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Vorsicht: Stufen!

Roman

©2015 146 Seiten

Zusammenfassung

Wer wird denn gleich aus Liebe morden …? Die rabenschwarze Komödie »Vorsicht: Stufen!« von Tatjana Kruse jetzt als eBook bei dotbooks.

Es beginnt ganz unschuldig – bleibt es allerdings nicht lange … Eigentlich will Clara Pauly nur als Statistin bei den alljährlichen Freilichtspielen von Schwäbisch Hall mitwirken. Doch dann sieht sie zum ersten Mal den Star von »DIE ZEHN GEBOTE – Das Musical«, und schon ist es um sie geschehen: Dieser Traum-Tenor ist ihre große Liebe! Dumm nur, dass Ron Raimundo das anders sieht. Um genau zu sein: Er sieht seine neue Verehrerin gar nicht. Aber das ist nur eine Frage der Zeit, da ist sich Clara sicher … und in der Zwischenzeit räumt sie mit weiblicher Raffinesse und einem gewissen Hang zur Skrupellosigkeit schon einmal alle aus dem Weg, die ihrem Glück in die Quere kommen könnten!

Jetzt als eBook kaufen und genießen: das mörderische Lesevergnügen »Vorsicht: Stufen!« von der erfolgreichen Krimi-Autorin Tatjana Kruse, ausgezeichnet mit dem Marlowe-Preis der Raymond-Chandler-Gesellschaft - ein schwarzhumoriges Lesevergnügen für die Fans von Karsten Dusse. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Über dieses Buch:

Clara Pauly wirkt als Statistin bei den Schwäbisch Haller Freilichtspielen mit, in der Produktion »DIE ZEHN GEBOTE – Das Musical«, die auf der Großen Treppe von St. Michael aufgeführt werden soll.

Prompt verliebt sie sich in den Hauptdarsteller, einen Tenor, der den Moses gibt. Die Liebe wird allerdings nicht erwidert, obwohl er ihr Hoffnungen zu machen scheint. Daraufhin greift Clara zu ungewöhnlich finalen Mitteln.

Über die Autorin:

Tatjana Kruse, Jahrgang 1960, ist in Schwäbisch Hall aufgewachsen, wohin sie nach 25 Jahren im außerhohenlohischen Exil auch wieder zurückgekehrt ist. Sie veröffentlicht in erster Linie Kriminalromane und -geschichten und wurde u. a. mit dem Marlowe und dem Nordfälle-Preis ausgezeichnet.

Die Website der Autorin: www.tatjanakruse.de

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Neuausgabe November 2015

Copyright © der Originalausgabe 2007 Tatjana Kruse, Schwäbisch Hall/Swiridoff Verlag, Künzelsau

Copyright © der Neuausgabe 2015 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/Svetlana Zdenchuk

E-Book-Herstellung: Open Publishing GmbH

ISBN 978-3-95824-381-1

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Tatjana Kruse

Vorsicht: Stufen!

Roman

dotbooks.

Ein Wort zum Geleit

Die Freilichtspiele Schwäbisch Hall stehen seit über achtzig Jahren für gute Sommerunterhaltung und erstklassige Theaterarbeit. Die Ereignisse in diesem Buch sind völlig frei erfunden, und obwohl Ihnen einige der Personen aus diesem Buch in den Straßen der Stadt tatsächlich begegnen könnten und alle genannten Orte real sind, dürfen Sie beim Lesen eines niemals vergessen: Alles, wirklich alles, ist pure Fantasie!

Dramatis Personae

Freilichtspiele Schwäbisch Hall

Intendant: Christoph Biermeier

Leitung Künstlerisches Betriebsbüro: Alexander Schmid

Öffentlichkeitsarbeit: Jutta Parpart

Chefdramaturg: Georg Kistner

DIE ZEHN GEBOTE – Das Musical

Regisseur: Lasker Schudrow, 32, angesagter Jungregisseur, je nach Auge des Betrachters entweder genial oder psychisch schwerst gestört

Regieassistentin: Liese von Bühlow, 28, schusselig, farblos, nicht glücklos

Ausstattung: Benno Bleibtreu, 25, nimmt seine Arbeit so ernst, wie es nur ein Schweizer kann

Choreografie: Igor Dugaschwili, 37, Ex-Tänzer, nicht schwul

Bühnenbildner: Mario Bottini, 30, Modelleisenbahnfan

DarstellerInnen

Moses: Ron Raimundo, 39, Tenor und – was auch sonst? – Frauenschwarm

Enkelin des Pharao: Mirabelle Gessner, 38, Diva von eigenen Gnaden, Tochter reicher Eltern

Aaron: Erhard Frühwirt, 41, »Ich toure auch mit Soloprogramm!«

Pharao: Gernot Haussmann, so, Bariton, ausgehaltener Ehemann

Josua: Franz Finck, 25, spielt seine Rolle nicht, lebt sie

Diverse Frauen 1: Marie Müllerschön, 23, ehemalige »Miss Mosel«, Besetzungscouchtalent

Diverse Frauen 2: Elisabeth von Wellenfels, 23, Tanzmaus

Stunt-Double für Moses: Jean Belmont, 33, Elsässer mit Film- und Fernseherfahrung

Die Rampensau: Hertha, 4½, Mutter, Nachwuchsschauspielerin, Schwäbisch-Hällisches Landschwein

Pawlow, der Hund: er selbst

Auch dabei:

Statisten und Statistinnen (namentlich Clara Pauly, 41, Spätpubertierende oder wahlweise Frühmenopausierende im Hormonrausch)

Tobias Klinghammer, 45, Theaterkritiker aus Stuttgart

Dietrich Birmer, 54, Intendant eines süddeutschen Staatstheaters

Carina Poppinga, 52, stellvertretende Tierschutzvereinsleiterin

Bürger und Bürgerinnen von Schwäbisch Hall

Angereiste Touristen und Touristinnen

Die Mumie

Recht und Ordnung:

Hauptkommissarin Gesine Bauer

Bauer zwo, Gesines Assistent

Und natürlich:

Die Große Treppe von St. Michael

Prolog

Mit einem gurgelnden Laut ging Moses zu Boden. Der jahrhundertealte Sandstein bohrte sich gnadenlos in sein Kreuz. Über sich sah er Schäfchenwolken und den kornblumenblauen Himmel. Und Pharao, der sich mit einem Wutschrei auf ihn kniete und ihm das Gewand über der Brust zerriss. Moses rächte sich, indem er sich in den Umhang des Pharao krallte.

