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Noch sieben Schuss, dann ist Schluss

Roman

©2015 408 Seiten

Zusammenfassung

Humorvoll, turbulent und lebensweise: „Noch sieben Schuss, dann ist Schluss“ von Christoph Treutwein jetzt als eBook bei dotbooks.

Er kann sie alle haben. Also, theoretisch. Jonathan Kaiser sieht gut aus und weiß, wie er Frauen glücklich macht. Da gibt es nur ein Problem: Bei einer neuartigen medizinischen Untersuchung stellt sich heraus, dass Jonathan noch genau sieben Orgasmen haben kann – dann ist Schluss mit lustig. Und zwar endgültig! Von nun an heißt es Zölibat statt Sinnesfreuden. Ausgerechnet jetzt lernt Jonathan die Frau kennen, auf die er sein ganzes Leben gewartet hat. Aber wird sie sich wirklich auf einen Mann einlassen, der im entscheidenden Moment nicht kommt?

Eine schwungvolle Komödie über Männer und ihre Macken: „Es ist nicht so leicht, einen wirklich witzigen Roman über Sex zu schreiben. Christoph Treutwein hat es geschafft.“ Berliner Zeitung

Jetzt als eBook kaufen und genießen: „Noch sieben Schuss, dann ist Schluss“ von Christoph Treutwein. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Über dieses Buch:

Er kann sie alle haben. Also, theoretisch. Jonathan Kaiser sieht gut aus und weiß, wie er Frauen glücklich macht. Da gibt es nur ein Problem: Bei einer neuartigen medizinischen Untersuchung stellt sich heraus, dass Jonathan noch genau sieben Orgasmen haben kann – dann ist Schluss mit lustig. Und zwar endgültig! Von nun an heißt es Zölibat statt Sinnesfreuden. Ausgerechnet jetzt lernt Jonathan die Frau kennen, auf die er sein ganzes Leben gewartet hat. Aber wird sie sich wirklich auf einen Mann einlassen, der im entscheidenden Moment nicht kommt?

Eine schwungvolle Komödie über Männer und ihre Macken: »Es ist nicht so leicht, einen wirklich witzigen Roman über Sex zu schreiben. Christoph Treutwein hat es geschafft.« Berliner Zeitung

Über den Autor:

Christoph Treutwein hat sich erfolgreich quer durch die deutsche Film- und Fernsehunterhaltung geschrieben und dabei immer wieder seine Vielseitigkeit bewiesen: Er arbeitete für Comedy-Größen wie Hape Kerkeling und Dieter Hallervorden, schrieb Drehbücher für zahlreiche TV-Formate und beherrscht die ernsten Tonlagen ebenso virtuos wie die humorvollen. Seinem ersten Roman Noch sieben Schuss, dann ist Schluss – über den Ingolf Lück urteilte: »Das witzigste Buch, seit ich lesen gelernt habe!« – werden in Kürze weitere folgen.

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Neuausgabe Dezember 2015

Dieses Buch erschien bereits 2010 unter dem Titel Wer zu früh kommt … im Ullstein Taschenbuch.

Copyright © der Originalausgabe Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin

Copyright © der Neuausgabe 2015 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design, München, unter Verwendung eines Bildmotivs von shutterstock/jules2000

E-Book-Herstellung: Open Publishing GmbH

ISBN 978-3-95824-407-8

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Christoph Treutwein

Noch sieben Schuss, dann ist Schluss

Roman

dotbooks.

»Der Orgasmus des geschlechtsreifen Mannes oder Jugendlichen geht einher mit neurophysiologisch vom Sexualzentrum im Zwischenhirn ausgelösten, rhythmischen Muskelkontraktionen der Genitalgänge und der zugehörigen Organe wie Samenleiter, Samenblase und der Prostata, weiterhin der Urethra, der Muskeln des Beckenbodens, damit auch denen an der Peniswurzel, und schließlich der Kontraktionen des Penis selbst. Dabei wird gewöhnlich direkt und unmittelbar eine Ejakulation ausgelöst, wobei das Sperma in die Harnröhre gelangt und durch die Öffnung in der Eichel nach außen geschleudert wird. Neben den körperlichen Reaktionen äußert sich der Orgasmus in einem oftmals als angenehm empfundenen individuellen Erlebnis des Rausches und der Überwältigung. Die Intensität und Erlebnistiefe kann sich von Mal zu Mal und von Mensch zu Mensch unterscheiden, sie lässt sich durch mentale oder körperliche Stimuli beeinflussen.«

Wikipedia

Kapitel 1

»Trag munt’ren Herzens Deine Last,
und übe fleißig dich im Lachen;
wenn Du an Dir nicht Freude hast,
die Welt wird Dir nicht Freude machen.«

Sprichwort

Jonathan Kaiser betrat das Foyer der Privatklinik seines Bruders mit einem kleinen Pfeifen auf den Lippen. Ein wenig Swing, ein wenig Blues. Vom Nacken bohrte sich der Schmerz wie ein langer Dorn abwärts. In Schultern, Ellenbogen und Brust pochte es, die Leber fühlte sich geschwollen an, in der linken Niere zog es leicht. Blinddarm, Leisten und der rechte Hoden brannten, die Muskeln der Oberschenkel zuckten unkontrolliert, und in der rechten Hüfte machte sich ein unaussprechlicher Schmerz breit. Als geübter Hypochonder konnte er sich innerhalb von Sekunden in diesen Zustand versetzen. Er überflog wie immer die überdimensionalen Aktzeichnungen an den Wänden, die von manisch-depressiven Alzheimer-Patienten gemalt worden und inzwischen auf dem Kunstmarkt viel wert waren, und ließ seinen Blick dann zu der Rezeption in fröhlichem Froschgrün wandern, hinter der drei blutjunge Arzthelferinnen auf ihren Computern klimperten. Er wählte die kleine vollbusige Blondine in der Mitte aus, die mit dem Herzmund, und schlenderte so gelassen wie möglich auf sie zu.

Die unterbezahlte Sklavin strahlte ihn an, als wäre die Welt in Ordnung.

»Jonathan Kaiser«, stellte sich Jonathan vor, »ich habe einen Termin bei meinem Bruder.«

»Der Test?«, zwinkerte sie ihm zu.

»Der Test?«, fragte die bildhübsche Asiatin links von ihr voller Mitleid.

»Wir kommen gar nicht nach mit diesen Tests«, stellte die Afrikanerin rechts von ihr bedrückt fest.

»Der Test«, sagte Jonathan tonlos.

Sein Bruder hatte eine fatale Neigung zu exotischen Kindfrauen und zu Hause eine brave fromme Gattin und drei wohlerzogene Kinder. Neid und Bewunderung schossen Jonathan durch den Kopf.

»Ein wenig müssen Sie noch warten«, sagte der Herzmund mit rauchig sächselnder Stimme, »unser Doktor Kaiser hat gerade noch einen Notfall.«

Jonathan spähte auf das kleine Schild an ihrer Brust. »Sie sehen übrigens phantastisch aus, Melanie.«

»Sie können sich setzen«, erwiderte Melanie und deutete nach rechts. »Machen Sie es sich gemütlich. Es wird nicht lange dauern.«

»Solange es auch dauert«, sagte Jonathan, »wie wäre es, wenn wir beide uns bei einem Cappuccino treffen? Die Seele baumeln lassen. Danach wird nichts mehr lange dauern.«

Er musterte Melanie mit den aufreizend gesenkten Augenlidern von Robert de Niro.

Der Herzmund kritzelte seine Handynummer auf einen Rezeptblock, riss das Blatt beherzt ab und schob es ihm hin.

