehmen nach zu urteilen, könntest du recht haben«, bestätigte er. »Aber nun einmal im Ernst, Skar« – er wurde übergangslos wieder ernst, beugte sich ein Stück vor und stützte die Ellbogen auf der Tischkante auf –, »was hat das zu bedeuten? Und was meinst du damit, daß er dich sucht?«

»Das, was ich sage«, murmelte Skar. »Hast du je davon gehört, daß die Errish thbargsche Kapersegler in ihre Dienste nehmen?«

Andred schüttelte den Kopf. »Nein. Und …«

»Oder daß sie zu einem Kriegszug gegen die Quorrl aufrufen? Es ist nicht das erste Mal, daß Quorrl oder andere Banditen die Grenzen des Drachenlandes verletzen.«

Andred nickte widerwillig. »Sicher«, sagte er, »aber …« Er sprach den Satz nicht zu Ende, sondern sah Skar nur unsicher und mit wachsendem Schrecken an. Es war deutlich zu sehen, daß seine Überlegungen in die gleichen Richtungen wie die Skars gingen – aber es war auch ebenso deutlich zu sehen, daß er sich mit aller Macht gegen die Erkenntnis, die daraus folgerte, zu wehren versuchte. Skar verstand den Freisegler nur zu gut. Noch vor wenigen Monaten hatte er ähnlich reagiert. Die Errish waren weit mehr als ein Clan Unantastbarer, eine Vereinigung wohltätiger weiser Frauen. Wenn es in einer Welt wie Enwor überhaupt noch ein Wort gab, das für Ehre und ein aufrechtes Leben stand, dann war es der Name der Ehrwürdigen Frauen.

»Ich kann mich täuschen«, fuhr er nach einer Weile fort. »Aber der Zufall wäre zu groß. Und es paßt alles zusammen – obwohl ich gehofft hatte, noch rechtzeitig anzukommen.«

Andred runzelte die Stirn, faltete die Hände auf der Tischplatte und stand unvermittelt auf. Kopfschüttelnd ging er zur Backbordseite der Kabine, öffnete einen verborgenen Wandschrank und entnahm ihm einen Krug und zwei schlanke, handgeschliffene Trinkbecher aus hauchdünnem Kristall. Er stellte einen vor Skar auf den Tisch, goß ihn bis dicht unter den Rand voll und setzte sich wieder, ehe er sein eigenes Glas einschenkte. Skar trank einen winzigen Schluck, fuhr sich mit dem Handrücken über den Mund und sah den Freisegler unsicher an. Eine innere Stimme schien ihn davor zu warnen, Andred ins Vertrauen zu ziehen. Aber er war so lange allein gewesen, so lange einsam, daß er im Augenblick auch mit einem Stuhl oder dem Wind geredet hätte. Und vielleicht tat es gut, einmal wieder mit einem Menschen zu reden, mit jemandem, der – wenn schon nicht sein Freund – so doch wenigstens ein geduldiger Zuhörer war.

Er trank wieder und leerte das Glas diesmal bis zur Hälfte. Andred lächelte, beugte sich über den Tisch und füllte es wieder auf. »Und jetzt erzähle«, sagte er. »Und keine Sorge – wenn deine Befürchtungen zutreffen, dann stecke ich ohnehin viel zu tief in der Sache, um noch mit heiler Haut herauszukommen.«

»Das ist es ja, was ich befürchte«, murmelte Skar. »Ich stehe in deiner Schuld, und ich möchte nicht, daß …«

»Unsinn«, unterbrach ihn Andred. »Hör mit den dummen Sprüchen auf, daß du nicht willst, daß ich zu Schaden komme. Das passiert höchstens, wenn du mir weiterhin die Wahrheit verschweigst und ich Gondered blindlings ins Messer laufe. Und ich glaube«, fügte er nach einem weiteren Schluck Wein hinzu, »es tut dir gut, dich einmal auszusprechen.«

Skar überlegte. Andred sagte nichts mehr, aber sein Blick sprach Bände. Vielleicht würde er nicht weiter in Skar dringen, aber er hatte recht, mit jedem Wort. Wissen konnte gefährlich sein, aber in ihrer Lage war Unwissenheit wohl noch gefährlicher.

Skar begann stockend zu berichten. Er fing an, mit ihrer Rückkehr von der fehlgeschlagenen Expedition in die Nonakesh und mit den Wochen in Ikne, und ohne daß er es zuerst selbst merkte, wurde seine Rede immer flüssiger, schneller, bis die Worte schließlich nur so aus ihm heraussprudelten. Andred hatte recht gehabt – es tat gut, sich auszusprechen, und auch wenn Andred nicht viel mehr für ihn tun konnte als zuzuhören, spürte er, wie der Druck allmählich von seiner Seele wich. Es war das erste Mal überhaupt, daß er einen Menschen so ins Vertrauen zog, aber er spürte einfach, daß er es mit Andred tun konnte. Er redete länger als eine Stunde und erzählte Andred – mit wenigen Einschränkungen – die ganze Geschichte, ohne daß ihn der Freisegler auch nur einmal unterbrach.

Es wurde sehr still in der kleinen Kabine, als Skar geendet hatte; selbst das Klatschen der Ruder, die die SHANTAR mit gleichmäßiger Geschwindigkeit nach Norden trieben, schien leiser geworden zu sein, und das farbige Licht der Bleiglasluken trug dazu bei, die unwirkliche Atmosphäre noch zu verstärken.

»Das ist eine … fast unglaubliche Geschichte«, sagte Andred nach einer Weile.

»Ich weiß.« Skar nickte, nahm sein mittlerweile geleertes Glas und drehte es nachdenklich in den Fingern. Der geschliffene Kristall zerlegte seinerseits das Licht wieder in einzelne Farben und ließ die unzähligen Facetten in allen Nuancen des Regenbogens aufflammen.

»Und gerade darum bin ich fast geneigt, dir zu glauben«, sagte Andred. »Ich wüßte keinen Grund, warum sich ein Mann wie du eine so haarsträubende Geschichte ausdenken sollte.« Er lachte, aber es war eher ein Laut der Unsicherheit. »Und du glaubst, diese – wie hieß sie? Vela?«

Skar nickte.

»Du glaubst, diese Vela ist bereits in Elay? In weniger als vier Monaten vom Quellgebiet des Besh hierher?« Der Zweifel in Andreds Stimme war unüberhörbar, aber wie das Lachen zuvor schien auch er gekünstelt und nur dem Zweck dienend, die Furcht, die Skars Erzählung in ihm wachgerufen hatte, zu dämpfen. »Und in dieser Zeit soll sie auch noch die Macht in Elay übernommen haben?«

»Du hast nicht erlebt, wozu diese Frau fähig ist«, murmelte Skar. »Sie spielt mit Menschen wie mit Puppen. Männer wie Gondered haben ihr nichts entgegenzusetzen. Und dieser verdammte Stein gibt ihr zusätzlich noch die Möglichkeit, alles zu erreichen.« Er seufzte, schüttelte den Kopf und goß sich Wein ein. »Ich bin auf dein Schiff gekommen, weil ich dachte, so noch rechtzeitig in Elay sein zu können. Aber es sieht so aus, als hätte ich mich getäuscht. Sie war vor mir hier, und sie weiß, daß ich sie verfolgen werde. Wahrscheinlich hat sie sämtliche Pässe über die Berge sperren lassen.«

»Und die Häfen auch«, fügte Andred finster hinzu.

Skar nickte. »Die Häfen auch. Deshalb mein Vorschlag, vorher an Land zu gehen. Gib mir ein Boot oder meinetwegen nur ein Holzstück, an dem ich mich festhalten und an Land schwimmen kann …«

Andred unterbrach ihn mit einer resignierenden Geste. »Das ist unmöglich, Skar. Es sind acht Meilen bis zur Küste, und selbst wenn du den Haien entgehen solltest, würde die Brandung dein Boot an den Klippen zerschmettern. Was glaubst du. warum wir so weit von der Küste entfernt segeln. Der Hafen von Anchor ist die einzige Stelle auf hundert Meilen, an der ein Schiff anlegen kann. Du wirst schon an Bord bleiben müssen, bis wir den Hafen erreichen. Wie bist du über die Berge gekommen?«

Skar hatte für einen Moment Mühe, dem plötzlichen Gedankensprung zu folgen. Er hatte seine Erzählung dort beendet, wo sie die Leichen von Velas Männern und des Drachen gefunden hatten.

»Gar nicht«, sagte er nach kurzem Zögern. »Gowenna hatte recht – die Pässe waren verschneit, und ich wäre beinahe umgekommen, als ich versuchte, sie trotzdem zu überwinden. Ich kämpfte mich zurück, bis ich den Besh erreichte und einen Flußschiffer fand, bei dem ich eine Passage erstehen konnte. Für mein letztes Geld«, fügte er grinsend hinzu. »Deshalb mußte ich dir auch die Fahrt hierher abbetteln.«

»Was deinem Stolz als Satai natürlich einen ungeheuren Abbruch getan hat«, fügte Andred in einer Mischung aus Ernst und gutmütigem Spott hinzu.

Skar schüttelte den Kopf. »Nein, Andred. Mein Stolz ist auf den Ebenen von Tuan erfroren. Ich … ich glaube nicht, daß ich wirklich noch Satai bin.«

Auf Andreds Gesicht erschien ein überraschter Ausdruck. »Das klingt sehr verbittert, mein Freund«, sagte er. »Glaubst du wirklich, daß es sinnvoll ist, sein Leben wegzuwerfen – nur um Rache zu üben?«

Skar sah den Freisegler an, ohne zu antworten. Es hätte tausend Dinge geben können, die er erwidern konnte, so wie Andred tausend Antworten darauf finden konnte. Er hatte jede einzelne durchdacht, hundertmal, auf dem Weg den Besh herab und dann hier an Bord, und vielleicht hatte er sich geweigert, wirklich jemals darüber nachzudenken, weil er Angst hatte, eingestehen zu müssen, daß er sich irrte.