»Du elender Furz!«, gellte der Pharao, wenig königlich. »Aus dir mach ich Hackfleisch!«

Da kam auch schon der Höllenhund, um den biblischen Propheten und den Herrscher über Ober- und Unterägypten in das Reich des Todes zu zerren. Oder der Ausruf »Hackfleisch!« hatte ihn angelockt – das war auf den ersten Blick nicht ganz klar.

Hinter dem Höllenhund näherte sich ein weiteres Monster – halb Mensch, halb Schwein – mit verzerrtem Gesicht und Schaum vor dem Mund. Moses spürte den heißen Atem des gewaltigen Tieres und hörte die gellenden Schreie des Fabelwesens. Er sah noch, wie beide sich auf den Pharao stürzten.

Dann schwanden ihm die Sinne.

1. Akt: Lehrjahre einer Spielwütigen

So musste sich Gott gefühlt haben, kurz nachdem er die Erde geschaffen und mit einem Aufseufzen erkannt hatte, dass doch nicht alles gut war und sich zwischen den Highlights wie Sonnenaufgängen und Wasserfällen Murks eingeschlichen hatte. Nämlich der Mensch.

Dachte Regisseur Lasker Schudrow und seufzte schwer. Keine Frage: als Hirte seiner Theaterschäfchen hatte er versagt.

Wenn alles gut ging, würde es »DIE ZEHN GEBOTE – Das Musical« werden.

Nicht Les Dix Commandements, ein Musical aus der Feder dreier Franzosen, das im Land von Froschschenkel und Gauloise recht erfolgreich war, sondern die Neufassung von Menno Jensen und Wilfried Nägele, die alles bisher Dagewesene sprengen sollte. Aber im Moment hatte es eher den Anschein, als mache die World Wrestling Foundation Station in Schwäbisch Hall.

Auf der ausladenden Treppe von St. Michael lagen der Pharao und Moses verknotet auf den Stufen. Eigentlich handelte es sich um Gernot Haussmann, Bariton, und Ron Raimundo, Tenor.

Das Fabelwesen, das oberhalb des Nabels ein junger Mann von betörender Schönheit und darunter ein borstiges Schwein war, hieß Benno Bleibtreu und war für die Kostüme des Stückes verantwortlich. Das Zerreißen eines mit viel Liebe geschneiderten Kostüms kam für ihn einem Akt der Blasphemie gleich. Monatelang hatte er mit seinem untrüglichen Gespür für die Wirkung der richtigen Kleidung nach diesem Goldbrokat gesucht, hatte mit der halsstarrigen Unbeirrbarkeit eines Berner Oberländers dem Unverstand des Regisseurs getrotzt, der meinte »Das sieht doch außer euch Profis niemand!« Dann hatte er endlich den perfekten Stoff gefunden – und nun meuchelten diese Idioten seine Kreation.

Also fluchte Bleibtreu verständlicherweise Obszönitäten auf Schwyzerdütsch und versuchte den Pharao von Moses herunterzureißen. Natürlich ohne dabei den güldenen Umhang des Pharao zu beschädigen.

Und bei dem Höllenhund handelte es sich um Bernhardiner Pawlow, ein zutiefst friedfertiges Tier, dessen Lebensziel darin bestand, möglichst viele Menschen liebevoll abzuschlecken und damit in den Genuss seines Sabbers zu bringen, der von der Natur derart konzipiert war, dass durchweg alles, aber vor allem Bernhardinerhaare, daran kleben blieb.

Schwäbisch Hall.

Wer draußen in der Welt »Schwäbisch Hall« hört, pfeift meist als Erstes den Auf-diese-Steine-können-Sie-bauen-Jingle. Aber es gibt auch eine Stadt zur Bausparkasse. Eine ganz besondere Stadt mit grandioser historischer Architektur, pulsierender moderner Kultur, abwechslungsreichen Freizeitangeboten, kulinarischen Höhepunkten. Eben die kleinste Metropole der Welt, wie sie sich selbst nennt.

Doch der Wert einer Stadt misst sich nicht an den Sehenswürdigkeiten, den Highlights. Den Wert einer Stadt erkennt man an den Gesichtern der Bewohner und ihrer Gäste. Und wenn man nach Hall kommt, sieht man auf diesen Gesichtern fast immer ein Lächeln.

Schwäbisch Hall – eine Wohlfühlstadt.

Nun ja, wer an diesem Tag, zu dieser Stunde vor der Treppe von St. Michael, diesem Hotspot der Stadt, gestanden hätte, der hätte das womöglich nicht geglaubt.

Denn dort tobte das Chaos. Aber immerhin: der Entertainmentwert war enorm ...

»Er will nur spielen«, rief Mirabelle Gessner, die gar nicht das Frauchen von Bernhardiner Pawlow war, die aber immer und zu allem ihren Senf abgeben musste. Sie hatte den Riesenhund am buschigen Schwanz gepackt und wollte ihn von den rangelnden Männerkörpern wegziehen. Ein hoffnungsloses Unterfangen – der Bernhardiner wog weitaus mehr als sie. Er bemerkte nicht einmal, dass da jemand an seinem Hinterende hing.

Trotz ihrer 38 Lenze konnte Mirabelle optisch die Adoleszente noch plausibel verkörpern, darum spielte sie in »DIE ZEHN GEBOTE – Das Musical« die Enkelin des Pharao, die sich in den charismatischen Moses verliebt. Dummerweise war sie im wirklichen Leben die Frau des Pharaodarstellers, hatte sich aber dennoch in den charmanten Tenor verguckt, der den Moses gab. Der Pharao hatte mit seiner nicht zum Stück gehörenden Kostümzerreißnummer überprüfen wollen, ob seine Frau seinem Nebenbuhler tatsächlich die Goldkette geschenkt hatte, deren Rechnung – ausgestellt von einem örtlichen Juwelier – er zwischen ihrer Reizwäsche in der Hotelkommodenschublade gefunden hatte.