»Bis bald.«

In diesem Moment glaubte er an sich wie Schwarzenegger in seiner mittleren Phase. Augenblicklich schwanden seine Schmerzen, und es ging ihm besser denn je. Immerhin sagte man ihm nach, gutaussehend, charmant, witzig, berechnend und zynisch zu sein – kurz: für die Frauenwelt eine schillernde Persönlichkeit. Ein Mischling aus Til Schweiger, Johnny Depp und Michael Ballack, vielleicht eine Nummer kleiner.

Jonathan suchte in den Zeitschriften nach der einzig wichtigen und fand ein Exemplar von Paula aus dem letzten Jahr. Paula – die etwas andere Frauenzeitschrift für Jung und Alt war sein Leben. Er setzte sich, um seine Kolumne zu finden. Da waren sie ja, seine allseits beliebten Tipps für das Sexualleben der Frau: Bei der Reiterstellung hat die Frau die maximale Kontrolle. Wie geritten wird, ist klar: Er liegt rücklings, und sie sitzt auf seinem Gemächt. Das verschafft ihr die Macht über seine Lust und ihm einen irrsinnigen Ausblick.

Du liebe Güte, wie lange war das schon her, dass er das verfasst hatte?

Die Arzthelferin winkte ihm zu. »Es dauert noch«, rief sie, »hoffentlich haben Sie etwas Schönes zum Lesen gefunden?«

»Aber ja«, rief Jonathan zurück, »lesen Sie vielleicht auch die Paula

»Sicher«, strahlte Melanie, »Paula ist mein Lebenselixier!«

Wahrheit oder Heuchelei? Egal. Jonathan war hier bekannt, genoss seine Prominenz, nickte zufrieden und las weiter: Tipp für Anfänger: Teasen Sie Ihren Schatz! Geben Sie Tempo und unterbrechen Sie dann abrupt, bis er Sie anfleht, ihn zu erlösen!

Er sah über den oberen Rand der Zeitschrift und studierte die Arzthelferin. Bei den vollen, sinnlichen Lippen konnte man sich als Mann ziemlich sicher sein, von ihr mit ebenso vollen, aber zarten Schamlippen empfangen zu werden.

Er konnte es nicht lassen. War ja auch schließlich sein Beruf, solche Erkenntnisse seiner zu neunzig Prozent weiblichen Leserschaft zu vermitteln. Zudem war er ein Mann der Präzision, ein Rechercheur der alten Schule und dabei fleißig wie eine Biene. Nie würde er unsaubere oder falsche Informationen in die Welt setzen. Schließlich war er geborener Schwabe, auch wenn er in den neuen Bundesländern gelandet war.

Alles, was er tat, war redlich und rein.

Tipp für Fortgeschrittene – hatte er seinerzeit geschrieben –: Statt sich hinzuknien, gehen Sie doch einmal vorsichtig über IHM in die Hocke. Sehr intensiv! Aber geben Sie gut auf ihn Acht – ER ist ein empfindsames Organ!

Besser könnte er es auch heute nicht formulieren! Nun, es ist mein Job, so zu denken, dachte er und pumpte sich sogleich eine gehörige Portion Glück und Potenz in seine Hoden.

Die Arzthelferin zwitscherte ihm zu. »Es ist gleich so weit. Der Doktor wird sich sofort um Sie kümmern.«

Jonathan legte die Zeitschrift weg und wandte sich einem der Zerrspiegel zu, in denen alle Patienten grau, alt und sterbenskrank aussahen. Er betastete seine Nase und seine Ohren. Sie waren in Ordnung, nicht zu kalt und nicht zu heiß. Er betrachtete sein Spiegelbild – immer noch Typ Napoleon, klein und doch so groß –, reckte sich, betastete seine grauen Tränensäcke und rückte mit einem schnellen Griff sein Glied zurecht. Er holte tief Luft und hörte einen gedämpften gregorianischen Chor, der jeden, der hier eintrat, daran erinnern sollte, wie schnell der Mensch wieder zu Asche wird. Musik, die speziell für Arztpraxen und Kliniken produziert wurde.

Die letzten Nächte waren ungewöhnlich anstrengend gewesen. Er dachte an Liliane, mit der er am Abend wieder eine lange Sitzung haben würde. Vor ein paar Stunden hatte sie ihm die Liste ihrer neuesten geheimen Wünsche in die Redaktion gesimst. Liliane, die erste Frau in seinem Leben, mit der er nun schon fast vier Monate lang zusammen war.

***

Jonathans jüngerer Bruder Michael führte einen schwankenden Drei-Zentner-Gigolo aus seinem Sprechzimmer.

»Das wird schon wieder«, lachte er und stützte das monumentale Bündel Elend kraftvoll bis zur Tür, »kommen Sie dreimal wöchentlich zur inneren Wellness-Körperwäsche, dann fühlen Sie sich spätestens in einem Jahr wie neugeboren.«

Er sah dem Patienten in seinem blütenweißen Ärzteoutfit nach, eilte Jonathan auf leisen Sohlen entgegen und strahlte ihn verdächtig vergnügt an.

»Alter Fettsack«, sagte er.

»Ich?«

»Nein, er.« Michael nickte zur Tür. »Der macht’s nicht mehr lange.« Unter Brüdern gab es keine ärztliche Schweigepflicht. »Überall Sollbruchstellen: Halsschlagader, Prostata, Krampfadern …«

Unwillkürlich wich Jonathan zurück. Sie waren seit jeher kein ideales Brüderpaar. Nur ihr alter Vater, der bei ihnen stets von Fritz und Elmar Wepper, Uli und Dieter Hoeness und Hans-Jochen und Bernhard Vogel zu schwärmen pflegte, sorgte dafür, dass sie sich trafen und dabei die Form wahrten.

Jonathan entschlüpfte der brüderlichen Umschlingung, während er den Atem anhielt, um der herben Mischung aus Rasier- und Mundwasser und Desinfektionsmitteln zu entgehen. Er hasste Männer, die sich innig aneinanderpressten, und hatte so seine Zweifel, ob Kain und Abel das je miteinander versucht hatten.

»Wie geht’s uns denn?«, fragte Michael fröhlich und zog Jonathan mit einer schlangenhaft schnellen Bewegung ein Augenlid nach unten. »Du siehst alt aus.«

»Ich bin älter als du. Was ist mit dem Test?«

Vor Wochen waren Jonathan erstmals Gerüchte zu Ohren gekommen, dass die moderne Medizin nun in der Lage war, eine der drängendsten Fragen eines jeden Mannes zu beantworten: Wie viele Orgasmen ihm lebenslang zur Verfügung stehen und – um ihm die mühsame Aufarbeitung der Vergangenheit und komplizierte Rechenaufgaben zu ersparen – wie viele ihm noch verbleiben. Tausende Männer konsultierten seither ihre Ärzte, um ihre Schusszahl testen zu lassen. Die meisten waren offensichtlich zufrieden. Ihre Schüsse reichten bis ins hohe Alter, ob Lehrer, Künstler, Pfarrer, Verbrecher oder Politiker, ganz unabhängig davon, ob sie Gebrauch von ihnen machten oder sie mit ins kühle Grab nahmen.