»Vielleicht nicht«, sagte er nach einer Weile.

»Aber du willst nicht darüber reden, ich verstehe«, murmelte Andred. »Und es geht mich wohl auch nichts an. Suchen wir lieber nach einer Lösung.«

»Wir?«

Andred nickte. »Du kannst nicht von Bord, Skar«, sagte er geduldig. »Sieh das endlich ein. Wir sind Partner – ob es dir paßt oder nicht.« Er hob sein Glas und prostete Skar mit einer übertriebenen Geste zu. »Wenn dein Verdacht stimmt, dann wird Gondered uns in Anchor erwarten.«

»Du wirst Ärger bekommen«, prophezeite Skar düster.

Andred winkte gelangweilt ab. »Ich lebe vom Ärger, Skar«, sagte er. »Aber ich glaube, du bist ein Mann, der dringend ein paar gute Freunde braucht. Nicht nur hier an Bord.« Er überlegte einen Moment, starrte an Skar vorbei zu einem imaginären Punkt irgendwo auf halber Strecke zwischen seinem Schreibtisch und der Wand und faltete die Hände unter dem Kinn. »Ich habe Bekannte in Anchor«, murmelte er,. mehr zu sich als zu Skar gewandt. »Aber ich weiß nicht, ob ich ihnen trauen kann. Wenn diese Errish tatsächlich schon das ganze Land unterwandert hat …«

»Das ganze Land sicher nicht«, sagte Skar. »Auch sie kann nicht zaubern – jedenfalls nicht so. Wäre ich sie, dann hätte ich genau das getan, was sie getan hat – die Schlüsselpositionen mit meinen Leuten besetzt, die Grenzen geschlossen und dem Volk auf der Straße etwas gegeben, woran es sich begeistern kann.«

»Du meinst diesen Feldzug gegen die Quorrl.«

Skar nickte. »Auch. Die erste Lektion jedes Möchtegern-Diktators«, fügte er lächelnd hinzu. »Wirf dem Volk einen Köder hin und gib ihm etwas zu tun, damit es nicht zum Nachdenken kommt.«

Andred sog nachdenklich die Luft zwischen den Zähnen ein. »Du wirst nach Elay müssen. Ein weiter Weg für einen einzelnen Mann. Vielleicht wäre es besser, du würdest warten, bis deine Freunde aus Cosh nachkommen.«

Skar schüttelte heftig den Kopf. »Dann ist es zu spät«, behauptete er. »Es wäre schon jetzt zu spät, fürchte ich. Vela ist vorbereitet, und ein direkter Angriff mit Waffengewalt ist so ungefähr das letzte, womit ihr beizukommen wäre.«

Andred nickte trübsinnig, seufzte erneut und stand auf. »Dieses Was-wäre-wenn-Spielchen hilft weder dir noch mir weiter«, sagte er bestimmt. »Zuerst einmal bringen wir dich von Bord. Und dann sehen wir weiter.« Er ging zur Tür, öffnete sie und machte eine einladende Handbewegung. »Geh in deine Kabine und ruh dich noch ein paar Stunden aus«, sagte er. »Ich lasse dich wecken, sobald Anchor in Sicht ist. Mittlerweile bereite ich die Ladepapiere und das Zolldokument vor.« Er grinste. »Schließlich wollen wir Gondered keinen Anlaß geben, das Schiff noch einmal zu durchsuchen, oder?«

2. Kapitel

Die Sonne hatte den Großteil ihrer Wanderung hinter sich gebracht und berührte schon fast wieder den Horizont, als die Hafeneinfahrt von Anchor vor ihnen auftauchte. Skar stand am Bug des Schiffes; seit Stunden. Er hatte versucht, noch einmal mit Andred zu reden, aber der Freisegler war zu beschäftigt gewesen. Und wahrscheinlich hatte er auch nicht mit Skar sprechen wollen; eine Reaktion, die dieser durchaus verstand und respektierte, nach allem, was geschehen war. Wenn auch nur die Hälfte seiner Befürchtungen zutraf, dann würde Andred in Anchor mehr als nur Ärger bekommen, wie er es ausgedrückt hatte.

Das Schiff rollte arhythmisch von einer Seite auf die andere. Der Takt der Ruder war langsamer geworden; die Männer auf den harten Ruderbänken tief im Leib der SHANTAR mußten bis zum Umfallen erschöpft sein. Und seit sie Kurs vom offenen Meerweg und fast im rechten Winkel zur Küste hin eingeschlagen hatten, hatten die wechselnden Strömungen, von denen Andred sprach, das Schiff ergriffen und wie einen Spielball hin und her geworfen.

Skars Blick glitt über die schäumenden Wellen, die die Meeresoberfläche rechts und links des Freiseglers bedeckten. Andred hatte keineswegs übertrieben – hätte er es wirklich gewagt, sich mit einem Boot oder gar schwimmend der Küste zu nähern, dann wäre er wie ein Stück Treibholz zerschmettert worden. Selbst die SHANTAR hatte Mühe, sich dem Sog der heimtückischen Strömungen und Strudel entgegenzustemmen. Ein kleineres Boot wäre in diesem Hexenkessel rettungslos verloren gewesen.

Eine neue Woge traf die SHANTAR und brach sich brüllend an den Achteraufbauten. Der Gischt schoß schäumend über Deck und fast bis zur Spitze des Focksegels hinauf, und der Stoß, der den Rumpf des Schiffes erbeben ließ, war so heftig, daß Skar sich unwillkürlich fester an die Reling klammerte. Ein Schauer eisigen Sprühregens durchnäßte seinen Umhang.

»Du solltest ein wenig vorsichtiger sein, Skar«, sagte eine Stimme hinter ihm, »sonst mußt du den Rest der Strecke am Ende doch noch schwimmen.«

Skar wandte den Kopf, wischte sich mit einer unbewußten Geste das Salzwasser aus dem Gesicht und schenkte Andred den finstersten Blick, zu dem er fähig war. Der Freisegler grinste. »Im Ernst, Skar«, fuhr er fort. »Es wird Zeit, daß du unter Deck gehst. Der Hafen wird in wenigen Minuten in Sichtweite sein. Und wir in seiner. Es gibt scharfe Augen in Anchor.«

Skar sah instinktiv nach vorn. In Fahrtrichtung, weniger als eine Meile entfernt und die halbe Strecke backbord, erhob sich ein gewaltiger schwarzer Granitpfeiler aus dem Meer. Dahinter lag die Hafeneinfahrt: ein schmaler, zwei Meilen langer Kanal, der den eigentlichen Hafen vor dem Toben des Meeres schützte und Anchor zu einem der wenigen Orte an der Westküste des gewaltigen Kontinents werden ließ, wo ein Schiff überhaupt anlegen konnte. Trotzdem erforderte die Einfahrt großes seemännisches Geschick. Nur einer von zehn Kapitänen wagte es überhaupt, Anchor anzulaufen; und nicht allen gelang es.

Skar nickte knapp, drehte sich um und ging – eine Hand an der Reling, um nicht von einer neuerlichen Welle von den Füßen gerissen zu werden – nach achtern. Andred folgte ihm. Er trug wieder sein schwarzes Regencape, war aber trotzdem durchnäßt bis auf die Haut.

»Was wirst du tun?«

Andred zuckte mit den Achseln. »Das Einfachste«, sagte er. »Wir werden ganz normal einlaufen und mit den Entladearbeiten beginnen. Wenn es dir nichts ausmacht, ein Bündel zu schleppen wie ein gemeiner Matrose, dann bist du von Bord, bevor Gondered auch nur merkt, daß das Schiff angelegt hat. Ich habe Freunde bei der Hafenverwaltung«, fügte er hinzu, als er Skars zweifelnden Blick bemerkte.

Sie hatten den Achteraufbau erreicht, und Andred öffnete die Tür, aber Skar zögerte noch hindurchzutreten. Sein Blick glitt noch einmal nach vorn und bohrte sich in den gischtenden Nebel aus Schaum und Dunst, der das Schiff einhüllte. Alles schien ruhig und normal, aber Skar wußte einfach, daß dieser Eindruck täuschte. Er gab normalerweise nicht viel auf Ahnungen, aber dies war mehr. Es war ein Wissen, das irgendwo in ihm war, das er aber nicht greifen konnte. Er war fünfmal schneller hierhergekommen, als er es eigentlich gekonnt hätte, und er hatte alles getan, seine wahre Identität zu verschleiern. Er war sogar soweit gegangen, sich einen falschen Namen zuzulegen und seinen Stand als Satai zu verleugnen – etwas, das bei dem Skar, der er noch vor wenigen Monaten gewesen war, absolut undenkbar gewesen wäre. Aber Vela wäre nicht Vela gewesen, wenn sie nicht auch dies einkalkuliert hätte.

»Was hast du?« fragte Andred.

Skar fuhr zusammen, sah den Freisegler erschrocken an und schüttelte dann hastig den Kopf. »Nichts«, sagte er. »Es ist nichts. Ich fange schon an, Gespenster zu sehen.« Hastig stieß er die Tür vollends auf, senkte den Kopf und trat in den niedrigen Gang. Andred folgte ihm, blieb jedoch vor der Tür zur Kapitänskajüte stehen und deutete mit einer Kopfbewegung hinter sich.