Der angesagte Jungregisseur Lasker Schudrow, der mit einer aufsehenerregend modernen Inszenierung der Bühnenfassung des Wiener Telefonbuchs am Burgtheater weltweit für Furore gesorgt hatte und nur wegen seiner – wie er glaubte – mit der Durchschnittlichkeit normaler Menschen nicht kompatiblen Genialität an einer »Cabriobühne« , sprich: einem Freilichttheater, gelandet war, zupfte sich am ergrauenden Pferdeschwanz, warf seiner Gurkentruppe, wie er sie gern zu nennen pflegte, einen säuerlichen Blick zu, atmete heftig aus, setzte das Megafon an die Lippen und rief: »Pause!«

Dann drehte er sich zu seiner Regieassistentin um und sagte: »Ich kann so nicht arbeiten. Besorg' mir ein ›Mohrenköpfle‹!«

Clara Pauly pustete sich eine Strähne aus dem Gesicht, um besser sehen zu können, wie die schusselige Regieassistentin Liese von Bühlow sofort in den Goldenen Adler trabte, um ihrem Chef beflissen das gewünschte Bier zu besorgen, dessen Name – ›Mohrenköpfle‹ – nicht liebevoll schwäbelnd das Bild eines Afroamerikaners aus der früheren Besatzungsmacht hervorrufen sollte, sondern der Kosename für das schwarzbehauptete einheimische Schwäbisch-Hällische Landschwein war. Quasi das Bier zum Braten. Auch bratenlos lecker.

Liese von Bühlow besaß absolut keine Persönlichkeit und sagte immer nur »dings« und »äh«, und schon wenige Sekunden, nachdem sie einen Ort verlassen hatte, war es den Zurückgebliebenen unmöglich, sich an ihre Gesichtszüge zu erinnern. Aber sie war die Effizienz in Person. Dennoch begriff Clara, die ihr Leben lang versucht hatte, spürbaren Eindruck zu hinterlassen, nicht, wie jemand sich so zurücknehmen konnte.

Es war 11 Uhr 55 vormittags, an einem brütend heißen Mittwoch Ende Mai. Man konnte sich nicht vorstellen, dass noch vor einem Jahr um diese Zeit die Truppe bei Graupel und Bodenfrost beinahe erfroren wäre. Ein Hoch auf die Klimakatastrophe!

Wer bei dieser Probe nicht gerade auf den Stufen zu tun hatte, saß unter einem Sonnenschirm zu Füßen der Treppe, im Dunstkreis des Regisseurs, der seine ›Familie‹ gern um sich scharte. Nur die fünf Musiker – ein Posaunist, ein Sackpfeifer, ein Kora-Spieler, ein Trommler und ein Geiger – harrten oben im Schatten des steinernen Erzengels Michael aus. Schudrow hätte ja gern ein Sinfonieorchester engagiert, aber das hatte ihm der Intendant aus Budgetgründen ebenso verwehrt wie das Wagenrennen à la Ben Hur.

Clara spielte zum ersten Mal als Statistin bei den Schwäbisch Haller Freilichtspielen mit. Genau genommen spielte sie überhaupt zum allerersten Mal.

Wenn man Clara bitten würde, sich selbst zu beschreiben, würde sie sagen: »Eine Frau mittleren Alters, dennoch am Anfang eines neuen Lebens. Äußerlich kein Hingucker, aber ein Vulkan im Inneren« Seit ihrer Scheidung hatte sie von den Unterhaltszahlungen ihres Mannes gelebt und sich irgendwie ungebraucht gefühlt. Doch dann war es wie aus heiterem Himmel über sie gekommen: die Erleuchtung, was sie mit dem Rest ihres Lebens anfangen sollte. Sie würde Schauspielerin werden, dazu fühlte sie sich schlagartig heftig berufen. Etwas in ihrem Innern sagte ihr, dass sie eines Tages die Welt begeistern würde, und sie brannte, ja loderte danach, es allen zu zeigen. Nur wollte es niemand sehen. Keine Schauspielschule, kein Agent, nicht einmal ein Laientheater. Darum hatte sie sich, als sie in ihrer Hamburger Tageszeitung las, dass eine neue Musicalproduktion noch Statisten suchte, umgehend gemeldet. Und wurde genommen! Doch dann wurde die Produktion wegen schwerer, nicht zu überbrückender Gegensätze zwischen Intendanz und Regisseur kurzfristig in die süddeutsche Provinz verlegt. Sie hatte sich als einzige Anwärterin auf einen Statistenposten bereit erklärt, auf eigene Kosten für vier Monate nach Schwäbisch Hall zu ziehen, wohin die Produktion quasi verkauft worden war.

»Ehrlich, das ist nicht nötig«, hatte man ihr gesagt. »Wir finden in Schwäbisch Hall genug Statisten.«

»Nein, ich komme gern!«, hatte Clara insistiert, wie immer taub für zarte Anspielungen.

Was nichts kostet, nimmt man – nicht nur am Theater – mit Kusshand, also fand sich Clara eines Tages auf der Großen Treppe von Schwäbisch Hall wieder.

Die Große Treppe von St. Michael.

500 Jahre war sie nun alt, sah aber für ihr Alter noch verdammt knackig aus. Manch einen erinnerte sie an eine steingewordene Welle, deren Stufen in der Mittagshitze wie kleine Schaumkronen flirrten, andere sahen ein umgekehrtes Amphitheater in ihr.

Sie selbst war einfach da. Mächtig und ausladend. Und freute sich des Lebens. Es konnte ihr gar nicht umtriebig genug zugehen. Wenn sie spürte, dass Menschen voller Begeisterung und Leidenschaft ihre Stufen auf- und abliefen, dann fühlte sie sich glücklich.

Und ja, wer von der Rathausmauer aus nur lange genug auf die Stufen sah, der merkte: die Treppe lächelte!

Es war am Freilichttheater Schwäbisch Hall nicht üblich, fremde Produktionen einzukaufen. Hinter den Freilichtspielen stand ein wohldurchdachtes Konzept, das allenfalls durch Co-Inszenierungen mit anderen Häusern ergänzt wurde, nicht aber durch Package-Einkäufe völlig fremder Produktionen.

Doch in diesem Fall hatte das Schicksal seine Hand im Spiel: Es ließ den für die ursprüngliche Produktion geplanten Regisseur schwer verunfallen (keine Sorge, nach dreimonatiger Reha geht es ihm mittlerweile wieder glänzend), und kaum war in letzter Minute ein adäquater Ersatzmann gefunden worden, erkrankte der vorgesehene männliche Hauptdarsteller nach seinem Nigeriaurlaub an Malaria, die Choreografin bekam von ihrem Arzt wegen Komplikationen in der Schwangerschaft strikte Bettruhe verordnet und der weiblichen Hauptdarstellerin wurde ihre Liebe zu einem Bankräuber zum Verhängnis: Sie wurde wegen Beihilfe rechtskräftig zu sechs Monaten Haft verurteilt. Da war es einem Geschenk des Schicksals gleichgekommen, als ein befreundeter Festspielortleiter Lasker Schudrows Musical empfahl: witzig, spritzig, finanzierbar und wichtiger noch, für die Treppe in Hall geeignet. Dass es sich um ein Danaer-Geschenk handelte, trat erst ganz allmählich zutage. Allmählich, aber überdeutlich.