Bruderherz Michael hatte ihm persönlich eine Mail geschickt:

»Eine Forschergruppe an einer amerikanischen Universität konnte vor einiger Zeit Daten zur Dauer der männlichen Sexualreife und Potenz entwickeln. Dabei wurden an Zellproteine gebundene Testosteronderivate zur Proligenerations-Acceleranz gesetzt. Die Ergebnisse ließen hochsignifikante Aussagen über die Erektions- und Ejakulationsfrequenz zu. Auf dem Boden dieser Untersuchungsergebnisse hat jetzt das biologische Forschungsunternehmen ›Uniscience‹ einen Test entwickelt … bla bla bla.«

Kurz bevor er die Mail löschen wollte, war sein Blick auf die ungeheure Drohung im letzten Satz gefallen:

»Nach bisherigen Resultaten besteht keinerlei Korrelation zwischen momentaner Potenz und verbleibender Ejakulationszahl.«

Lieber auf Nummer sicher gehen, hatte er gedacht und sich schnell einen Termin geben lassen. Jetzt legten sich Michaels Finger fest um Jonathans Handgelenk und überprüften den Puls.

»Nicht, dass ich beunruhigt wäre«, stellte Jonathan fest, während er sich in Michaels chromblitzend sterilem Refugium umsah. Als hochaktiver Künstler in Sachen Sex glaubte er fest an sein enormes Wollust-Potential – Korrelation hin oder her. Doch eines hatte er als extrem körperbezogener Hypochonder auch gelernt: Vorsorgen war besser als Leiden. Ob Herz, Kreislauf, Lunge, Leber, Nieren, der ganze Körper war ein schnell alternder Schlitten – bei dem einen ein Porsche, bei dem anderen ein Polo. Je nach Verbrauch und Belastung konnte überall ein Auspuff durchrosten oder die Elektronik der Einspritzdüse den Geist aufgeben.

»Du musst dir sicher keine Sorgen machen, Bruderherz.«

Michaels Stimme klang nicht ehrlich, aber wann klangen die Stimmen von Ärzten schon ehrlich?

»28 986 Tage lebt der statistische Durchschnittsdeutsche«, holte Michael aus. »In dieser Zeit verbraucht er 6920 Liter Milch und 3651 Rollen Klopapier, er liest 247 Bücher, geht 51-mal wählen, verursacht 50 Tonnen Müll und gibt 39 334 Euro für Bekleidung und Schuhe aus. Er niest 3566-mal, übergibt sich 412-mal und hat 7,88 Hörstürze. Und nach jüngster Erkenntnis stehen ihm 12 412 Orgasmen zur Verfügung.«

Michael genoss es offensichtlich, seinen Bruder auf die Folter zu spannen.

»Komm zur Sache!«

»Alles klar!«, erwiderte Michael vergnügt und setzte seinen Vortrag fort: »Statistisch gesehen ist, wie wir bis jetzt wissen, nur einer von hunderttausend Patienten wirklich schwer von der sogenannten Glaser’schen Krankheit betroffen. Gestern musste ich einem alleinstehenden 67-jährigen Installateur in Rente zartfühlend erläutern, dass er nur noch knapp dreihundert Schuss zur Verfügung hat.«

»Was ist mit mir?«

Michael ließ sich nicht bedrängen. »Er leidet glücklicherweise unter schwerer Gicht in den Handgelenken«, fuhr er fort. »Auf die Art hat ihm die Natur eine Bremse mitgegeben, die ihm dabei hilft, hauszuhalten.«

Ja, so war das Leben. Traditionell an Sparsamkeit gewöhnte Schwaben traf es genauso wie haltlose Lebenskünstler aus Sachsen. Was für die einen ein sinnloser Überfluss war, brachte andere in Nöte. Mit dem letzten Tropfen würde alle Wollust versiegen. Ob sich das Leben der Mönche in den Klöstern beruhigen würde, wenn die Brüder sich testen lassen durften, war fraglich. Ob sich Swingerclubs leeren und in Gebetshäuser umgestaltet würden?

»Mutter Natur nimmt keine Rücksicht auf die Bedürfnisse der Menschen«, sagte Michael, griff nach einem großen braunen Umschlag und lächelte wie der Laudator bei der Oscar-Verleihung.

»Mal sehen«, sagte er verschwörerisch, öffnete den Umschlag, zog ein Blatt Papier hervor, wandte sich ab und las den Befund.

Jonathan spürte die Angst in jeder Zelle seines Körpers.

Michael setzte sich neben ihn, streichelte seine Hand und sah ihm tief in die Augen.

»Nicht aufregen«, sagte er brüderlich.

»Nein!?«, flüsterte Jonathan.

»Doch, leider.«

»Wie viele habe ich noch? Hundert?«

Michael schüttelte den Kopf.

»Mehr?«

»Kannst du dir vorstellen, wie schwer es mir fällt, dir die ganze Wahrheit zu sagen?«

»Achtzig?«

»Du liegst schwer unterm Schnitt. Bei dir sind es leider nur noch sieben Schuss.« Er zögerte kurz und fügte hinzu: »Aber es gibt Schlimmeres als das.«

»Was?«, japste Jonathan. »Was kann denn noch schlimmer sein?«

»Nun ja, du könntest zum Beispiel an Diabetes oder Prostatakrebs erkrankt sein …«

»Ich fasse es nicht!«

»Oder an multipler Sklerose, Alzheimer, Epilepsie.«

»Warum gerade ich?« Jonathan sprang auf. »Das ist ein Irrtum, ein Missverständnis!«

Jonathan riss Michael das Papier aus der Hand, starrte es an und verstand kein Wort. Er erinnerte sich an all die tragischen Geschichten über vertauschte Befunde.

»Eine Verwechslung!«

Der kritische Patient erwachte in ihm. Auch Ärzte waren nicht fehlerfrei. Hunderte von gesunden Beinen, die versehentlich amputiert wurden, zeugten davon.

»Na, na, na«, rügte ihn Michael mit der Kompetenz eines Geistlichen der Inquisition, der einem einreden will, dass die Erde eine Scheibe sei. »Glaubst du, dein eigener Bruder würde dich belügen? Du musst der Wahrheit ins Auge blicken. Ab jetzt wird für dich alles anders. Sobald du es akzeptiert hast, geht es dir wieder gut, ansonsten bleibt immer noch der Selbstmord. Der Gedanke an Selbstmord ist übrigens ein starkes Trostmittel, zumindest wird er dich ablenken.«

»Selbstmord?«, schrie Jonathan auf, aber Michael ließ sich nicht unterbrechen: »Wie sagen wir Mediziner so gerne? Bei starken Kopfschmerzen hauen wir uns den Hammer auf den Daumen, und schon sind die Kopfschmerzen wie weggeblasen.«

Er grinste seinen Bruder an. »War nur ein Spaß«, sagte er dann und legte Jonathan die Hand auf den Kopf, als wollte er ihn segnen. Sie schauten sich in die Augen.

»Es ist sicher nicht leicht, zu wissen, wann die Wollust flöten geht. Vor allem, wenn es schon so bald ist. Fast so schlimm, wie seinen Todestag zu kennen – eine Woche, bevor es so weit ist. Aber in der Trauer liegt eine große Kraft, sich neuen Aufgaben zu stellen.«

Jonathan winkte ab. »Wie viele Schüsse hast du eigentlich noch, Bruderherz?«

»Das kann und will ich dir lieber nicht sagen.«

»Es macht mir nichts aus, ich will nur der Wahrheit ins Gesicht sehen.«

Ein selbstgefälliges Lächeln huschte über Michaels Gesicht, wich dann aber wieder eilig der ärztlichen Trauermiene.

»Ich habe noch 27 000 Schüsse, aber ich denke nicht, dass ich die alle verpulvern kann. Die Arbeit, verstehst du? Und ich bin verheiratet. Ich würde dir ja gerne etwas davon abgeben, aber das ist medizinisch leider noch nicht möglich …«

»Nett von dir, aber von dir würde ich sowieso keine Schüsse annehmen.«

»Manchmal kann die Strafe für Selbstgerechtigkeit hart sein, und manchmal bekommt man nicht einmal die Chance, seine Lektion zu lernen«, erwiderte Michael.