»Ich muß an Deck bleiben, bis wir angelegt haben«, sagte er. »Du kannst hier warten. Zeig dich nicht, bevor ich dich rufen lasse. Und laß mir bitte noch etwas von meinem Wein übrig – ja?«

Skar wartete, bis Andred sich umgedreht hatte und wieder an Deck verschwunden war, ehe er die Kapitänskajüte betrat. Der Raum war noch so, wie er ihn vor Stunden verlassen hatte, nur auf dem Schreibtisch lag jetzt ein Stapel ordentlich aufgeschichteter Papiere, und der Weinkrug vor dem Stuhl, auf dem er gesessen hatte, war frisch aufgefüllt. Skar lächelte flüchtig, schloß die Tür hinter sich und ging mit schnellen Schritten zu Andreds Seekiste.

Seine Finger zitterten unmerklich, als er das Schloß öffnete und den schweren Deckel hochstemmte. Es war seltsam – während der ersten Tage an Bord war er sich beinahe nackt vorgekommen ohne den Waffengurt und seine Insignien als Satai, jetzt war es fast umgekehrt. Er nahm das schmale, in saubere weiße Tücher eingeschlagene Paket heraus, schloß den Deckel der Kiste und begann es – langsamer, als nötig gewesen wäre – auszuwickeln. Die SHANTAR bebte. Von Deck her drangen die gedämpften Stimmen Andreds und der Besatzung in die Kajüte, und die farbigen Heckfenster waren stumpf und blind geworden, so daß in dem kleinen Raum schon eine flüchtige Ahnung der Nacht hereingebrochen war. Er ging zum Tisch, legte das Bündel darauf und band sich den Gurt um; mit einer raschen, beinahe wütenden Bewegung. Das steife Leder fühlte sich kalt und unangenehm auf der Haut an, und er hatte beinahe vergessen, wie schwer der Gurt war.

Aber es war mehr als das Gewicht des Gurtes, das an ihm zerrte. Das breite Lederband mit den zwölf Schlaufen, in denen die fünfzackigen Shuriken aufbewahrt wurden, und mit dem fünfstrahligen Stern der Satai und der schmucklosen Lederscheide, in der sein Tschekal ruhte, war mehr als ein Waffengurt. Mit diesem und dem Stirnband streifte er sich mehr als bloße Schmuck- oder Ausrüstungsgegenstände über, sondern damit wurde er wieder zu dem, was er gewesen war, ehe er die SHANTAR betrat: zu Skar, dem Satai. Er wußte jetzt plötzlich, woher das absurde Gefühl der Furcht gekommen war: Es war Angst gewesen, Angst, wieder zu Skar zu werden. Er war es nicht gewesen die letzten beiden Wochen. Er war ein Mann gewesen, den es nicht gab, und selbst seine Erinnerungen waren ihm – ohne daß er sich dessen bewußt gewesen wäre – wie die eines Fremden vorgekommen. Aber mit seiner endgültigen Verwandlung von Bert zu Skar kamen auch seine wirklichen Erinnerungen. Sie waren in Farben von Leid und Schmerz gemalt, in den düsteren Farben von Tod, Verzweiflung und dem Racheschwur, den er getan hatte. Fast glaubte er wirklich eine körperliche Veränderung zu spüren – ein Strom von Kraft, finsterer, entschlossener Kraft, der plötzlich durch seine Adern rann, eine knisternde, schwer in Worte zu fassende Spannung, die seinen Körper wieder in das verwandelte, wozu er ihn einst selbst gemacht hatte: eine gnadenlose, unbesiegbare Kampfmaschine, ein Ding, das nur zum Töten und Zerstören geeignet war, zu nichts anderem.

Er schüttelte den Kopf, trat mit einem raschen Schritt ans Luk und öffnete die Verriegelung. Ein heftiger Windstoß traf die Scheibe und riß sie ihm um ein Haar aus der Hand. Er hielt sie fest, stemmte sich gegen den Wind, der sein Gesicht und seine Haare peitschte, und atmete den durchdringenden Salzwassergeruch in tiefen Zügen ein, versuchte, die Gedanken und Erinnerungen dorthin zurückzudrängen, wo sie hergekommen waren. Es ging nicht. Seine Vergangenheit war wieder da, endgültig jetzt, und er begriff, daß er ihr niemals wirklich entronnen war, daß alles, was er bekommen hatte, eine kurze Atempause war, wenige flüchtige Wochen, in denen sich sein Körper und vor allem sein Geist von den Strapazen hatte erholen können. Gondered und sein schwarzes, Kaperschiff waren nur eine erste Warnung gewesen, das erste höhnische Lachen des Schicksals, mit dem es ihm hatte sagen wollen, daß dieses unmenschliche Spiel noch lange nicht vorbei war, sondern vielleicht erst jetzt richtig begann. Und noch während er diesen Gedanken dachte, drängte sich ein zweiter, schlimmerer, mit unausweichlicher Macht in sein Bewußtsein. Mit dem alten Skar war auch sein Fluch zurückgekehrt. Seit seinem Aufbruch aus Ikne hatte er Tod und Vernichtung verbreitet, hatte er eine Spur von Leid und Tränen hinter sich hergezogen. Jeder, mit dem er zusammengewesen war, war zugrunde gegangen, auf die eine oder andere Weise. Und auch Andred würde keine Ausnahme bilden.

Und als er dichter ans Luk herantrat und zu den gewaltigen Basaltklippen hinaufblinzelte, sah er den Schatten. Er war so schwarz wie der Felsen und viel zu weit entfernt, als daß er ihn wirklich hätte sehen können, und er existierte in keinem anderen Ort als in seiner Phantasie, aber er war da.

Als er das Luk schloß und sich umwandte, hörte sich das Geräusch des Windes für einen Moment wie das Heulen eines Wolfes an.

3. Kapitel

Die SHANTAR war das kleinste der fünf Schiffe, die im Hafen von Anchor vor Anker lagen. Skar konnte von seinem Platz hinter den Kajütenfenstern nur einen kleinen Teil der Kaimauer und die Hafeneinfahrt überblicken, aber er hatte sich – gegen Andreds Rat – kurz vor dem Anlegen des Schiffes für wenige Augenblicke an Deck gewagt, um sich einen Eindruck ihrer Umgebung zu verschaffen. Was er gesehen hatte, hatte ihm nicht gefallen. Anchor war nicht nur als Hafen, sondern auch als uneinnehmbare Festung bekannt, aber er hatte feststellen müssen, daß es überdies auch eine Falle war – die beste, die Skar jemals zu Gesicht bekommen hatte. Das Hafenbecken war oval und wurde an drei Seiten von einer fünf Meter hohen, glatten Kaimauer eingefaßt, so daß bei kleineren Schiffen – wie etwa der SHANTAR – nur der oberste Teil der Deckaufbauten auf das eigentliche Hafenniveau hinaufreichte. Hinter der Kaimauer erstreckte sich ein mehr als hundert Schritte breiter, vollkommen deckungsloser Streifen, vordergründig wohl für das Entladen und Stapeln von Waren bestimmt, in Wirklichkeit jedoch eine tödliche Falle für jeden, der etwa auf die Idee kommen sollte, die Stadt von dieser – scheinbar –ungeschützten Seite her angreifen zu wollen. Und dem Blick eines Kriegers blieb auch nicht verborgen, daß zumindest ein Teil der schwarzen, fensterlosen Türen, die sich hinter diesem Areal erhoben, keine Silos, sondern Verteidigungsanlagen waren.

Skar fuhr aus seinen Gedanken hoch, als die Tür geöffnet wurde und Andred die Kajüte betrat. Der Freisegler nickte anerkennend, als er Skars verändertes Aussehen bemerkte, trat dann jedoch mit einem schnellen Schritt an seine Kiste, entnahm ihr einen zerschlissenen Kapuzenmantel und warf ihn Skar zu.

»Zieh das über«, sagte er, »sonst nimmt man dir den Matrosen nicht ab.«

Skar drehte das Kleidungsstück unschlüssig in den Händen, machte jedoch keine Anstalten, Andreds Aufforderung nachzukommen. Der Mantel roch muffig und nach Salzwasser und Tang, und ein Jahrzehnt in Wind und Sturm hatten die Farben ausbleichen lassen. Der Stoff fühlte sich brüchig wie trockenes Laub an.

»Wie sieht es aus?« fragte er.

Andred zuckte die Achseln, sammelte die Papiere von seinem Schreibtisch auf und deutete mit einer Kopfbewegung in Richtung der Stadt. »Ich habe nach dem Hafenmeister schicken lassen«, sagte er, »und die Gelegenheit genutzt, mich unauffällig umzusehen. Es ist alles friedlich. Kein Gondered, keine Errish und keine. Knochenkrieger«, fügte er grinsend hinzu.

Skar blieb ernst. »Der Kapersegler liegt direkt neben der Einfahrt«, sagte er.

Andred nickte. Auch er hatte das schwarze Schiff aus Thbarg sofort wiedererkannt. »Irgendwo muß er liegen«, meinte er gleichmütig. »Und der Platz neben der Einfahrt bietet sich für ein Schiff an, das zum Schutze des Hafens da ist.«

Skar streifte wortlos den Mantel über, überzeugte sich davon, daß sein Waffengurt und das Satai-Schwert unter dem Stoff verborgen waren, und schlug die Kapuze hoch.

»Ein wenig tiefer«, sagte Andred. »Man sieht dein Stirnband.«

Skar nickte dankbar, zog die Kapuze tiefer in die Stirn und sah noch einmal aus dem Luk. über dem Hafen war die Nacht hereingebrochen, und das Wasser wirkte schwarz wie Teer, auf das winzige silberne Halbmonde gemalt waren. Der Geruch von Salzwasser und Schlick war hier beinahe stärker als draußen auf dem Meer, und für einen winzigen Moment glaubte Skar zu fühlen, was Männer wie Andred immer wieder hinaus auf das Meer trieb. Es war etwas, das in diesem Geruch war – eine schwer zu bestimmende Ahnung von Ferne und Freiheit, die stärker wiegen mochte als die Gefahren, die auf dem Meer lauerten.