Nun stand Intendant Christoph Biermeier am Fenster des KBB, des Künstlerischen Betriebsbüros der Freilichtspiele, das im Clausnizer-Haus, einem der historischen Gebäude am Marktplatz untergebracht war, mit direktem Blick auf die Treppe von St. Michael. Der Intendant sah leicht gequält auf den ersten Probentag der ZEHN GEBOTE, auf die rangelnden Hauptdarsteller und die Ordner rund um die Absperrung, die natürlich dazu da waren, für Ruhe zu sorgen, aber eben unter den Passanten und nicht unter den Darstellern.

Intendant Biermeier seufzte schwer. Nur die Ruhe, das wird schon noch werden, sagte er sich. Dann warf er ein Gummibärchen ein.

Bestimmt hatte es Gott seinerzeit genauso gehalten.

Schauspieler sind keine normalen Menschen. Sie spielen nur typische Menschen.

In Gefühlsdingen beherrschen sie eine enorme Flexibilität. Sie können bei einer simplen Autoinspektion in Tränen ausbrechen. Oder bei einer blutigen Kollegenkeilerei die tiefe Gelassenheit eines buddhistischen Zen-Mönches während seiner Morgenmeditation an den Tag legen.

Bei der Szene, die sich an diesem Vormittag auf den Stufen der Großen Treppe abspielte, zeigte sich die ganze Bandbreite ihres emotionalen Könnens. Wer sich nicht kontemplativ mit seinen Textseiten Luft zufächelte, der weinte. Allerdings flossen nur Lachtränen.

Es muss leider gesagt werden, dass die Kollegen von Raimundo und Haussmann mehrheitlich mit allerlei Anfeuerungsrufen das Chaos noch weiter schürten. Die Schauspieltruppe rief lautstark »Haut euch!« und »Schlammcatchen, Schlammcatchen!«

Pawlow bellte, Kostümbildner Bleibtreu fluchte immer noch derb in seiner Muttersprache, die fünf Musiker setzten zur Titelmelodie von »Spiel mir das Lied vom Tod« an, Schudrow brüllte durch sein Megafon »Pause, hab' ich gesagt, verdammtnocheins!« und da setzten auch noch die vollen Glocken von St. Michael zum 12-Uhr-Geläut ein.

Angesichts dieser in ihrer Gesamtheit unschönen Kakofonie bekamen die kleinen Schwäbisch-Hällischen Landschweinferkel, die in einem Mini-Streichelzoo vor dem Touristik-Büro am Gesäuge ihrer Mutter gelegen hatten, die Panik und quietschten, was das Zeug hielt.

Nun trat auch der Oberbürgermeister an das Fenster seiner Amtsstube im Rathaus und betrachtete die Szenerie kopfschüttelnd. Darüber musste er sich bei Gelegenheit mit dem Intendanten unterhalten. Bei dem Lärm konnte doch kein Mensch arbeiten.

Er schüttelte nochmals den Kopf, warf aber kein Gummibärchen ein.

Um 12 Uhr 02 bereitete das Theaterfaktotum dem Spuk ein Ende.

In Lederhose und T-Shirt – seiner Allwetteruniform, auch bei den derzeit herrschenden 30 Grad Celsius im Schatten – stapfte der Mann fürs Grobe die Treppe hinunter, packte Bleibtreu an den Hosenträgern und Haussmann am güldenen Umhang und zog sie von Moses weg. Pawlow hörte auf zu bellen und schnüffelte beseelt an der Lederhose wie an einem toten Tier. Von seiner Seite aus war es Liebe auf den ersten Riecher.

»Okay, alle runter von der Treppe!« , rief das Faktotum mit markiger Stimme. »Wer noch gehen kann, trägt die anderen.«

Die Glocken beendeten ihr Geläut und die Ferkel saugten wieder hungrig schmatzend an Muttersau Hertha.

Friede senkte sich über den Marktplatz.

Haussmann riss sich los, stapfte die Stufen zum Sonnenschirm und dem Kollegenhaufen hinunter und klopfte sich imaginären Staub vom Umhang. Unten angekommen, breitete er in großer Geste die Arme aus. Sein Haaransatz war ein wenig weiter hinten, als er sein sollte, und sein Bauch ein wenig weiter vorn. Jetzt schmetterte er baritonal: »Schmäht mich, hasst mich, verachtet mich, aber ich kann aus meinem Herzen keine Mördergrube machen. Wenn ich getroffen werde, blute ich.«

Wer jedoch blutete, war nicht er, sondern Moses alias Ron Raimundo, der sich ächzend – die Hand im Kreuz – erhob und die Treppe hinunterwankte.

Der Tenor war ein Frauentyp und erlebte solche Szenen öfters mit Männern, denen er entweder tatsächlich Hörner aufgesetzt hatte oder die das nur glaubten. Meistens hatten die Männer allerdings recht. Doch selbst dann, wenn dem nicht so war: Raimundo war ein zutiefst friedfertiger Mann und schlug nie zurück. Nicht einmal in Notwehr.

Er ließ sich auf den freien Stuhl neben Clara Pauly fallen. »Du hast nicht zufällig ein Taschentuch dabei? Gegen mein Nasenbluten?« Angesichts von Gewaltszenen bekam er grundsätzlich Nasenbluten.

»Doch, hier.« Sie reichte ihm ein zerknittertes Einmalzellstofftuch.

»Danke dir.« Zart strich er mit seiner Linken über ihren Unterarm.

Und in diesem Augenblick sah Clara Pauly zum ersten Mal tief in seine veilchenblauen Augen.

Ein Fehler!

»Mein Gott, wegen dem bisschen Blut musst du jetzt doch nicht aussetzen?« Lasker Schudrow baute sich vor dem Tenor auf, der den Kopf in den Nacken gelegt hatte.