Jonathan sah ihn verständnislos an. »Und was rätst du mir als Arzt?«

»Es wird Jahrzehnte dauern, bis ein Gegenmittel entdeckt wird. In der Zwischenzeit viel Bewegung, vitaminreiche Kost …«

Jonathan winkte ab. »Soll ich mehr Austern essen oder Spargel?«

»Kann nicht schaden.«

Jonathan beschloss, sich alle weiteren Ausführungen seines Bruders zu sparen, und ging, gebückt vom Gewicht der Welt auf seinen Schultern, zum Ausgang der Klinik.

Die wunderschönen Arzthelferinnen winkten ihm fröhlich zu.

Kapitel 2

»Zur rechten Zeit blind, taub und stumm,
bringt Dich um manche Klipp’ herum.«

Sprichwort

Die Meldungen auf seinem Anrufbeantworter stammten aus einer vergangenen Welt. Muntere weibliche Stimmen forderten ihn zu absurden Vergnügungen auf.

»Vergiss nicht, dass wir verabredet sind«, sagte Liliane, »sei endlich mal pünktlich. Und vergiss nicht das Du-weißt-schon-was. Bis dann.« Piep-piep. »Wir wollten heute einen Termin ausmachen«, hörte er eine seiner Kolleginnen, »du weißt schon. Ich habe eine Überraschung für dich.« Piep-piep. »Kennst du mich überhaupt noch? Ich will dich wiedersehen, verdammt noch mal!« Piep-piep. Dann sein Vater: »Dein Bruder hat mich angerufen. Wir müssen unbedingt reden.«

Jonathan drückte auf die Löschtaste, zog sich aus und widmete sich einer Selbstbetrachtung im Badezimmer. Äußerlich war ihm nichts anzumerken. Noch nicht. Er studierte sein Gesicht und seinen unnütz gewordenen Körper im Spiegel und sah sich mit den Blicken seiner Frauen als Robert de Niro oder Kai Pflaume, je nach Vorliebe und Einbildungskraft der jeweiligen Geliebten. In seinem Inneren spürte er eine unendliche Leere, als er auf den Balkon trat und den Regen auf seiner Haut spürte.

»Machen wir’s kurz«, sagte er zu den Topfpflanzen, die er zur Erinnerung an gemeinsame Orgasmen von einigen seiner Frauen geschenkt bekommen hatte. Auf der Straße, fünf Stockwerke weiter unten, winkte ihm ein Kind zu. Er winkte zurück, hob ein Bein und versuchte, über das Geländer zu steigen. Im Altbau gegenüber gingen die Lichter an. Ein Schatten schob den Vorhang zur Seite.

Außerhalb der Betten ließ seine Gelenkigkeit zu wünschen übrig. Sein Fuß verklemmte sich zwischen zwei Blumenkästen. Er verlor das Gleichgewicht und fiel nach hinten, während er seine Geranien aushebelte. Ein Blumenkasten löste sich aus der Halterung und schlug einen Augenblick später mit einem Knall auf der Straße auf. Vorsichtig erhob sich Jonathan und spähte nach unten. Nein, er hatte niemanden erschlagen. Eine Gruppe abendlicher Fußgänger versammelte sich um Blumen und Erde und starrte nach oben.

Der türkische Hausmeister kam dazu und gestikulierte. Jonathan zog sich eilig in seine Wohnung zurück. Das Leben hatte ihn wieder, und Heißhunger überfiel ihn. Er knackte sich eine eiskalte Bierdose und studierte die Vorräte im Kühlschrank, als es klingelte. Jonathan öffnete. Der Hausmeister drückte ihm einen Blumenstrauß in die Hand.

»Danke«, sagte Jonathan.

»Kommt Ihnen das bekannt vor?«, fragte der Hausmeister und musterte ihn missmutig.

Jonathan nickte betreten.

»Wie kann so etwas nur passieren?«

Jonathan zögerte. Ob er ihm von seinem missglückten Selbstmord erzählen sollte? Lieber nicht.

»Besser, als wenn Sie selber runtergefallen wären«, sagte der Hausmeister, »das wäre erst eine Sauerei gewesen.«

Das klang vernünftig.

»Reden wir nicht darüber«, sagte der Hausmeister, bevor Jonathan zu Wort kam, und zupfte an seinem Ohrring.

»Tolle Tätowierungen haben Sie«, rief Jonathan ihm nach, als er ging.

Jonathan löffelte den Rest Ravioli in Tomatensoße kalt aus der Dose und fragte sich, warum er seit Ewigkeiten keinen Kontakt zu einfachen Menschen von der Straße gehabt hatte. Mit einem Kaminkehrer vielleicht, einem Straßenbahnfahrer, Postzusteller, Installateur oder dem Leiter einer Supermarkt-Filiale. Schlichte Gemüter, die sein Leben positiv beeinflussen konnten.

Einsam wie noch nie studierte er, der sonst nie zur Flasche griff, seine gutbestückte kleine Bar, die einen Fundus auserwählter Alkoholika barg, mit denen er schüchterne Frauen zu erweichen pflegte. Natürlich nur in Maßen. Nichts irritierte ihn mehr als betrunkene Frauen, die nach einem Drink zu viel voller Weltschmerz die Weltlage besprechen wollten. Jedes Mal war es schwer, angesichts des Jammers von Hunger und Kinderarbeit wieder auf das Wesentliche zurückzukommen. Und beinahe unmöglich, wenn der kleine Schluck zu viel dazu führte, dass die Liebste in Selbstzweifel verfiel oder zu der Erkenntnis gelangte, dass er ein Schwein war, das sie schon längst durchschaut hatte. Er hasste es, wenn sie sich urplötzlich übergaben, um anschließend in tiefe Ohnmacht zu fallen. Natürlich hielt er sich selbst immer vornehm zurück, wenn es ums Trinken ging. Er fühlte sich in der Pflicht, seine Erektion nicht zu gefährden. Anders als zahllose Geschlechtsgenossen ließ er sich niemals gehen, Versagen kam nicht in Frage. Aber diese Zeiten waren vorbei. Nun war alles egal. Jonathan entschied, sich quer durch sein Getränkelager zu saufen, und nahm als Erstes einen großen Schluck aus der teuersten Flasche.

Der Himmel mogelte sich gegen Jonathans Stimmungslage eine Zeitlang mit etwas Sonnenschein durch den frühen Tag. Schlaftrunken setzte Jonathan sich auf die Bettkante.

Endlich begann es zu regnen, und der trübe Morgen trat pflichtgemäß seinen Dienst an. So sollte die Welt für ehemalige Männer sein.

Jonathan duschte und rasierte sich, ließ das morgendliche Bauchmuskeltraining aus und wählte ein passendes Outfit. Auf keinen Fall Trauerschwarz. Leonard Cohen hören und einen schwarzen Hut aufsetzen wäre vielleicht zu naheliegend und verräterisch. Eher optimistische Farben, etwas in Richtung Jürgen von der Lippe mit einem Tick Lagerfeld. Und die original texanischen senfgelben Cowboystiefel.

Seine italienische Dreitausend-Euro-Espressomaschine gab Zeichen. Er goss sich Tomatensaft ein wegen der Vitamine, verzichtete auf das Bio-Müsli und auf all die Cerealien und Mineralstoffe, die ihn sonst über den Tag brachten. Ihm war schlecht. An Trauerarbeit in eigener Sache musste er sich erst gewöhnen.

Das Telefon klingelte.