»Gehen wir an Deck«, sagte Andred. »Die Entladearbeiten beginnen, sobald der Hafenmeister die Papiere abgezeichnet hat. Das Beste wird sein, wenn du als einer der ersten von Bord gehst.« Er schwieg einen Moment und sah an Skar vorbei zum schwarzen Umriß des Kaperseglers hinaus. Offenbar erfüllte ihn die Nähe des Kriegsschiffes doch mit mehr Nervosität, als er zugeben wollte.

»Wenn du in der Stadt bist«, fuhr er fort, während sie hintereinander die Kabine verließen und sich an Deck begaben, »dann frage nach einem Mann namens Herger. Er hat einen kleinen Laden in der Altstadt; eine heruntergekommene Bruchbude, in der sich allerlei Gelichter trifft. Aber er ist vertrauenswürdig, und er steht in meiner Schuld. Wenn du sagst, daß ich dich schicke, dann wird er dir Geld und ein Pferd geben, damit du die Stadt verlassen kannst.«

Skar stieg hinter ihm die Treppe zum Achterdeck hinauf, trat an die Reling und warf einen langen, forschenden Blick zur Stadt hinüber. Hinter den meisten Fenstern war bereits das flackernde Licht von Kerzen und Öllampen zu sehen, und eine Anzahl Männer trieb sich vor einem der Silos herum, ohne einer irgendwie erkennbaren Beschäftigung nachzugehen. Ein zweiter Trupp Männer näherte sich dem Schiff aus der entgegengesetzten Richtung.

»Das sind Männer, die die Hafenbehörde schickt«, erklärte Andred auf Skars fragenden Blick. »Sie werden uns beim Entladen helfen.« Er betonte das Wort auf seltsame Art und lächelte spöttisch. »Schließlich muß alles seine Ordnung haben. Es könnte ja sonst sein, daß ein Fläschchen Öl von Bord geht, ohne daß der Zoll entrichtet wurde.«

»Warum tust du das, Andred?« fragte Skar, ohne auf die Worte des Freiseglers mit mehr als einem Stirnrunzeln zu reagieren.

»Was?«

»Warum hilfst du mir? Gondered wird dich am höchsten Turm der Stadt aufhängen lassen, wenn er davon erfährt.«

Andred schwieg einen Moment und sah an Skar vorbei zur Hafeneinfahrt hinüber. »Vielleicht«, sagte er nach einer Weile, »weil es nicht unbedingt ein Fehler ist, einen Satai zum Freund zu haben.«

»Und einen Thbarg zum Feind?«

Andred verzog abfällig die Lippen. »Ich glaube nicht, daß ich Gondered lieben würde, wenn du nicht an Bord gewesen wärest«, sagte er. »Und wenn das, was du erzählt hast, wahr ist, dann habe ich keine andere Wahl, als mich für die eine oder andere Seite zu entscheiden. Und ich stehe gerne auf der Seite der Sieger, weißt du?«

Skar seufzte. »Ich fürchte, dann hast du einen Fehler gemacht.«

»Du irrst dich, Skar«, widersprach Andred ernst. »Ich kenne Vela nicht und weiß nicht, ob sie wirklich zu alldem fähig ist, was du ihr zuzutrauen scheinst. Aber ich kenne Männer wie Gondered. Sie sind stark und machen sich eine Freude daraus, die Muskeln spielen zu lassen. Aber sie sind keine Gewinner. Männer wie er sind die geborenen Verlierer, Skar. Auch er wird stürzen. Entweder weil Männer wie du ihn zu Fall bringen oder weil Vela ihn wegwerfen wird, sobald er seinen Dienst getan hat.«

»Und wenn du dich irrst?« fragte Skar leise.

Andred zuckte abermals mit den Schultern. »Dann habe ich mir wenigstens für ein paar Stunden einbilden können, meinen Teil zur Errettung der Welt beizutragen«, sagte er mit übertrieben komischer Dramatik in der Stimme.

Skar mußte gegen seinen Willen lachen. Andred schlug ihm freundschaftlich auf die Schultern, drehte sich um und rief ein Kommando zum Deck des Schiffes hinunter. Die SHANTAR hatte sich in den wenigen Stunden, die Skar unter Deck gewesen' war, vollkommen verändert. Die Segel waren aufgerollt und sorgsam verschnürt worden, und die gewaltigen Doppelruder waren im Rumpf des Schiffes verschwunden; die Luken waren mit metallenen Laden verschlossen. Fast die gesamte Mannschaft befand sich an Deck und wartete auf den Beginn der Entladearbeiten; darauf und wohl auch auf den wohlverdienten Landurlaub, der sich daran anschließen würde. Die Ladeluken standen offen, und ein Teil der Fracht war bereits an Deck geschafft worden.

Andred warf einen ärgerlichen Blick zur Stadt hinüber. »Der Hafenmeister läßt sich verdammt viel Zeit«, murmelte er. »Ich glaube, ich habe bisher die falschen Leute geschmiert …«

Skar trat dichter an die Reling heran und sah ebenfalls zur Stadt hinüber. Die Nacht verwandelte ihre Silhouette in einen mächtigen grauen Schatten, vor dem die Bewegungen der Männer auf dem Kai nur schemenhaft zu erkennen waren, aber sie trug auch den Klang ihrer Stimmen und die rauhen Scherzworte, die hin und her geworfen wurden, deutlich bis zu ihnen herüber. Skar fiel plötzlich auf, wie still es trotz allem war. Die Stimmen der Männer wirkten … isoliert, akustische Farbtupfer auf einem ansonsten vollkommen leeren Hintergrund. Der Rumpf der SHANTAR knarrte leise, während sich das Schiff auf den Wellen wiegte, aber weder aus der Stadt noch von einem der vier anderen Schiffe war auch nur das leiseste Geräusch zu hören.

Es ist zu still, dachte Skar erschrocken. Er fuhr herum, starrte alarmiert zur Hafeneinfahrt und dem schwarzen Schatten des Kaperseglers und dann wieder zum Kai hinüber. Die Entlademannschaft hatte die SHANTAR fast erreicht, und auch ihre Gestalten waren nicht mehr als schwarze Umrisse. Aber es waren ausnahmslos die Umrisse großer, sehr großer und muskulöser Männer, Männer, die für die schwere Arbeit in einem Hafen geeignet waren – oder für das Kriegshandwerk!

»Ich Narr!« keuchte Skar. »Ich verdammter Narr! Ich muß blind gewesen sein!«

Andred sah alarmiert auf. »Was ist?« fragte er.

»Was los ist?« Skar hatte Mühe, seine Stimme wenigstens so weit im Zaum zu halten, daß er nicht schrie. »Das ist eine Falle, Andred! Ein verdammter Hinterhalt!«

Andred sah ihn irritiert an, blickte dann ebenfalls zum Kai hinüber und schüttelte den Kopf. »Du irrst dich, Skar«, murmelte er. »Es ist alles normal. Obwohl …« Er stockte, starrte einen Herzschlag lang zur Wasseroberfläche hinab und sog lautstark die Luft durch die Nase ein. »Dieser Geruch …«, murmelte er. »Was ist das? Und sieh dir das Wasser an. Keine Wellen …«

Skar sah erschrocken am Rumpf des Schiffes hinab. Andred hatte recht – das Wasser rings um die SHANTAR war glatt wie ein Spiegel, und als er genauer hinsah, glaubte er einen leichten öligen Schimmer auf seiner Oberfläche zu erkennen.

»Ihr Götter!« keuchte Andred. »Dieser Hund! Wir …« Er brach ab, fuhr herum und war mit einem Satz bei der Treppe. »Verlaßt das Schiff!« brüllte er. »Geht an Land! Schnell!«

Aber die Matrosen kamen nicht mehr dazu, seinem Befehl zu folgen. Alles ging plötzlich unglaublich schnell. Die Hafenmannschaft hatte die Kaimauer erreicht und in einer langen, weit auseinandergezogenen Linie auf ihrer Krone Aufstellung genommen. Irgendwo klirrte Metall, ein verirrter Lichtstrahl brach sich auf dem Heft eines Schwertes, Mäntel und Kapuzen wurden zurückgeschlagen, und vor Skars erschrocken aufgerissenen Augen verwandelten sich die zwei Dutzend Hafenarbeiter in eine Abteilung gepanzerter Thbarg-Krieger.

Skar erkannte den breitschultrigen Hünen an ihrer Spitze sofort. Dessen Goldhelm funkelte wie ein kleines, boshaftes Auge und der Blick seiner Augen schien sich in den Skars zu bohren. Er hatte Skar trotz seiner Verkleidung sofort erkannt, so, wie er ihn auch schon beim ersten Mal erkannt hatte.

Skars Hand zuckte zum Schwert, obwohl er wußte, wie sinnlos. diese Geste sein mußte. »Gondered!« keuchte er.