»Wie soll ich denn singen, wenn mir das Blut hektoliterweise in den Mundraum rinnt?«

Schudrow schürzte die Lippen. Für ihn waren die Schauspieler keine Partner, mit denen man etwas Wichtiges der menschlichen Natur oder des menschlichen Zusammenlebens exemplarisch aufzeigen konnte, sondern nichts weiter als seine Instrumente, Knetmasse, mit der er etwas gestaltete. Knetmasse war im Gegensatz zu Menschen aus Fleisch und Blut allzeit bereit – er nahm sich fest vor, zur Schonung seines Nervenkostüms als Nächstes von der Theaterbühne zum animierten Knetfilm zu wechseln.

Schudrow seufzte auf. »Dann proben wir jetzt eben die Szene mit deinem Double. Jean? Wo ist Jean?« Er setzte das Megafon an die Lippen. »Jean, verdammter Franzose, bei Fuß!«

Jean Belmont – ein Bilderbuch-Macho mit schwarzer Lockenmähne, borstigen Drei-Tage-Stoppeln am Kinn und einer krausen Matte im offenen Kragen seines Karohemdes – saß, weil er zu dieser Uhrzeit im Probenplan gar nicht vorgesehen war, wasserpfeifenrauchend mit der neuesten Ausgabe des Playboy an einem der dunkelbraunen Holztische vor der Fontäne des Anlagencafés, also circa zwei Kilometer Luftlinie entfernt und somit außerhalb der Schudrow'schen Megafonreichweite.

Auf den Befehl »Bei Fuß« reagierte nur Pawlow, der als wohlerzogener Hund auf Schudrow zulief und Sitz machte. Natürlich erwartete er ein Leckerli, und als er keines bekam, fing er an, dem Jungregisseur seinen beachtlichen Bernhardinerschädel auffordernd in den Schritt zu rammen. »Schafft den Köter fort und holt mir diesen gottverdammten Franzmann!«, gellte Schudrow durch das Megafon, dass die Mauern der Häuser bebten und die Ferkel wieder zu einer panischen Quietschsinfonie anhuben.

»Jean, Jean, Jean«, skandierte fröhlich die Schauspielertruppe.

»Wer von euch Saubeuteln hat sich meine Repetierringkabelendhülsenpresszange gekrallt?«, brüllte das Faktotum.

»Wuff!«, bellte Pawlow.

»Oink!« , grunzte Muttersau Hertha.

Der Oberbürgermeister griff zum Telefonhörer und wählte die Nummer des Intendanten.

Und wieder musste ein Gummibärchen dran glauben ...

Clara Pauly bekam von all dem nichts mit.

Sie tupfte mit ihren Tempo-Taschentüchern das Blut von der rasierten Brust des Tenors, wobei er ihr dankbar die Hand tätschelte und »Du bist ein Schatz« murmelte.

Clara wähnte sich im Glück.

Großer Irrtum!

Was keiner der Beteiligten wusste: das war noch die gute Zeit. Die Zeit vor den Morden ...

2. Akt: DIE ZEHN GEBOTE – Das Musical

Sanft flatterte der Nil im Wind, während sich die Dämmerung über das Land senkte.

In diesem speziellen Fall war der Nil eine gewaltige, leuchtend blaue Stoffplane, die sich von oben nach unten über die Treppen von St. Michael zog. Jemand rief »Fiat lux« und im Licht eines Scheinwerfers aus dem oberen Stock des gegenüberliegenden Rathauses verwandelte sich die Plane in Sekundenschnelle in kräftiges Blutrot.

Ein furioser Special Effect.

Lasker Schudrow, der in seiner Regiemethode nicht an Lob glaubte, sagte nur: »Tja, schaut ganz gut aus. Und jetzt will ich den Busch brennen sehen.«

Da noch keine Aufführungen liefen, konnte man auch abends proben. Und sei es nur die Spezialeffekte.

Über dem Marktplatz der hohenlohischen Stadt wehte gewissermaßen der heiße Odem Ägyptens. Die Kirche flankierten nicht nur die üblichen Linden, sondern auch zwei Plastikpalmen. (Kokospalmen aus der Südsee, die in dieser Art in Ägypten noch nie vorgekommen waren, aber wir wollen ja jetzt nicht pingelig sein.) An den Balustraden neben der Treppe hingen gigantische Plakate der ägyptischen Götter Anubis und Horus und zu Füßen der Balustrade standen links ein überlebensgroßer Sarkophag und rechts ein zwei Meter fünfzig hoher Obelisk mit Hieroglyphen (aus Pappmaché). Und als nun auch noch, auf ein Zeichen des Regisseurs, die gesamte Marktplatzbeleuchtung ausging und nur noch oben im Eingang zur Kirche ein gleißend helles und flackerndes Licht anging, da lief ein Raunen durch die Anwesenden. Es war jedoch nur eine kleine Handvoll Anwesender, denn aus dem viel zu heißen Maivormittag war ein verregneter, überraschend kalter Maiabend geworden. Eigentlich standen nur die für diese Probe eingeteilten Schauspieler herum, das heißt, sie drängten sich eng an eng unter dem Sonnenschirm, der nun als Regenschutz fungierte. Obwohl der Platz rechts neben Tenor Ron Raimundo hart umkämpft war, ging Statistin Clara Pauly aus diesem Kampf als Siegerin hervor. Was daran liegen mochte, dass sie keine Schauspielerin mit Hoffnungen auf eine Fernsehrolle war und sich darum nicht auf Kleidergröße 32 heruntergehungert hatte. Nun stand sie neben dem Ziel ihrer Wünsche, atmete seinen würzigen Männerduft ein und beobachtete ihn betont desinteressiert aus den Augenwinkeln. Es gab aber nichts zu beobachten: So sehr er in seiner Freizeit den Frauen und dem schönen Leben zugetan war, so konzentriert war er während der Arbeit. Clara Pauly seufzte.

Pawlow, der zwischen den Beinen der Truppe lag, seufzte auch. Es war schon seit Ewigkeiten dunkel: Wann gab es endlich Happi?

«Also gut«, rief Lasker Schudrow. Auf Insistieren des Intendanten verzichtete er nach 20 Uhr auf sein Megafon. »Also gut, wir haben den brennenden Busch und die Verwandlung der Gewässer in Blut. Jetzt will ich Frösche, Mücken und Stechfliegen.«

Wie unschwer zu erkennen ist, handelte es sich um den Durchlauf für die zehn Plagen, mit denen Gott Ägypten strafte, weil es sein Volk nicht ziehen lassen wollte. Vom Band und über Lautsprecher lebensecht verstärkt hörte man das Quaken von Fröschen und gleich darauf das unschöne Summen blutgieriger Insekten.

Schudrow nickte zufrieden. »Viehpest!«, befahl er und das Schwein marschierte auf.