»Na?«, hörte er Lilianes Stimme. »Wie ist der Befund?«

»Noch nicht da«, log Jonathan.

»Ruf mich an, wenn du Bescheid weißt.«

»Wir sehen uns, ich muss weg.«

Es war viel zu spät, um pünktlich in der Redaktion aufzutauchen. Jonathan gurgelte mit seinem Cappuccino und nahm sich vor, im Job so zu tun, als wäre nichts passiert.

Das Telefon klingelte.

»Spreche ich mit Herrn Jonathan Kaiser?«

»Ja, aber …«

»Gut, dass ich Sie erreiche. Sie erinnern sich sicher an mich. Haben Sie drei Minuten Zeit? Wir machen gerade eine Umfrage über Potenzprobleme von Männern zwischen siebzehn und siebenundsiebzig. Darf ich Sie fragen, wie alt Sie sind?«

»Nein!«

Jonathan ging zur Tür. Das Telefon klingelte, er kehrte zurück und hob ab.

»Ich bin es, Michael.«

»Nein!«

»Es ist meine christliche Pflicht, mich um dich zu kümmern.«

»Nein!«

»Es ist deine Pflicht, mir zuzuhören, wenn ich meiner christlichen Pflicht nachkomme.«

»Nein!«

Jonathan ging zur Tür. Das Telefon klingelte.

»Wo bleiben Sie denn?«, fragte Großhaupt, sein Chef. »Wir haben schon angefangen.«

»Falsch verbunden«, sagte Jonathan, schloss die Wohnungstür hinter sich ab und hörte es schon wieder klingeln. Er rannte das Treppenhaus hinunter. Der zerschmetterte Blumenkasten vor seinem Haus, Zeichen seiner vorabendlichen Schande, war verschwunden. Wie immer hatte er die Wahl. Er konnte mit seinem Rennrad in die Redaktion fahren, um regennass und verschwitzt dort anzukommen – wenn er überhaupt ankam, ohne dass er überfahren wurde. Vielleicht sollte er den Tod herausfordern? Oder mit U-Bahn und Straßenbahn, um, wenn es abends länger dauern sollte, bei der Heimfahrt überfallen oder ermordet zu werden? Auch nicht schlecht. Oder seinen Wagen suchen, der zwanzig Minuten von der Wohnung entfernt irgendwo im Halteverbot geparkt war.

Er riskierte es, suchte seinen Wagen, zerriss das Knöllchen und machte sich auf den Weg in die große weite Welt des Zeitungswesens. Drüben der Sendemast, der ihm elektrische Ströme durch den Kopf schoss. Vorbei am verrotteten Freizeitzentrum, in dem sich Hase, Igel und Ratten guten Morgen sagten.

Stau auf dem Ring. Übermächtige Plakatwände zogen im Schneckentempo vorbei: Jetzt brauch ich was Leichtes. Happy Hippo von Professor Lol, der flüssige Schwuppdi-wupp-Snack. Besonders mild und sahnig und erfrischend natürlich.

Jonathan dachte an seine restlichen sieben Schuss. Plötzlich sah er die Welt mit neuen Augen. Er lauschte mit halbem Ohr der Werbung im Regionalsender, während er den Nachbarn auf der Nebenspur beobachtete. Wie viele Schüsse der Typ wohl noch im Depot hatte?

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Die Stadt, in der er lebte, zeigte kein Zeichen von Rührung. Alles war wie immer, und so sollte es wohl auch sein. Wer kümmerte sich denn noch um seinen Nächsten? Nachbarn entdeckten die Leichen ihrer Mitbewohner erst nach Jahren der Verwesung. Das war früher sicher anders gewesen.

Jonathan hing merkwürdig verwegenen Gedanken nach, die von Neid erfüllt waren, als er im stockenden Verkehr durch die Stadt fuhr: Wie viele Leute sich gerade in diesen anständigen Häusern wohl den Wonnen der Liebe hingaben? Ob es hundert waren oder tausend? Und nicht nur hier in diesem maroden Ort mit über zwölf Prozent Arbeitslosigkeit. Wie stand es mit ganz Sachsen-Anhalt? Dort müssten gerade zumindest hunderttausend Geschlechtsgenossen ihre feuchten Körperhöhlungen und ausgefahrenen Stiele betasten und ineinander eindringen lassen. Nun nehmen wir Deutschland, natürlich samt alten und neuen Bundesländern. Jonathan fieberte, während er rechnete. Man konnte es natürlich nur über den Daumen peilen. Europa – heißblütige Italiener und Italienerinnen. Kühle Engländer, die ihre Gattinnen begatteten. Die Holländer und Dänen. Und – o, là, là! – nicht zu vergessen die charmanten kleinen Französinnen. Jonathan grollte. In China wälzten sich ganz bestimmt eine halbe Milliarde heißer kleiner gelber Körper in ihren Strohhütten. Es musste eine Billion Menschen draußen geben – junge und alte, dicke und dünne, arme und reiche, kluge und dumme, nette und widerwärtige –, die genau in diesem Moment zum Orgasmus kamen. Es war eine deprimierend faszinierende Vorstellung. Das Gemeinschaftsgefühl sexueller Erregung verschaffte Jonathan das sichere Gefühl, dass sein Drama mit der plötzlich ausgebremsten Begierde völlig unwichtig war. Wir alle auf dieser gesamten schönen Mutter Erde sind doch nur ein Tropfen Sperma im Ozean aus Sex.

Ein Auffahrunfall, keine brennenden Autos, keine Leichen, nur ein paar traurige Gestalten neben ihren verbeulten Karren, mürrische Gesichter im Regen, trübe Augen, die die vorbeiziehende Autoschlange neidisch betrachteten.

»Was ist der Sinn des Lebens?«, fragte die Werbung. »Für Ihren Körper brauchen Sie mehr als nur zwei Beine. Tanken Sie Leistung. Wenn Ihre Freundin ein Moppel ist, schicken Sie sie ins Fitnessstudio Be cool

Jonathan wechselte die Spur und gab Gas.

»Die Nachrichten. Im Spanner-Prozess wurde nun das Urteil gefällt. Wir schalten um zu unserer Außenreporterin Sonja Kleinschmidt …«

Jonathan hörte weg und sank in sich zusammen. Wer bin ich? Woher komme ich? Wohin gehe ich? Diese Fragen hatte sich Jonathan vor der bitteren Antwort auf die Frage aller Fragen noch nie gestellt. Sieben Schuss? In seinem Kopf ratterte die Rechenmaschine. Er war knapp vierzig Jahre alt. Wenn er sich bis ins Alter von fünfundsiebzig an seiner Wollust erfreuen wollte, musste er sie auf fünfunddreißig Jahre verteilen. Nach Jonathan Riese wäre das ein Orgasmus alle fünf Jahre. Das hieß sparsam sein und haushalten, nicht gerade seine Stärke. Und selbst dann wäre sein nächster Schuss erst in fünf Jahren dran.

»Männer sind einsam«, grölte Grönemeyer, »Männer nehmen in den Arm, Männer geben Geborgenheit, Männer weinen heimlich, Männer brauchen viel Zärtlichkeit, oh, Männer sind so verletzlich, Männer sind auf dieser Welt einfach unersetzlich.«

Andererseits, überlegte Jonathan, konnte er sich mit seinem kleinen Vorrat von sieben Schüsschen auch ein schönes Wochenende machen und alles verschleudern, um dann ins Kloster zu gehen. Allerdings, befürchtete er sogleich, konnte er als gänzlich Schussloser unter durchschnittlich bestückten Mönchen zum Opferlamm ihres Standesdünkels werden. Schließlich bestand die Hauptaufgabe der Klosterbrüder darin, sich mühsam vor Schamlosigkeit und irdischen Gelüsten zu hüten, um ihr Keuschheitsgelübde einzuhalten.