Der Thbarg lachte, ein hohes, häßliches Geräusch, das weit über das stille Hafenbecken zu hören war. In seiner Hand glühte plötzlich ein winziger greller Funke auf. »Fahr zur Hölle, Satai!« schrie er. Der Funke löste sich aus seiner Hand, beschrieb einen perfekten Halbkreis und fiel dicht neben dem Rumpf des Schiffes ins Wasser. Skar schrie geblendet auf. Das Hafenbecken rings um die SHANTAR schien zu explodieren. Eine weiße, lodernde Feuerwand hüllte das Schiff von einer Sekunde auf die andere ein, schlug mit unsichtbaren glühenden Krallen nach seiner Besatzung, setzte Kleider, Takelage und Holz in Brand und wälzte sich als brüllender Feuerpilz nach oben. Für einen endlosen grauenhaften Moment schien sich der Hafen von Anchor in das Herz eines feurigen Vulkans zu verwandeln, wurde Wasser zu Glut und Atemluft zu flüssigem Feuer, das die Kehlen der Männer verbrannte. Skar taumelte zurück, schlug wütend den Arm vor die Augen, riß Andred in einer instinktiven Bewegung zu Boden. Das Schiff hob sich wie unter einem gewaltigen Schlag, legte sich auf die Seite und fing mit einem ungeheuren schmetternden Krachen Feuer. Eine brennende Gestalt taumelte an Skar vorüber, wankte blindlings auf die Feuerwand zu und brach plötzlich in die Knie. Andred schrie etwas, das Skar nicht verstand, begann wie von Sinnen um sich zu schlagen und traf Skar schmerzhaft an der Schläfe.

Der Hieb riß Skar abrupt in die Wirklichkeit zurück. Für einen winzigen Moment sah er alles mit phantastischer Klarheit – das brennende Holz zu seinen Füßen, die schreienden Männer, die Segel, die sich in lodernden Fetzen von den Rahen lösten, die wabernde Feuerwand, die das Schiff von allen Seiten umschloß. Er dachte nicht mehr. Ein anderer Teil seines Bewußtseins, der Teil, der nur aus Instinkten und Reflexen bestand, jahrzehntelang mit unendlicher Geduld trainiert und herangezüchtet, löschte für einen Moment sein bewußtes Denken aus. Er sprang auf, riß Andred wie eine Puppe mit sich und flankte mit einem einzigen Satz über die Reling. Feuer hüllte sie ein, setzte seine Kleider und sein Haar in Brand und riß seinen Schmerzensschrei davon. Er fiel, hielt Andred wie ein lebloses Bündel fest und schrie, schrie, schrie. Sein Körper war ein einziger Schmerz, ein wimmerndes Bündel aus Pein und Angst, und der Sturz schien kein Ende zu nehmen. Irgendwo unter ihnen mußte Wasser sein, aber er stürzte immer weiter durch Flammen, tauchte in ein Meer von Hitze und tödlicher Glut und schrie seinen letzten Atem hinaus.

Als er ins Wasser tauchte, verlor er fast das Bewußtsein. Die eisige Kälte wirkte wie ein Schock und war für einen Moment fast noch schmerzhafter als das Feuer. Er krümmte sich zusammen, tauchte instinktiv noch tiefer und riß Andred mit sich. Ein Wirbel packte ihn, schmetterte ihn mit erbarmungloser Kraft gegen den Rumpf des Schiffes und trieb das letzte bißchen Luft aus seinen Lungen. Er schrie – oder wollte schreien –, schluckte Wasser und stieß sich mit einer verzweifelten Bewegung von der SHANTAR ab. Seine Lungen brannten, und die Hitze des brennenden Öls war selbst hier, einen Meter unter der Wasseroberfläche, noch deutlich zu spüren. Über ihnen loderte ein Himmel aus Feuer, ein gewaltiger, wabernder Kreis, dessen Grenzen irgendwo in unendlicher Entfernung zu sein schienen. Blind und ohne zu wissen, was er wirklich tat, schwamm Skar los, tauchte mit verzweifelter Kraft auf den Rand des brennenden Ölfleckes zu und versuchte die Schmerzen in seiner Brust zu ignorieren. Sein Herz hämmerte; schnell, unregelmäßig und mit wütender, peinigender Kraft. Er spürte kaum noch, wie Andred in seinen Händen erschlaffte und große silberne Luftblasen aus seinem geöffneten Mund perlten. Ein stählerner Ring lag um seine Brust und zog sich unbarmherzig zusammen. Er krümmte sich, stieß sich noch einmal und mit einer Kraft, von der er selbst nicht wußte, woher er sie nahm, ab und brach, kaum eine Handbreit hinter der lodernden Flammenwand, durch die Wasseroberfläche. Die Luft war selbst hier unerträglich heiß, aber er sog sie mit tiefen, gierigen Zügen in die Lungen, hustete, erbrach qualvoll Wasser und hielt Andreds Kopf mit letzter Kraft über den Wellen. Die flimmernden Kreise vor seinen Augen begannen langsam zu verblassen, und die Schmerzen in seiner Brust waren jetzt nur noch qualvoll, nicht mehr unerträglich..

Die Hitze trieb ihn weiter. Er legte sich auf den Rücken, bettete Andreds reglosen Körper auf seine Brust und schwamm mit langsamen, kräftesparenden Stößen von dem lodernden Scheiterhaufen fort, in den sich die SHANTAR verwandelt hatte. Das Schiff war nur noch als dunkler Schatten durch die Feuerwand zu erkennen, und die Glut des brennenden Öls war so hell, daß die Kaimauer und die Stadt hinter ihr nur noch als vage Umrisse sichtbar waren. Aber vielleicht würde das Licht die Thbarg dort oben genauso blenden wie ihn.

Für einen Moment kroch so etwas wie Zorn in Skar empor, aber das Gefühl verging, noch bevor er es wirklich spürte. Sein Vorrat an Zorn war aufgebraucht, schon lange. Er fühlte, wie die Kraft langsam in seine verspannten Muskeln zurückkehrte, und schwamm schneller.

4. Kapitel

Die SHANTAR brannte immer noch, als Skar eine halbe Stunde später – nahezu am entgegengesetzten Ende des Hafenbeckens – an Land kroch. Das Schiff war gesunken, aber der ungewöhnlich große Tiefgang des Rumpfes und die geringe Tiefe des Hafenbeckens verhinderten, daß es vollends unter der Wasseroberfläche verschwand, und die Aufbauten und Masten brannten noch immer lichterloh. Von hier aus, aus einer Entfernung von einer dreiviertel Meile betrachtet, wirkte der Anblick beinahe harmlos: ein brennendes Spielzeugschiffchen, das auf einem Teich trieb.

Es gab an dieser Stelle keine Kaimauer. Die gewaltige schwarze Wand, die neben ihm aus dem Wasser stieg, war Teil des natürlich gewachsenen Felsens, der den Hafen zum Meer hin abschirmte, und während Skar weiter darauf zuschwamm, stieß er immer wieder schmerzhaft gegen Riffe und Korallenblöcke, die sich unter der Wasseroberfläche verbargen. Es verließen ihn beinahe die Kräfte, als er zwischen den glitschigen Felsen auf den schmalen Uferstreifen hinaufkroch. Andred war noch immer ohne Bewußtsein, vielleicht schon lange tot, aber Skar zog ihn trotzdem mit sich und bettete ihn so behutsam wie möglich auf den harten Untergrund. Dann, schlagartig und ohne Vorwarnung, kam der Zusammenbruch. Skar wurde es schwarz vor den Augen. Er fiel auf Hände und Knie hinab, blieb sekundenlang mit geschlossenen Augen hocken und versuchte die Übelkeit und das Schwindelgefühl niederzukämpfen. Sein Gesicht und seine Hände waren übersät mit Brandblasen und Wunden, und das Salzwasser schmerzte höllisch.

Andred regte sich stöhnend. Seine Augenlider flatterten, aber sein Blick blieb verschleiert. Seine Hände zuckten; die Fingernägel fuhren mit einem hörbaren kratzenden Geräusch über den feuchten Stein. Skar kroch hastig zu ihm hinüber, griff unter seine Schultern und drehte ihn herum. Andred würgte, rang mühsam nach Luft und erbrach sich mehrmals hintereinander: Salzwasser und bittere grüne Galle.

Er keuchte, wollte etwas sagen und hob den Blick, aber Skar schüttelte nur den Kopf und drückte ihn mit sanfter Gewalt zurück.

»Nicht«, sagte er leise., »Wir sind in Sicherheit. Keine Angst.«

»In Sicherheit …«, wiederholte Andred bitter. »Was ist … mit dem Schiff?« Er hustete, schluckte ein paarmal krampfhaft und richtete sich auf die Ellbogen auf. Skar wollte ihn abermals zurückhalten, aber der Freisegler schob seine Hand mit erstaunlicher Kraft beiseite und starrte an ihm vorbei zu dem brennenden Wrack der SHANTAR. Das Feuer warf zuckende Lichtreflexe auf das bewegte Wasser des Hafens. Es sah aus, als kröchen die Flammen wie kleine flackernde Tiere durch die Wellentäler auf sie zu.

»Sie sind tot«, murmelte Andred. Seine Lippen bewegten sich kaum beim Sprechen, und in seinen weit aufgerissenen Augen stand ein Ausdruck, der Skar erbeben ließ.