Ursprünglich hätte ein Statist im Schweinekostüm auftreten sollen, aber durch die kurzfristige Verlegung des Stückes von der Groß- in die Kleinstadt war Lasker Schudrow auf die Idee gekommen, dem falschen Schwein ein echtes Schwein hinzuzugesellen.

Das Schwäbisch-Hällische Schwein gilt als die älteste deutsche Zuchtrasse. Circa 1820 importierte man »Chinesenschweine« aus England zur Einkreuzung in die domestizierten Wildschweine. Heraus kam ein kurz gestrecktes, nicht dickliches Schwein mit deutlicher Farbzeichnung, schwarzem Po (genannt »Sattel») und knuffigen Schlappohren.

Aus Richtung der Buchhandlung Klosterbuckel kommend, trabte ein Prachtexemplar dieser Rasse dem falschen Schwein hinterher, das es mit Apfelschnitzen lockte. Das Schwein hieß Hertha und war die Muttersau, die sich tagsüber als Touristenattraktion vor dem Brunnen am Marktplatz zur Schau stellte. Ihre fünfzehn Ferkel folgten ihr wohlig oinkend. In dem Schweinekostüm steckte nun nicht mehr Benno Bleibtreu, sondern Carina Poppinga, die zum Tierschutzverein Schwäbisch Hall gehörte. Man hatte lange mit Lasker Schudrow verhandelt, inwieweit man den Tieren diesen Auftritt zumuten konnte, und sich schließlich darauf geeinigt, dass ständig ein Vertreter des Tierschutzvereins zugegen sein musste, um die artgerechte Betreuung der Tiere zu gewährleisten. Nach ihrem Auftritt kamen Hertha und ihre Kleinen in ihr Nachtquartier, einen provisorischen Stall auf dem Parkplatz des Ordnungsamtes, um lange Transportwege zu vermeiden und in heimeliger Atmosphäre den Stress für die Tiere möglichst gering zu halten. Das Schwäbisch-Hällische Schwein war aber ohnehin nicht sehr stressanfällig und gerade Hertha war für die Bühne geboren. Sie genoss ihre Auftritte, blieb in der Mitte der Treppe immer unaufgefordert stehen, sah zu den Menschen hinüber und gab tiefe, dunkle Grunzlaute von sich. Dann erst trabte sie weiter. Hertha war im wahrsten Sinne des Wortes eine Rampensau.

Sobald die Schweine in Höhe Büschlerkeller aus dem Blickfeld verschwunden waren, erklangen vom Band jämmerliche Tierlaute (die der Tontechniker nach eigener Aussage auf einem Schlachthof aufgenommen hatte, die aber in Wirklichkeit von dem verfressenen Perserkater seiner Freundin Petra stammten, der mit diesem markerschütternden Winseln zu verlangen pflegte, dass man eine Gourmetkatzenfutterdose für ihn öffnete, und zwar pronto).

»Weiter!«, brüllte Schudrow. »Die Blattern!«

Am Kopf der Treppe wankte Jean Belfort, der Stuntman, heran. Er trug nur einen Lendenschurz. Sein Körper war über und über mit eitrigen Pusteln bedeckt, die von der Maskenbildnerin in liebevoller Handarbeit aufgeklebt worden waren. In bester schmierenkomödiantischer Manier torkelte Jean auf der obersten Stufe, ruderte mit den Armen, hielt eine Sekunde mit aufgerissenen Augen inne und fiel dann purzelnd die Treppe hinunter. Alle 54 Stufen. Plong-plong-plong. Die Zeit schien sich zu verlangsamen. Das Einzige, was noch von Realtime-Geschwindigkeit zeugte, waren die aufgeklebten Eiterbeulen, die sich von Jeans rotierendem Körper lösten und in hohem Bogen in alle Richtungen flogen. Unten angekommen blieb Jean wie tot liegen. Alle hielten den Atem an. Dann drehte Jean Belmont den Kopf zum Regisseur und fragte: »Wie war isch?«

Sein Brustkorb hob und senkte sich schwer.

»Äh ... schon ganz gut«, meinte Schudrow und ging auf den am Boden liegenden Stuntman zu. »Jetzt will ich das Ganze noch mal sehen. Du bist mir zu weich gefallen. Der Sturz war mir irgendwie nicht lebensecht genug.«

»Quoi?«, rief Jean, der nach einem Massenschießerei-Stunt mit echten Kalaschnikows auf dem rechten Ohr taub war.

Schudrow richtete das Megafon direkt auf den vor ihm liegenden Franzosen. »Du bist zu weich gefallen! Fall gefälligst härter! Das kommt irgendwie nicht lebensecht.«

Jean guckte vorwurfsvoll. »Isch 'abe schon Jackie Chan gedoubelt. Und er fand misch lebensecht!«

»Für einen Hongkong-Haudrauf-Schinken mag das ja auch reichen, aber wir machen hier echtes Theater.« Schudrow stieß ihm mit dem Fuß in die Hüfte. »Also hopp. Hurtig, hurtig, Monsieur.«

Schudrow drehte sich um und lief zu seinem Regiestuhl. Er sah folglich nicht mehr, mit welch mörderischem Blick Jean Belmont seinen Rücken bedachte.

Der Abend zog sich.

Als Hagel gab es Papierkügelchen, aus einer Zirkuskanone ins Publikum geschossen. Sämtliche Haller Schulen hatten sich bereit erklärt, die Massen an kleinen Kügelchen in drei Sonderstunden Kunsterziehung von ihren Schülerinnen und Schülern formen zu lassen.

Die Heuschrecken flackerten in irrsinnigem Tempo per Beamer über die Fassaden der Häuser rund um den Marktplatz. Und die Finsternis war einfach finster. Nur im Büro der Kulturbeauftragten, die aufgrund hohen Arbeitsaufkommens eine Spätschicht einlegen musste, brannte noch Licht, was Schudrow dazu brachte, sich wie Rumpelstilzchen im Kreis zu drehen und mit den Füßen zu stampfen.

»Bei den Aufführungen wird so was nicht vorkommen, das ist bereits abgesprochen«, beruhigte ihn Liese von Bühlow. Aber Schudrow hatte eine Eigendynamik entwickelt und kreiselte einfach weiter.

»Schade, dass er sich nicht auf Nimmerwiedersehen in den Boden bohrt«, lästerte Franz Finck, der den Josua spielte.