Kapitel 3

»Achtung verdient, wer erfüllt, was er vermag.«

Sophokles

Der Verlag war in einem großen abbröckelnden Altbau zwischen ehemaligen Kasernen, Schrottplätzen und Schrebergärten im Osten der Stadt untergebracht. Es gab ein halbleeres Einkaufszentrum und ein Garten-Center in der Nähe. Verrostete Bahngleise an einem verfallenen Bahnhof. Hundert Meter weiter ein Swingerclub, oder eine Weight-Watchers-Filiale, keiner wusste es genau, denn die Belegschaft wollte dort weder bumsen noch abnehmen. So oder so ein guter Platz für Paula – die etwas andere Frauenzeitschrift, mit der der Herausgeber und Chefredakteur Großhaupt immer noch mittelgute Auflagen im Westen und vermehrt im Osten machte.

Jonathan bog auf den Firmenparkplatz ein. Auf seinem angestammten Platz stand ein kleiner hässlicher Bastard von Auto. Das brachte das Fass zum Überlaufen. Jonathan schlug mit den Händen aufs Lenkrad und hupte, dann stieg er aus und gab dem Wagen einen Tritt an den Reifen. Anschließend nahm er seinen Schlüssel und kratzte der Karre ein Zorro-Zett auf die Motorhaube.

Die Empfangsdame, das Rückgrat des Verlags, schwarzes Kostüm, schwarze Strümpfe, schwarze Schuhe, musterte ihn mit Grabesmiene. Aber das tat sie immer. Wie Jonathan vermutete, hatte sie nur zweimal im Jahr ein bisschen Spaß. Vor einem guten Jahr auch mit ihm, und das nur ein halbes Mal. Wenn sie unter Druck geriet, zerbröckelte ihre angelernte arrogante Höflichkeit, und sie war wieder das kleine Vorstadtmäuschen, das sich zu schnell betrank, sich ausweinen wollte, hysterisch wurde, um sich anschließend über der Kloschüssel zu übergeben. Knapp daneben, wie Jonathan wusste.

»Welcher Idiot steht da auf meinem Parkplatz, Julia?«, fragte er wütend. »Das ist mein rechtmäßiger Platz.«

Julia hob die Schultern.

»Es gibt Schlimmeres.« Sie sah auf die Uhr und schüttelte den Kopf. »Arbeitest du eigentlich noch für uns, Jojo?«

Jonathan starrte sie an, dann lachte er sein offizielles offenherziges Lachen.

»Wovon zum Teufel sprichst du?«

»Wir sind ein Team! Einer für alle, alle für einen.«

»Sei nett zu mir, Julia.«

Jonathan spürte, wie ihm die Mischung seines nächtlichen Getränketests vom Kopf in den Magen fuhr, zwickte seinen Schließmuskel zusammen und schlenderte auf seinen Kreuzweg durch das fröhlich lärmende Großraumbüro.

»Hallo, Jojo.«

»Hallo, Charlotte.«

»Jojo, wie geht’s denn so?«

»Prima, Cornelia, alles bestens.«

»Schön, dich zu sehen, Jonathan!«

Und so ging es weiter, bis er seinen Arbeitsplatz erreichte. Der war hinten in der kleinen Kammer untergebracht, wo er seine Ruhe hatte.

Wussten die Kolleginnen inzwischen, wie es um ihn stand? Ein einziger Hinweis, von wem auch immer, und alle waren informiert. Versuchten sie ihn zu täuschen? Warum bekam er keine Ratschläge ins Ohr geflüstert, mit großem Aufseufzen und in innigen Umarmungen, oder gar in stillen Ecken Ratgeberbücher in die Hand gedrückt?

Er zog sich in sein kleines Reich zurück, setzte sich traurig hinter seinen Schreibtisch und versuchte sich vorzustellen, dass er in einer Gefängniszelle in Isolierhaft eingesperrt war. Ein Graf von Monte Christo, die Glastür seines Büros fest geschlossen. Nichts hören, nichts sehen, nichts fühlen.

Sein eingebildeter Energieschub verflog sofort, als er bemerkte, dass er nicht wusste, worüber er schreiben sollte. Dabei war er der zuständige Sexexperte im Haus und schrieb unter einer Reihe weiblicher Pseudonyme erfolgreiche Kolumnen, die ihm zugestandenermaßen sensibler aus der Feder flössen als jeder Frau. Er las die konkurrierenden Frauenzeitschriften und stellte fest, dass sie ihre Sexstrecken noch länger, abstruser und monströser durchzogen als er. Neiderfüllt und ergriffen von der Phantasie der Kollegen und Kolleginnen trank er einen Liter Kaffee und drei Flaschen stilles Mineralwasser und fand immer noch kein Thema, bei dem er sicher war, dass er in seinem neuen Zustand die Kraft hatte, sich ihm bis zum Ende zu widmen, ohne unterwegs einen Heulkrampf zu erleiden.

Er ließ seinen Blick in die Fenster des Fitness-Centers schweifen und begutachtete eine Frauengruppe beim Dehnen. Ein neueingerichtetes Angebot, stellte er mit einem Blick auf die Uhr fest. Um diese Zeit war drüben noch nie gedehnt worden.

Ein genialer Einfall durchschoss ihn, woraufhin er sofort die Stoffsammlungsdatei im Rechner öffnete. Da stand es wie vermutet: Die Stabschrecke gehört mit zu den unermüdlichsten Liebhabern der Welt. Hier wird gerne mal zehn Wochen lang durchkopuliert.

Alles klar! Damit konnte er etwas anfangen und die Antwort auf die interessante Gewissensfrage einer 77-jährigen Bildhauerin aus Friesland geben, die er nur noch ein wenig umformulieren musste, damit alles rund und schön übereinstimmte.

»Doch dabei spielt die große Liebe keine wesentliche Rolle«, las er vergnügt weiter, »vielmehr geht es hier um Eifersucht – das Männchen will verhindern, dass sich ein anderer Mann nähert.« Genial! Er war wieder ganz wach und kreativ, so als wäre nichts passiert. Die Arbeit war doch das beste Gegenmittel gegen alles Leid auf dieser Welt.

Sein Telefon klingelte. Der Eigner und Chefredakteur höchstpersönlich.

»Wir haben Sie heute früh bei der Morgenkonferenz vermisst«, sagte Sebastian Großhaupt. »Sie wissen doch, dass wir Sie brauchen. Ohne Ihre Unterstützung und Ihr Talent fühle ich mich von all diesen Frauenzimmern hier erdrückt.«

»Ich hatte da ein kleines Problem«, sagte Jonathan.

»Hatten oder haben?«, fragte der Chef mit dem Gurren eines alten Truthahns. »Kommen Sie bei mir vorbei. Wir können über alles reden.«

Jonathan legte den Hörer auf. Der einzige Mann in der Redaktion außer Valentin und ihm verlangte also nach ihm.

Es klingelte noch einmal.