»Ich … fürchte«, sagte er stockend. »Gondereds Männer werden dafür gesorgt haben, daß keiner mehr von Bord kam. Außer uns.«

»Außer uns …«, wiederholte Andred. Seine Stimme klang flach, tonlos, kaum wie die eines Menschen, und wahrscheinlich plapperte er die Worte nur nach, ohne ihren wirklichen Sinn zu begreifen. »Warum hat er das getan, Skar?«

Skars Blick verdüsterte sich. »Wegen mir«, murmelte er. »Ich glaube, er hat mich schon draußen auf dem Meer erkannt. Aber er war sich nicht vollkommen sicher.« Er lachte, leise und vollkommen ohne Humor, hob die Hand zum Gesicht und fuhr mit den Fingerspitzen an der langen, gezackten Narbe entlang, die von seinem Augenwinkel bis hinunter zum Kinn und zum Mund reichte. »So etwas ist nicht gerade von Vorteil, wenn man versucht, sich eine andere Identität zuzulegen.«

»Aber warum …« Wieder stockte der Freisegler. Seine Mundwinkel zuckten. »Er hat das Schiff vernichtet und die Männer … es … er hat sechsundvierzig Männer verbrannt.«

Skar nickte. »Er wollte wohl sichergehen«, sagte er kalt. »Vielleicht hat er uns draußen auf dem Meer nur ungeschoren gelassen, weil er sich erst neue Instruktionen holen mußte. Vielleicht hatte er auch Angst.«

»Angst? Vor der SHANTAR?«

Skar zuckte mit den Achseln. »Wohl eher vor mir«, sagte er nach kurzem überlegen. »Es ist nicht unbedingt von Vorteil, stark zu sein, Andred«, fuhr er leiser und verbittert fort. »Wenn du zu stark bist, dann beginnen dich die anderen zu fürchten. Und dann passiert so etwas.«

»Aber sechsundvierzig Menschenleben!«

»Er wollte mich mit dem ersten Schlag erledigen«, sagte Skar. »Und da war es wohl das Einfachste, das Schiff mitsamt seiner Besatzung zu verbrennen. Aber vielleicht bereitet es ihm auch einfach nur Freude zu töten.« Und vielleicht ist es einfach meine Bestimmung, jedem, mit dem ich zusammen bin, den Tod zu bringen, fügte er in Gedanken hinzu.

Aber das sprach er nicht laut aus.

Statt dessen stand er auf, warf den durchnäßten Umhang ab und deutete mit einer Kopfbewegung auf die Stadt. »Wir können nicht hierbleiben«, sagte er. »Sie werden bald anfangen, den Hafen nach den Leichen deiner Männer abzusuchen. Fühlst du dich kräftig genug zu gehen?«

Andred nickte. Er stand auf, strauchelte und hielt sich im letzten Moment an einem Felsen fest, schüttelte aber den Kopf, als Skar ihm die Hand entgegenstreckte.

»Weißt du einen Weg, auf dem wir ungesehen in die Stadt hineinkommen?« fragte Skar.

Andred sah lange und schweigend zur Stadt hinüber. Sein Gesicht war ausdruckslos, starr; eine Maske, auf der nicht einmal mehr Schrecken oder Schmerz zu lesen waren. Die Glut des brennenden Schiffes warf zuckende Lichtfinger über den Hafen, verwandelte Gondereds Männer in kleine, finstere Schatten, die sich mit abgehackten, flinken Bewegungen vor dem Hintergrund der Stadt abzeichneten, und erfüllte seine Augen mit blutrotem Widerschein. »Wir … könnten versuchen, die Klippen zu ersteigen und die Stadt von der anderen Seite zu betreten«, sagte er tonlos. »Die Wand ist nicht so unbezwingbar, wie es den Anschein hat.«

Skar legte den Kopf in den Nacken und blinzelte zur Krone der steinernen Barriere empor. Jetzt, im schwachen Sternenlicht der Nacht, war sie wenig mehr als ein senkrechter, konturloser Schatten. Er schätzte ihre Höhe auf hundertfünfzig, allerhöchstens zweihundert Fuß – kein unüberwindliches Risiko für einen entschlossenen Mann. Aber er verwarf diesen Gedanken fast sofort wieder. Das Risiko, vom Hafen aus gesehen zu werden, war zu groß. Und er wäre nicht einmal überrascht gewesen, wenn Gondered auch dort oben ein paar von seinen Männern postiert hätte. Zumindest hätte er das getan, wäre er an der Stelle des Thbarg gewesen.

Er schüttelte den Kopf und wandte sich wieder an Andred. »Nein«, sagte er. »Zu gefährlich. Wenn wir entdeckt werden, dann bieten wir zwei prachtvolle Zielscheiben. Wir werden versuchen müssen, so in die Stadt zu gelangen. Was ist mit diesem Herger, von dem du gesprochen hast – glaubst du, daß er uns auch jetzt noch helfen wird?«

Andred nickte, aber Skar bezweifelte beinahe, daß er seine Worte überhaupt gehört hatte. Er sah erst jetzt, daß der Freisegler weit schwerer verletzt war als er – sein linker Arm hing schlaff herunter, und die Hand begann sich allmählich dunkel zu färben, und aus seinem Haaransatz rieselte ein dünner, aber beständiger Blutstrom über seine Schläfe. Besorgt trat er auf ihn zu, um sich um seine Verletzungen zu kümmern, aber Andred winkte erneut ab. »Nicht«, sagte er leise. »Laß mich.«

Skar senkte schuldbewußt den Blick. Natürlich machte Andred ihn – wenn auch unbewußt – für alles verantwortlich, was geschehen war, und daß er den Gedanken nicht laut aussprach, nicht ein einziges Wort von Schmerz oder Vorwurf von sich gab, machte es eher noch schlimmer. Ohne Skar würden seine Männer noch leben und sein Schiff kein brennender Trümmerhaufen sein. Skar war nur ein Bettler gewesen, als sie sich in Endor getroffen hatten, und er, Andred, ein stolzer, nicht gerade reicher, aber doch zumindest wohlhabender Freiseglerkapitän, und ein Augenblick, ein winziger Moment der Großherzigkeit hatte ihn alles gekostet. Er hatte nicht nur sein Schiff verloren. Von einem Moment zum anderen war er zu einem Gejagten wie Skar geworden, und Skar wußte plötzlich – so grundlos und so sicher, wie er zuvor gewußt hatte, daß die SHANTAR in ihr Verderben segelte, daß Andred sterben würde.

Er drängte den Gedanken zurück, wandte sich ab und drehte sich unschlüssig um seine Achse. Das Felsband, auf das sie sich gerettet hatten, war wenig mehr als zwei Manneslängen breit, aber die zerschründeten Grate und Steine boten ihnen genug Deckung, selbst wenn sie bis zum Anbruch des Tages hierbleiben mußten. Schließlich konnte Gondered den Hafen nicht ewig abriegeln lassen. Aber Skar verwarf auch diesen Gedanken. Sie hatten nicht so viel Zeit. Sie brauchten Wasser und trockene Kleider, wenn sie nicht erfrieren wollten, und Andreds Wunden mußten versorgt werden. »Ich fürchte, wir müssen es riskieren«, murmelte er. »Bleib immer dicht hinter mir. Und keinen Laut.«

Er wandte sich um, überzeugte sich mit einem raschen Blick davon, daß Andred ihm folgte, und begann sich vorsichtig einen Weg zwischen den feuchtglänzenden Felsen hindurch zu suchen. Der Boden war glitschig und fiel zum Wasser hin leicht ab, so daß Skar vorsichtig auftreten und sich wie ein alter Mann von Stein zu Stein tasten mußte, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Jetzt, als die Anspannung allmählich nachließ, spürte er, wie kalt es war. Der Winter hatte zwar seinen Höhepunkt überschritten, schon als Skar in Endor gewesen und auf ein Schiff gewartet hatte, aber die Temperaturen lagen trotzdem nur knapp über dem Gefrierpunkt, und vom Wasser schien Kälte wie unsichtbarer Nebel aufzusteigen und Skars durchnäßte Kleider in einen Panzer aus Eis zu verwandeln.

Das steinerne Sims zog sich halbkreisförmig am Fuß der Klippe entlang, hier und da etwas höher oder niedriger, so daß sie manchmal durch knöchel- oder auch knietiefes Wasser waten mußten. Er führte aber insgesamt ohne Unterbrechung bis zu der Stelle, an der die natürliche von der von Menschenhand geschaffenen Mauer des Kais abgelöst wurde. Skar gebot Andred mit einer Handbewegung zurückzubleiben, als sie sich der Hafenanlage näherten. Ein gewaltiger plumper Lastensegler aus Kohon schaukelte dicht vor ihnen auf den Wellen und schützte sie vor direkter Entdeckung; der Rumpf rieb sich knarrend an der Kaimauer, und von Zeit zu Zeit schlugen die schlaff herabhängenden Segel mit flappendem Geräusch gegen die Masten. Ein leiser Geruch wie nach verfaultem Fisch und moderndem Tauwerk wehte vom Deck des Seglers herüber, und weiter zur Stadt hin konnte Skar undeutliches Stimmengemurmel hören.

Sein Blick tastete aufmerksam über den Kai. Dieser war so flach und deckungslos wie dort, wo die SHANTAR angelegt hatte, aber der Segler warf einen mächtigen dreieckigen Schatten auf das Kopfsteinpflaster – und von seinem Rand aus waren es vielleicht noch zehn Schritte bis zur Mauer des ersten Lagerschuppens.

Zehn Schritte zuviel, dachte Skar düster. Gondered war kein solcher Narr, daß er nicht die einfachsten Sicherheitsvorkehrungen treffen und jeden Quadratfuß Boden zwischen der Kaimauer und der Stadt unter Beobachtung stellen würde.

Skar huschte zu Andred zurück, duckte sich neben ihn in den Schatten eines Felsens und blies in die Hände. Die Kälte ließ seine Fingerspitzen taub werden und kroch langsam in seine Muskeln. Nein – sie konnten nicht warten, bis die Sonne aufging und Gondered die Sperre aufhob. Der Gedanke kam Skar im Moment beinahe lächerlich banal vor – aber auch eine Lungenentzündung konnte tödlich sein. Alle Männer, die an Banalitäten gestorben waren, zusammengenommen, ergäben wahrscheinlich eine Kette dreimal von hier nach Ikne und zurück.