Als Schudrow sich endlich erschöpft und voll im Drehschwindel auf seinen Regiestuhl fallen ließ, schlugen die Glocken 22 Uhr. »Die Tötung der Erstgeburt machen wir morgen«, lallte er noch, aber da waberte auch schon grüner Dampf über die Brüstung der Treppe und zu unheimlicher, atonaler Musik von den fünf Musikern ertönte Babyglucksen vom Band, das abrupt endete.

Gänsehautfeeling!

Clara rückte zitternd näher an den Tenor. Der legte seinen rechten Arm wärmend um ihre Schultern. Beinahe hätte sie geschnurrt. Clara, die noch nie zuvor einen Tenor kennengelernt hatte, nahm diese Geste nämlich persönlich.

Dabei entging ihr, dass sein linker Arm bereits im Kreuz von Elisabeth von Wellenfels lag, einer Jungschauspielerin, die auch Tanz gelernt hatte.

Die Arme von Ron Raimundo besaßen einen Östrogen-Radar, und wenn sie eine Frau erschnupperten, bewegten sie sich unweigerlich auf sie zu. Das erforderte gar keinen Befehl des Tenorgehirns mehr, sondern geschah automatisch. Eine Eigenschaft, die vielen Tenorarmen zu eigen ist. Tenorarme sollten – ebenso wie Zigarettenschachteln – eigentlich immer mit Warnhinweisen ausgestattet werden ...

»Ich will noch ein Wörtchen mit den Statisten wechseln! , rief Schudrow, als er gegen 22 Uhr 20 die Schauspieler in den Feierabend entließ.

»Leute, ihr wart so was von Scheiße! , hielt er dem kleinen Haufen vor, der sich um ihn scharte. »Ich weiß, ihr seid nur Amateure, aber das ist keine Entschuldigung!«

Schudrow demonstrierte gern Übermacht in deutlichen Worten. Da war er ganz Hitchcock. Nur dass vor ihm keine Kim Novak, keine Tipi Hedren und keine Grace Kelly standen, sondern eine dralle Brünette mit geistesabwesendem Blick, ein vierschrötiger Kahlkopf und eine Handvoll Menschen, von denen er hätte schwören können, sie im Leben noch nicht gesehen zu haben. Oder es war ein versprengter Haufen Touristen, die nach der Nachtwächterführung bei ihm gelandet waren. Es war Schudrow egal, er polterte weiter. »Versteht mich nicht falsch, Leute. Ich glaube an euer Potenzial. Ich muss euch nur brechen, damit wir anfangen können, richtige Schauspieler aus euch zu machen!«

Clara hörte gar nicht hin. Drüben marschierte Ron Raimundo in den Goldenen Adler. Hatte er seinen Arm in das Kreuz dieser Tanzmaus gelegt? Verdammt, es war im Dämmerlicht nicht richtig zu erkennen.

Die anderen Statisten lauschten ihrem Regisseur. Einige waren betroffen, andere schmollten, einer blickte ausdruckslos.

Er war ein Riese von Kerl, mit kahl rasiertem Schädel, auf dem ein Grinsegesicht tätowiert war. »Nennt mich Smiley«, hatte er gleich zu Anfang gesagt. Er lächelte allerdings – entgegen seinem Spitznamen – nicht sehr oft.

Smiley und Clara waren die einzigen Nicht-Haller in der Statistentruppe. Möglicherweise hatte sich deshalb eine Art Kumpelfreundschaft zwischen ihnen entwickelt.

Schudrow fand kein Ende. »Ihr dürft nicht wie ein Holzscheit dastehen, das darauf wartet, in den Kamin geworfen zu werden. Und wenn doch, dann wie ein Holzscheit, das sein Schicksal kommen sieht. Ich will echte Gefühle sehen. Ich will Schmerz, ich will Leidenschaft, ich will alles!« Schudrow schraubte sein Vokalorgan in die Höhe.

Liese von Bühlow guckte verlegen. »Äh ... was der Lasker meint, ist, dass ihr äh ... dings ... ruhig in eurem Spiel übertreiben dürft.«

»Der Lasker sagt euch schon, was der Lasker meint. Vielen Dank auch«, bellte Schudrow.

Liese kam zu dem Schluss, dass er ungeheuer unter Druck stehen musste, wenn er sich im Ton so dermaßen vergriff.

Alle anderen fanden, dass der Lasker ein Arsch war.

Über Smileys Pitbullgesicht huschte ein Lächeln. Es war diabolisch und verhieß nicht Gutes, aber im Dunkeln bemerkte es keiner.

Wie immer saßen die Schauspieler hinterher noch auf ein Bier im Goldenen Adler zusammen.

Dieses Mal erwies sich Elisabeth von Wellenfels, die 23-jährige grazile Tanzmaus, als äußerst wendig und ergatterte den Platz rechts neben Ron Raimundo. Marie Müllerschön, ebenfalls 23, aber völlig talentfrei – außer auf der Besetzungscouch –, sicherte sich den Stuhl links neben dem Tenor. Clara kam wegen der Schudrow'schen Statistenschelte zu spät, und als sie sich gegenüber von Ron niederlassen wollte, wurde sie unsanft von Mirabelle Gessner zur Seite gestoßen, die vehement ihr droit de seigneuse ausübte.

Clara schnaubte und baute sich mit ihrem ›Zepezauers Zaubertrunk‹, einer leckeren Mischung aus Sekt und Erdbeersirup, hinter dem Objekt ihrer Begierde auf. Sie und Raimundo, das war Fakt. Er brauchte eine ordnende Hand in seinem Streunerleben und diese Hand befand sich am unteren Ende von Claras Arm. Daran konnte es überhaupt keinen Zweifel geben. Der Goldene Adler – oder einfach nur Adler unter Eingeweihten – war einer der beliebtesten Treffpunkte für alle Beteiligten am Freilichttheater. Und in Dankbarkeit waren einige der Gerichte und Getränke auch nach den festen Größen des eigentlichen Teams benannt. So gab es ›Biermeiers geliebte Suppenküche‹ mit Flädle- oder Maultaschensuppe zur Auswahl, und hinter ›Buschings bunter Glitzerwelt‹ verbarg sich ein Salatteller, benannt nach der offiziellen Kostümbildnerin. ›Zepezauers Zaubertrunk‹ war ein erfrischender Cocktail zu Ehren von Udo Zepezauer, der schon seit mehreren Spielzeiten so begnadet den Tod im Jedermann und den Harry Frommermann in den Comedian Harmonists gab. Ron Raimundo bestellte konsequent jeden Abend Kässpätzle, auch wenn er gar nicht hungrig war, weil er insgeheim hoffte, dass man dieses Gericht noch während seines Aufenthalts in Schwäbisch Hall in ›Rons Leibspeise‹ oder ›Raimundospatzen‹ umtaufen würde.