»Und bringen Sie Ihre Kolumne mit«, sagte der Chef diesmal unwirsch, »wir müssen sie gegenlesen. Ihre letzten Seiten waren mehr als missverständlich. Das können Sie besser.«

Jonathan las weiter: »Auch die Wasserwanzen der Spezies Abedus herberti leiden unter Sexsucht: Innerhalb von sechsunddreißig Stunden haben sie mehr als hundertmal Sex. Und wenn sich Präriewühlmäuse als Paar zusammentun, besiegeln sie den Bund, indem sie in den ersten vierundzwanzig Stunden zwischen fünfzehn- und dreißigmal miteinander verkehren.«

»Ja, ja, ja!«, murmelte Jonathan in einem jener innigen Selbstgespräche, die kreative Menschen immer führen. Das hatte er im Griff. Darüber musste ihm in einer knappen Stunde eine ganze Seite aus den Fingern fließen. Und einmal im Stoff, würde er der 19-jährigen Alzheimer-Nymphomanin eine elegante Lösung anbieten, abgeleitet aus Und täglich grüßt das Murmeltier.

Jonathan rieb sich die Hände. Er war da und bei Sinnen.

»Noch sieben Schuss!«, rief er sich zu. Mit diesem seinem außerordentlichen Schicksalsschlag konnte ihn Weisheit beflügeln. Da klingelte es noch einmal, und dieses Mal klang es anders. Bedeutend und bedrohlich. Jonathan hob den Hörer ab.

»Ja? Bist du es, Michael?«

»Gedankenübertragung«, freute sich dieser.

»Was willst du von mir?«

»Es gibt vielleicht eine Lösung.«

Jonathan hielt den Atem an.

»Ich muss deinen Körper durchchecken. Es ist ungeheuer wichtig. Am besten, du kommst sofort!«

»Ich kann nicht weg.«

»Wenn du jetzt nicht kannst«, sagte Michael, »kann ich dir einen Termin in drei Wochen machen. Wie wäre es am 17. Juli um 15 Uhr 30? Oder dann erst im Oktober.«

»Ich komme sofort!«, rief Jonathan. Vielleicht konnte die Medizin ja alles wieder rückgängig machen? Blutgerinnsel, Krebs, Wahnsinn, Zucker, all die längst schon operierbaren Kleinigkeiten, die sich über den menschlichen Organismus lustig machten.

Er rannte los.

»Ich bin kurz mal weg«, rief er Julia, der Rezeptionsdame, zu.

Kapitel 4

»Es nimmt der Augenblick, was Jahre geben.«

Johann Wolfgang von Goethe

Vorbei an den apokalyptischen Aktbildern, vorbei an den lächelnden Arzthelferinnen.

Michael umarmte Jonathan lange, unterdrückte ein Schluchzen und führte ihn in seine glitzernde Kammer, in der er über Leben und Tod entschied.

»Zieh dich aus«, wurde er sachlich und stülpte sich Gummihandschuhe über die Finger, während Jonathan seine Unterwäsche präsentierte. Einen lachsfarbenen Tangaslip, der sein Geschlecht zart umschmiegte und hervorragend ins Bild setzte. Für alle Fälle, praktisch für einen Quickie in der Besenkammer und seiner sicheren Einschätzung nach der Traum aller Frauen, die auf den Puls der Zeit hörten. Die alte Gewohnheit. Er bereute, sich für diesen Arztbesuch nicht seriöser gewandet zu haben. Irgendwo in seinen Schränken musste doch noch eine Doppelrippunterhose mit Eingriff ihr trauriges Dasein fristen? Zu spät.

Seit jeher war es seine moralische Familienpflicht, keinen anderen Arzt aufzusuchen als den Bruder. Schon als Medizinstudent hatte Michael ihn in die Mangel genommen: Die erste Blutabnahme, der erste Einlauf, Jonathan stand immer als Übungsopfer zur Verfügung, und nun war er seit vielen Jahren Dauerpatient dieses überaus erfolgreichen Mediziners, angeblich kostengünstiger, aber stets unter Aufsicht.

»Zieh dich komplett aus«, sagte Michael. »Wie fühlst du dich?«

»Kann nicht klagen.« Jonathan versuchte ein optimistisches Lächeln und legte sich nackt auf die weiße Liege. »Allerdings träume ich schlecht!«

»Erzähl mir einen typischen Alptraum! Träumst du von Ziegen oder von anderen Tieren?«

Jonathan starrte ihn verständnislos an. Er träumte pornographische Versionen von Peter Pan, Pinocchio und Heidi und dass er als Superschlumpf die Biene Maja vögelte. Sein schlechtes Gewissen ließ ihn oft stundenlang nicht einschlafen, wusste er doch, dass seine Träume nicht mit den gesellschaftlichen Normen übereinstimmten.

»Alpträume?«, überlegte er. »Ich träume von Frauen mit Silikonbrüsten. Kaum dass ich sie anfasse, explodieren sie. Oder von gepiercten Schamlippen. Meine Zunge verheddert sich, und ich komm da nicht mehr raus. Mein Kopf muss ewig zwischen den Schenkeln bleiben.«

»Ich verstehe«, sagte Michael, wälzte ihn herum und drückte seine kräftigen Tennis- und Golffäuste tief in Jonathans rechte Seite unterhalb der Rippen.

»Und was träumst du?«, fragte Jonathan zurück.

»Ich lebe gesund und vernünftig, ich brauche keine Alpträume. Übrigens solltest du gesündere Unterwäsche tragen, es ist deiner Manneskraft nicht zuträglich, so eingequetscht zu sein. Das unterbindet die Durchblutung. Wie viel trinkst du so am Tag?«

»Meinst du Alkohol?«

»Stell dich nicht blöder, als du bist. Ich kenne euch doch. Acht von zehn Journalisten sind schwere Alkoholiker.«

Er legte Jonathans Bein zur Seite, klopfte es ab.

»Spürst du Schmerzen?«

»Nein.«

»Und jetzt?«

»Ja«, stöhnte Jonathan auf.

»Das stinkt nach Raucherbein.«

»Ich höre seit sieben Jahren auf damit«, fuhr Jonathan hoch, »ich weiß, dass Rauchen Gift ist.«

»Lieg gefälligst ruhig«, bellte der brüderliche Arzt und bohrte ihm den Zeigefinger in die Leiste.

»Hast du immer noch so viel Geschlechtsverkehr? Blumenbeete statt einer schönen Rose?«

Jonathans Puls jagte.

»Gott!«, keuchte er auf und nahm sich vor, nur unter Folter dritten Grades zu gestehen, dass er mit dem Teufel im Bunde war und häufig wechselnden Geschlechtsverkehr bevorzugte. Bevorzugt hatte, schoss es ihm durch den Kopf.

»Schwierigkeiten beim Pinkeln?«

»Nicht, dass ich wüsste.«

Michael zerrte an seinen Gummihandschuhen. »Dreh dich auf die Seite. Ich werde deine Prostata abtasten.«

Jonathan reckte seinem Bruder den Hintern hin. Nun ja, es war ein bisschen wie früher in der Knabenzeit, nur umgekehrt. Michael rammte ihm den Finger in den Darm.

»Ursula hat sich inzwischen übrigens wieder beruhigt«, sagte er etwas verkniffen.

Jonathan warf ihm einen beunruhigten Blick zu.

»Worüber?«

»Du weißt schon.«

»Keine Ahnung.«

»Bleistifttest.«

»Bleistifttest?«

Plötzlich erinnerte sich Jonathan wieder an die Sonntagnachmittagseinladung bei der Familie seines Bruders. Fair gehandelter Kaffee mit Milch vom Bauern des Vertrauens und selbstgebackener Biozwetschgenkuchen auf der sonnigen Terrasse. Als Gäste eine arme Familie aus der Kirchengemeinde, sieben Köpfe, die sich satt essen durften und später von den Arztkindern mit Geschenken beglückt werden sollten.

Die Kinder schlangen hastig und stumm. Michaels Frau, die von Besuch zu Besuch an Fülle gewann, lächelte dem misslungenen Bruder überglücklich zu.