»Hör zu«, sagte er. »Ich werde versuchen, einen Weg in die Stadt für uns zu finden; irgendwie. Du wartest hier und rührst dich nicht von der Stelle, ganz gleich, was geschieht – und zwar genau eine Stunde lang. Wenn ich dann nicht zurück bin, oder wenn du siehst, daß ich gefangengenommen oder getötet werde, dann versuche auf eigene Faust in die Stadt zu kommen. Wenn wir getrennt werden, dann treffen wir uns bei deinem Freund Herger. Hast du das verstanden?«

Andred nickte, aber sein Blick schien direkt durch Skar hindurch ins Leere zu gehen. Skar wollte noch etwas sagen, beließ es aber dann bei einem leichten Achselzucken und huschte zurück zur Kaimauer. Andred war nicht der erste Mann, den er in diesem Zustand sah: Der Schock und die Verletzungen waren zuviel gewesen, hatten seinen Geist aus der Bahn geworfen und ihn in einen Zustand versetzt, der noch nicht Trance, aber auch nicht wirkliches Wachsein war. Skar hatte so etwas oft beobachtet, und er wußte, daß Andred stark genug war, sich zu fangen, wenn er nur genügend Zeit und ausreichende Pflege bekam. Wenigstens konnte er Skar und sich selbst so nicht in Gefahr bringen.

Skar blieb am Rand des Kais stehen, richtete sich – noch immer in Deckung der letzten Felsen – auf und sah konzentriert zur Stadt hinüber. Die Schiffe waren nicht mehr als wuchtige Schatten, halbwegs mit der Nacht verschmolzen; vielleicht harmlos, vielleicht aber auch voller neugieriger Augen, die nur darauf warteten, daß er sich zeigte. Die SHANTAR brannte noch immer, aber die Flammen hatten bereits den Großteil ihrer Nahrung aufgezehrt und loderten nicht mehr halb so hoch wie noch vor Minuten, und das Wrack begann jetzt Stück für Stück auseinanderzubrechen. Skar sah, wie sich der Hauptmast zur Seite neigte, wie er zitterte, drei, vier Atemzüge lang reglos und in beinahe unmöglicher Schräglage verharrte und seinen Weg dann fortsetzte, auf die gemauerte Kante des Kais krachte, entzweibrach und brennende Trümmer und Funken verstreute. Ein paar der winzigen Gestalten sprangen hastig zur Seite, Stimmen klangen auf und gingen im Bersten des zerbrechenden Holzes unter, und für einen winzigen Moment loderten die Flammen noch einmal mit greller Glut auf; ein letzter, feuriger Todesschrei des sterbenden Schiffes.

Skar spurtete los.

Bis zum Schatten des Lastenseglers waren es nicht mehr als fünfzig Schritte; drei, vielleicht vier Sekunden, aber er war am Ende seiner Kräfte, als er ihn erreichte. Er fiel auf die Knie, kroch auf Händen und Füßen weiter und blieb, schwer atmend und mit hämmerndem Herzen, im Zentrum des großen, rechteckigen Bereiches vollkommener Schwärze hocken. Sein Blick glitt zur Stadt hinüber, saugte sich an dem halben Hundert winziger schwarzer Gestalten fest und suchte angstvoll nach einer Reaktion, nach aufgeregten Gesten und dem Blitzen von Waffen.

Nichts. Natürlich nicht, du Narr, dachte er zornig. Er hatte den Augenblick mit Bedacht gewählt und wußte, daß – wer immer den Auftrag gehabt hatte, den Hafen zu beobachten – ganz bestimmt für einen Moment weggesehen haben würde, als der Mast fiel. Aber die Unruhe wich nicht, im Gegenteil, sie wurde schlimmer. Vorhin, aus der Deckung der Felsen heraus betrachtet, war ihm der Schatten des Seglers absolut schwarz und lichtlos erschienen, aber mit jeder Sekunde, die er länger hier hockte, gewöhnten sich seine Augen an die Dunkelheit, nahm er mehr von seiner Umgebung wahr, sah er Schattierungen und Einzelheiten und tausend Nuancen von Schwarz und Grau, und eine lautlose, böse Stimme hinter seinen Gedanken begann ihm zuzuflüstern, daß es seinen Gegnern ebenso ergehen mußte, daß sie Zeit genug gehabt hatten, sich an die schlechten Lichtverhältnisse zu gewöhnen, daß sie ihn sehen mußten, so deutlich, als säße er im Zentrum einer gewaltigen Zielscheibe.

Natürlich war das Unsinn. Er war sicher, und der schwarze Umhang gab ihm zusätzliche Deckung. Aber die Stimme in seinem Inneren und seine Furcht scherten sich nicht viel um die Logik, mit der er sie bekämpfen wollte, und seine Unruhe stieg weiter.

Er stand auf, drehte sich einmal um seine Achse und ging langsam auf den Rand des Schattens zu. Der Lastensegler bewegte sich, nur leicht, aber immerhin so viel, daß die zerfaserte schwarze Linie, die das Nebelgrau der Nacht begrenzte, langsam vor und zurück wanderte, und das Knarren, mit dem sich der Rumpf an der steinernen Mauer rieb, erschien ihm für einen Moment wie ein schweres, mühsames Atemholen.

Skar blieb stehen, schloß für einen Moment die Augen und ballte die Fäuste so heftig, daß seine Fingerknöchel knackten. Was geschah mit ihm? Er hatte Angst – diese Art von Angst – niemals gekannt. Er war Satai. Ein Kämpfer. Ein Mann, der zum Kämpfen und Überleben geschaffen war, der gelernt hatte, seine Gefühle nach Bedarf ein- und auszuschalten. Und jetzt kämpfte er. Aber die Ruhe, das scharfe, von keinen Emotionen beeinträchtigte Denken des Jägers, seine beste und machtvollste Waffe, waren verschwunden. Er hatte Angst. Nicht die Art von Angst, die zum Überleben ebenso notwendig war wie ein gutes Auge und sichere Reaktionen, sondern blanke, nackte Furcht, die Angst des gehetzten Tieres, Angst, die blind und unvorsichtig machte und zu Fehlern verleitete.

Was geht mit mir vor? dachte er erschrocken. Er begann sich zu verändern, rasch, schmerzhaft und unaufhaltsam. Die Worte, die er Andred gegenüber gebraucht hatte, fielen ihm wieder ein, und ein eisiger Schrecken zuckte durch seine Brust, als er begriff, wie wahr sie gewesen waren. Ich bin kein Satai mehr, hatte er gesagt. Und es war wahr. Er hatte seine Kleider, seine Waffen und seine Erinnerungen wieder an sich genommen, aber etwas, irgend etwas, war zurückgeblieben, auf dem brennenden Schiff, in Endor oder vielleicht schon in der verfallenen Festung am Rande des Schattengebirges. Nicht seine Stärke. Nicht seine Reaktionen und all die unzähligen fairen und schmutzigen Tricks, die er gelernt hatte. Dies alles war noch da, irgendwo in ihm, abrufbereit, und er wußte, daß er es haben würde, wenn er es brauchte. Nur dieses Wort, dieses kleine, harmlose Wort Satai, von dem jeder, der nicht selbst zur Kaste gehörte, glaubte, daß es nicht mehr als Krieger bedeutete und das doch in Wirklichkeit Religion, Lebensanschauung, Philosophie und noch viel, viel mehr war, dieses Wort war nicht mehr da.

Es ging schnell, so furchtbar, grausam schnell. Ein Lidzucken, die Zeit, die ein Pfeil benötigt, um von der Sehne zu schnellen und sein Ziel zu treffen. Und plötzlich war er kein Satai mehr, sondern nur noch das, was Gowenna von Anfang an in ihm gesehen hatte – ein gedungener Killer, ein Mann, der das Töten zum Beruf gemacht hatte. Der …

Skar stöhnte. Seine Gedanken begannen einen wilden Tanz aufzuführen, ihm zu entgleiten, sich zu verwirren. Er kämpfte dagegen an, drängte sie zurück und grub die Fingernägel in seine Handflächen, um den Schmerz als Waffe dagegenzusetzen.

Aber es wurde nicht besser. Seine Gedanken klärten sich, aber die Furcht blieb, bohrend, nagend, ein gestaltloser, schwarzer Schrecken, der ihn von jetzt an auf Schritt und Tritt begleiten würde. Skar war beinahe froh, als sich das Geräusch von Schritten in das Klatschen der Wellen mischte und die Nacht zwei Gestalten ausspie.

Es waren Thbarg; zwei von Gondereds Kriegern – schlank, hochgewachsen und in knöchellange blaue Mäntel gehüllt. Sie redeten miteinander, leise und in einer Sprache, die Skar nicht verstand, blieben einen Moment stehen und kamen dann näher, langsam und mit den unentschlossenen Bewegungen von Männern, die kein bestimmtes Ziel hatten. Skar wich einen halben Schritt zurück, schob die Hand unter den Mantel und zog zwei der winzigen Shuriken aus dem Gürtel. Das Metall fühlte sich eisig an. Ein wenig von der Kälte des Hafenwassers war noch in ihm, und seine rasiermesserscharfen Kanten hinterließen dünne, blutige Linien auf Skars Fingern. Er wich noch ein Stück zurück, hob die Arme – langsam, um sich nicht durch eine unbedachte Bewegung oder das Rascheln von Stoff zu verraten – und drehte die fünfzackigen Metallsterne, bis sie die richtige Position hatten: ein wenig schräg und nach vorn geneigt, zwischen Daumen, Zeigefinger und dem ersten Gelenk des Mittelfingers ruhend. Jede Bewegung, jede winzige Geste kam ihm mit seltener Klarheit zu Bewußtsein. Es war Mord.

Skar erschrak. Das waren nicht seine Gedanken.