Josua, Aaron und der Pharao zogen sich mangels weiterer Sitzgelegenheiten in den angrenzenden Saal zurück. Murrend, aber alternativlos.

»Dieser Schudrow ist so was von unorganisiert«, fluchte Marie. »Lässt uns während eines technischen Durchlaufs zwei Stunden im Regen stehen.«

»Sehr unprofessionell«, bestätigte Ron nickend. »Ich muss da natürlich an meine Stimme denken.«

»Wirklich unfair von Schudrow, dich so behandeln«, warf Clara ein und streifte mit ihrer freien Hand über seinen Nacken. Er zuckte nicht zurück. Clara wertete das als Zeichen.

Alle Schauspieler wandten sich ihr abrupt zu und bedachten sie mit missbilligendem Stirnrunzeln. Sie war Statistin und mithin eine Außenstehende. Wenn überhaupt, durfte nur meckern, wer auch wirklich dazugehörte.

Clara schmollte.

Nur Ron Raimundo lächelte ihr aufmunternd zu.

Noch ein Zeichen!

Clara schmolz dahin.

Die Zeichen wurden allerdings revidiert, als Clara zu vorgerückter Stunde auf die Damentoilette in den Keller entschwinden musste. Bei ihrer Rückkehr – die sich zugegebenermaßen etwas hinzog, weil sie ihr Augen-Makeup erneuern wollte, dabei übers Ziel hinausschoss und sich blaue Mascara-Schlieren mit Toilettenpapier und Spucke wegtreiben musste – war der Tisch in der vorderen Wirtsstube verwaist.

»Wo sind denn alle hin?«, erkundigte sie sich entsetzt bei der Kellnerin im schmucken roten Dirndl.

»Die haben gezahlt und sind gegangen. Aber ihre anderen Kollegen sitzen noch nebenan.«

Clara schluckte schwer. Wer interessierte sich schon für den durchgeknallten Psycho Haussmann und seinen langweiligen Spezi Erhard Frühwirt, der den Aaron gab? Oder für Jean, der den Wundschmerz mit einem Haller Löwenbräu-Pils nach dem anderen betäubte, nachdem ihn Schudrow den spektakulären Treppensturz satte zehn Mal hatte wiederholen lassen und ihn anschließend als Stunt-Doublette diffamiert hatte.

Clara schnappte sich ihr Regencape und rannte die Glastür hinaus in das aufziehende Gewitter. Womöglich holte sie Ron Raimundo auf dem Weg zu seinem Hotel noch ein. Es waren ja nur ein paar Schritte.

Und tatsächlich, sie sah ihn just in dem Moment, als er den Nachteingang zum Hotel Adelshof entriegelte.

Gleich darauf drehte Ron Raimundo sich um, nahm die grazile Tanzmaus neben sich in den Arm, küsste sie, stülpte seine Lippen saugnapfartig auf die ihren, als sei sie eine Ertrunkene, die er durch intensive Mund-zu-Mund-Beatmung wiederbeleben wollte, und führte sie dann an der Hand ins Innere des Hotels.

Ja wie?

Clara konnte es nicht glauben.

Sollte sie die Zeichen tatsächlich missdeutet haben? War sie im spätpubertären oder frühwechseljahrigen Hormonrausch womöglich einer gründlichen Fehleinschätzung erlegen?

Und was war mit der SMS? Dem ›Danke dir sehr, mein Schatz. Kuss, Ron‹? Er hatte ihr diese Worte – quasi noch nasenblutend – zum Dank für ihre Florence-Nightingale-Taschentuchhilfe in sein Handy getippt. Wenn ein Mann siech darniederlag und sich trotzdem bedankte, dann hatte das doch etwas zu bedeuten!

Krokodilstränen wallten in Claras Augen auf.

Aber so schnell begräbt man einen Traum nicht. Schon gar nicht den Traum vom Glück.

Natürlich hatte er ihr Hoffnungen gemacht, mit kleinen Gesten, mit Blicken, mit tausend Kleinigkeiten! Er hatte sie durchaus spüren lassen, dass er sich für sie interessierte.

Wieso schleppte er dann diese unsägliche Elisabeth von Wellenfels ab, die sich Lissy nennen ließ und deren »von« gar nicht echt, sondern ein Bühnenpseudonym war? Ob sie vielleicht doch nur probeweise den Text für die nächste Szene miteinander durchgehen wollten?

Clara sah, wie im ersten Stock ganz rechts ein Licht anging und gleich darauf wieder verlosch.

Leider Gottes war sie mit einer lebhaften Fantasie gesegnet und konnte sich sehr gut vorstellen, welche Szene im Zimmer des Tenors gerade geprobt wurde. Eine horizontale!

Und da keimte er in ihr.

Der Gedanke an Rache.

Über Clara blitzte es auf. Wie sie so inmitten zuckender Blitze dastand, während ihr Traummann mit einer anderen Frau Hand in Hand in den Sonnenuntergang schlenderte, bildlich gesprochen, erinnerte Clara stark an alte Horrorfilme, in denen ein verrückter Wissenschaftler versucht, der Gewalt der Elemente Energie zu entziehen.

Keine Macht auf Erden und in der Hölle kann es mit einer Frau aufnehmen, die sich hintergangen fühlt.

Es zogen finstere Wolken über Schwäbisch Hall auf – und damit war nicht die Gewitterfront gemeint.

Dies war auch die Nacht, in der zum ersten Mal die Mumie durch die Gassen der Altstadt huschte.

Fahl leuchteten ihre weißen Stoffstreifen im Licht der Straßenbeleuchtung. Lautlos bewegte sie sich vorwärts. Auch als sie auf dem Sparkassenplatz über den Eurobrunnen stolperte, gab sie keinen Laut von sich. Mucksmäuschenstill rappelte sie sich wieder hoch und eilte weiter.

Details

Seiten
Erscheinungsform
Neuausgabe
Jahr
2015
ISBN (eBook)
9783958243811
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2015 (November)
Schlagworte
eBooks Regionalkrimi Spannung regiospannung achtsammorden karstendusse schwäbisch hall cosy crime krimi humorvoller krimi
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Titel: Vorsicht: Stufen!
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