Aber es ist so, fuhr die Stimme fort. Du mußt sie nicht töten. Sie kommen hierher, direkt auf dich zu, und sie wissen nicht, daß du auf sie wartest. Wenn du nicht gelernt hast, einen Mann zu betäuben, ehe er schreien kann, was dann?

Er erstarrte, ließ die Hände ein wenig sinken und hob sie dann wieder mit einer schnellen, fast wütenden Bewegung. Die Spitzen der Shuriken schrien nach Blut.

Wenn du es tust, dann bist du nicht besser als sie, fuhr die Stimme fort. Seine Hände begannen zu zittern.

Was ist das? dachte Skar. War das der Skar, der er gewesen war, bevor er Vela traf? War er sich selbst schon so fremd geworden, daß er ihn nicht wiedererkannte? War es die Stimme des Satai, die in ihm flüsterte? Oder wurde er – auch dieser Gedanke kam ihm nicht zum ersten Mal – schlicht und einfach verrückt?

Die beiden Thbarg kamen näher, blieben wieder stehen und gingen weiter, die Hände nachlässig auf die Waffen gelegt. Skar verlängerte die imaginäre Linie, der sie folgten, in Gedanken. Sie würden den Schatten nicht betreten, sondern dicht an seiner Grenze entlang zum Ende des Kais gehen, dort wahrscheinlich kehrtmachen und zurückgehen. Er konnte stehenbleiben und einfach warten, und sie würden nicht einmal wissen, wie knapp sie dem Tode entronnen waren.

Dann tu es, flüsterte die Stimme. Zwei Menschenleben sind ein zu hoher Preis für zwei Mäntel.

Sein Blick verschleierte sich. Für einen Moment glaubte er Nebel zu sehen, schwarzen, hin und her tanzenden Nebel voller Blut und Gewalt, dann gewahrte er ein Paar dunkler, spöttischer Augen.

Und als er erkannte, wessen Augen es waren, schleuderte er die Waffen.

Die Shuriken jagten davon, rissen blutige Linien in seine Hände und verwandelten sich in lautlose, tödliche Räder aus Licht. Einer der beiden Thbarg brach lautlos zusammen, der andere schrie auf – ein halblauter, erstickter Ton, der nur wenige Schritte weit zu vernehmen war –, griff sich in den Nacken und drehte sich taumelnd um. Sein Gesicht war eine Maske aus Schmerz und ungläubigem Schrecken. Er wankte, nahm die Hände herunter und betrachtete ungläubig seine Finger. Sie glitzerten dunkel und rot von seinem eigenen Blut. Sein Mund öffnete sich, aber kein Laut kam über seine Lippen. Nur der Schrecken in seinen Augen wurde größer.

Dann fiel er.

Als Skar zu den beiden Toten hinüberging und ihnen die Mäntel auszog, glaubte er ein leises Lachen zu hören. Nicht die Stimme seines dunklen Bruders, nicht die seines Gewissens und nicht das Heulen des Wolfes, sondern das Lachen einer Frau. Velas Lachen.

Willkommen, Bruder, sagte es. Er hatte den letzten Schritt getan. Es gab nichts mehr, was sie unterschied.

Jetzt – endgültig – waren sie sich gleich geworden. Es war nicht das erste Mal, daß er diesen Gedanken dachte, aber es war das erste Mal, daß er wußte, daß er wahr war. Er hatte Vela gehaßt, und ab heute würde er auch sich hassen.

5. Kapitel

Andred saß noch in der gleichen Stellung da, in der Skar ihn zurückgelassen hatte, zusammengesunken und reglos, als hätte er sich die ganze Zeit über nicht bewegt, und sein Blick war so leer wie zuvor. Als Skar neben ihm niederkniete und ihm den blauen Mantel und den schweren Lederhelm in die Hand drückte, zuckte er zusammen, als erwache er aus einem tiefen Schlaf.

»Zieh das an«, sagte Skar hastig. »Rasch. Bevor sie merken, daß die Patrouille nicht zurückkommt.« Er stülpte selbst den Helm über, warf den zerschlissenen Mantel endgültig zu Boden und streifte statt dessen das dunkelblaue Kleidungsstück der Thbarg über. Der Stoff war erstaunlich leicht, obwohl er dick war und gut wärmte, aber der Helm war um ein gutes Stück zu klein und drückte schmerzhaft auf Schläfen und Nasenwurzeln. Skar hatte nicht vor, ihn lange zu tragen.

Andred drehte Helm und Mantel verwirrt in Händen, als sähe er Gegenstände wie diese zum ersten Mal. Skar knurrte ungeduldig, nahm ihm den Helm aus den Fingern und setzte ihn unsanft auf Andreds Kopf. Der Freisegler machte eine schwache Abwehrbewegung, die Skar ignorierte. Skar riß ihm auch noch den Mantel von den Schultern. Erst als er ihm dann den blauen Thbarg-Mantel umlegte und die dünne Metallspange über der Schulter schloß, schien Andred allmählich zu begreifen, was mit ihm geschah.

»Woher … hast du das?« fragte er stockend.

»Geliehen«, knurrte Skar. »Zwei von Gondereds Männern waren so freundlich, es mir zu geben. Bist du bereit?«

Andred nickte, hob in einer verwirrten Geste die Hand an den Kopf und tastete mit den Fingerspitzen über das rauhe Leder des Helmes. Seine linke Hand hatte sich noch dunkler verfärbt und war jetzt fast schwarz. Aber wenn er Schmerzen hatte, so beherrschte er sich willensstark.

»Glaubst du, wir kommen in dieser Verkleidung durch die Absperrung?« Er sprach langsam und mit großen Pausen, als müsse er sich erst wieder mühsam darauf besinnen, wie man überhaupt redete.

Skar zuckte in gespieltem Gleichmut die Achseln. »Es ist die einzige Chance, die wir haben«, sagte er. »Die beiden Thbarg sind bestimmt nicht aus Langeweile auf dem Kai herumspaziert. Gondered scheint sich nicht sicher zu sein, uns wirklich erwischt zu haben. Wenn wir hierbleiben, dann werden sie uns früher oder später entdecken. Wenn wir nicht vorher erfroren sind. Wir müssen es riskieren.«

Andred nickte, rührte sich aber nicht von der Stelle. »Du … du solltest allein gehen«, murmelte er unsicher. »Ohne mich hast du eine Chance.«

Skar lachte leise. »Auf diesen Gedanken kommst du ein bißchen zu spät, Andred. Und er ist überdies falsch – Gondered hat zwei Männer auf Patrouille geschickt. Er würde sich fragen, warum nur einer von seiner Streife zurückkommt.«

»Sprichst du Thbarg?« fragte Andred unvermittelt.

Skar verneinte. »Warum?«

»Was tun wir, wenn wir angesprochen werden?«

Irgend etwas war in Andreds Stimme, das Skar warnte. Er blieb stehen und sah den Freisegler durchdringend an. Andred schien langsam in die Wirklichkeit zurückzufinden – aber es schien eben nur so. Die Logik in seinen Worten war nur vorgetäuscht; ein letztes Aufbegehren, dem der endgültige Zusammenbruch folgen würde, vielleicht in wenigen Augenblicken, vielleicht erst in Stunden, aber bald. Skar zuckte betont gelassen mit den Achseln. »Laufen«, sagte er. »So schnell wie noch nie zuvor.«

Andred lächelte pflichtschuldig. Es wirkte wie das Lächeln einer Statue.

Die Nacht schien kälter zu werden, als sie nebeneinander zum Kai hinaufgingen. Auf Andreds Gesicht war nicht die leiseste Regung zu erkennen, als er die beiden toten Krieger sah, die Skar in den Schatten der Felsen zurückgezerrt hatte. Sie gingen – auf dem gleichen Weg, den die Krieger genommen hätten – am Rand des Schattens entlang, ein wenig schneller als sie, um die verlorene Zeit wieder aufzuholen. Skars Hände glitten mit kleinen, nervösen Bewegungen über den Saum seines Mantels. Vorhin, als er im Schatten des Schiffes gelegen und zur Stadt hinübergestarrt hatte, war ihm die Entfernung unendlich groß vorgekommen; jetzt schien sie mit jedem Schritt zusammenzuschrumpfen, als galoppiere er auf einem durchgehenden Pferd.

»Rede«, flüsterte er, ohne Andred anzusehen.

Das Gesicht des Freiseglers war unter dem wulstigen Rand des Helmes fast unkenntlich. Wenn sie nicht direkt angesprochen wurden, dann hatten sie eine Chance. Wenn Gondered nicht auch seine eigenen Leute überwachte. Wenn Andred die Nerven behielt. Wenn …

Zu viele Wenns, dachte Skar düster. Andred begann zu erzählen, wie Skar es verlangt hatte, sinnloses Zeug, das Skar auch nicht verstanden hätte, wenn er hingehört hätte. Trotzdem nickte er von Zeit zu Zeit und steuerte eine Handbewegung oder ein verhaltenes Lachen bei. Er hatte plötzlich Angst, es zu übertreiben. Man konnte auch zu natürlich sein.

»Der Lagerschuppen dort hinten«, murmelte er, ohne den Blick zu heben. »Der flache Bau zwischen den beiden Silos. Siehst du ihn?«

»Die Tür steht offen«, antwortete Andred. Seine Stimme zitterte, ein ganz klein wenig nur, aber hörbar.

»Wir gehen dicht daran vorbei. Achte auf mein Zeichen.«

Details

Seiten
Erscheinungsform
Neuausgabe
Jahr
2015
ISBN (eBook)
9783958244351
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2015 (Oktober)
Schlagworte
eBook Fantasy Abenteur Action Dystopie Kultroman Helden
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Titel: Enwor - Band 4: Der steinerne Wolf
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