»Er ist ein ganz Süßer, unser Onkel Jonathan«, zwitscherte sie und zeichnete Kreuze in die Luft. Jonathans Steißbein juckte, als er eine Zwetschge zwischen den Zähnen zermalmte. Die qualvolle Stunde wollte kein Ende nehmen, da erhob der elfjährige David seine Stimme.

»Was ist eigentlich ein Bleistifttest?«, fragte das Kind und ließ den Blick von einem zum anderen wandern, bis er beim Onkel hängenblieb. Jonathan lehnte sich zurück und unterdrückte das Zittern, das in ihm hochstieg. Bei allem Verständnis für das Interesse dieses hochbegabten, schon so früh an Naturwissenschaften interessierten Knaben – hier stand er kurz davor, gefährliches Terrain zu betreten in dieser urchristlichen Familie, der der gemeinsame Gottesdienst vom Vormittag noch in den Knochen steckte. Warum gerade er? Wo sollte er anfangen? Er suchte Blickkontakt zum Bruder, doch der grinste schadenfroh in sein Kuchenstück.

»Zunächst einmal brauchen wir einen Bleistift«, begann Jonathan zögernd.

Die fünfzehnjährige Tochter Regina räusperte sich. Michaels Frau wälzte ihre im Korbstuhl eingeklemmte Masse herum und versuchte, das Schlimmste zu verhindern.

»Und Möpse«, sagte Regina herausfordernd und ließ ihren Armschmuck klingeln. Momentan trug sie vom Handgelenk bis zum Ellenbogen ihres rechten Armes etwa zehn Kilo indischer Fruchtbarkeitsketten.

Florian, der Älteste, starrte verständnislos vor sich hin. Für diesen Weiberkram hatte er weder Sinn noch Verständnis. Jonathan nickte Michaels Gattin mit einem auffordernden Lächeln zu, als sie den Mund öffnete. Erleichtert stellte er fest, dass er gerade noch die letzte Ausfahrt vor Brooklyn erwischt hatte.

»Man nimmt ihn hochkant und hält ihn sich zwischen die Brüste. Es kommt darauf an, wie weit sie voneinander entfernt sind«, sagte Ursula belehrend. »Man kann also ganz normal große Brüste haben, und der Bleistift fällt trotzdem durch.«

Michaels Finger war jetzt bis zum Anschlag in Jonathans Darm vorgedrungen. Das war noch Hochleistungsmedizin im alten Sinne.

Na gut, er hätte danach nicht dermaßen auftrumpfen müssen, um seinem Bruder zu erläutern, wie es um den Bildungsnotstand der deutschen Hausfrau in Sachen Sexualität stand. Irgendwie hatte sich seine Schwägerin dadurch wohl bloßgestellt gefühlt, und ihre natürliche Autorität als liebende Mutter, Gattin und Helferin in allen Lebensfragen war für lange Zeit dahin gewesen.

Und wer war der Verursacher all dieses Elends?

Jonathan begann sich unruhig auf der harten Streckbank zu bewegen.

Ursulas Erkenntnis über die Gesetze der Schwerkraft hatte sie schließlich im tiefsten Inneren erschüttert. Beinahe ihr ganzes Leben hatte sie den Bleistifttest so vollzogen, wie sie es von ihrer Mutter gelernt hatte. Und diese wieder von ihrer Mutter und so weiter. Seit Generationen hatten die Frauen in ihrer Familie den Bleistift zwischen die Brüste gelegt, und noch jede Frau ihres Geschlechts hatte den Test mit lässigem Stolz bestanden. Und jetzt hatte der widerwärtige Bruder ihres Mannes sie in aller Öffentlichkeit auf eine lebenslange Selbsttäuschung aufmerksam gemacht, die sie tausendmal heimlich hatte aufjubeln lassen. Bei der neuen Testmethode hingegen blieb der Stift stecken, sosehr sie die Arme auch gen Himmel reckte. Die Schutzengel kannten kein Erbarmen. Und Ursula stellte mit Entsetzen fest, dass sie und wohl auch alle ihre weiblichen Vorfahren das besaßen, was man landläufig Hängebrüste nannte.

Und wer war der Verursacher dieser Katastrophe?

Unwillkürlich verkrampfte sich Jonathan. Nie hätte er sich absichtlich über die körperlichen Mängel einer Frau lustig gemacht, vor allem nicht, wenn sie dabei war.

Michaels Finger begann in seiner Körperöffnung zu kreisen.

»Was spürst du? Fühlst du dich erregt?«

»Eher hundemüde.«

»Ich vermute, du bist heterosexuell«, lächelte Michael stochernd. »Halte dich an deine Freundin. Liliane liebt dich und leidet darunter, dass du ihr nicht treu bist.«

»Manchmal kann ich einfach nicht widerstehen«, sagte Jonathan bescheiden.

Michael schleuderte den Handschuh von sich.

»Mach Nägel mit Köpfen, sie ist eine gute Frau, ich kenne sie besser, als du denkst. Gründe eine Familie, mach es wie ich. Es wird dir gefallen. Oder willst du wie unser Vater enden?«

»Ich will auf jedem Fall nicht enden wie du.«

Michael sah ihn kopfschüttelnd an.

»Wie du willst. Du kannst dich wieder anziehen. Der fehlende Spermazufluss als basische Grundkontrolle, die mangelnden Glückshormone …«

Jonathan sammelte seine Kleidungsstücke auf.

Michael schrieb ein Rezept. »Dein Zustand birgt folgende körperliche Gefahren: zu hohe Insulinausschüttungen, zu hohe Blutfettwerte, zu viel Harnsäure, erhöhter Cholesterinspiegel …«

Jonathan zog den Reißverschluss seiner Hose hoch und horchte vorsichtig in seinen Körper hinein.

»Herzinfarkt, Hirnschlag, Amputationen …«

»Ich weiß«, sagte Jonathan, »Schilddrüse, Karies und all das.«

Michael reichte Jonathan das Rezept. »Angesichts deiner Krankheit musst du ab jetzt unter ständiger ärztlicher Kontrolle stehen. Du wirst zweimal wöchentlich von mir untersucht. So lange, bis die Forschung ein Mittel gefunden hat, deinem Elend ein Ende zu bereiten.«

»Und wie lange wird das dauern?«

»Wie lange hat Edison dafür gebraucht, die Glühbirne zu erfinden?«

»Zehn Jahre?«

»Länger. Und warum wollte er sie erfinden?«

»Um mehr Licht ins Dunkel zu bringen?«

»Quatsch! Weil sein Bruder eines Nachts die finstere Kellertreppe hinuntergefallen ist und sich das Genick gebrochen hat.«

Kapitel 5

»Hohl ist der Boden unter den Tyrannen,
die Tage ihrer Herrschaft sind gezählt,
und bald ist ihre Spur nicht mehr zu finden.«

Friedrich von Schiller

Noch immer stand die Karre auf seinem Parkplatz. Jonathan sah sich nach einem Stein um, aber es gab keine Steine mehr in dieser Gegend.

»Herr im Himmel, wo bleibst du denn?«, fauchte ihn Julia, die Empfangsdame an. »Wir sind in der Deadline!«

Jonathans Mund wurde trocken. Deadline? Was wusste dieses oberflächliche Ding von Todeslinien? Ohne einen Blick auf die Kolleginnen hinter ihren Schreibtischen zu werfen, marschierte er auf Großhaupts Büro zu. Wiltraud von Grimm, die Chefsekretärin, musterte Jonathan mit trübem Hundeblick.

»Irgendein verdammter Idiot steht auf meinem Parkplatz«, sagte Jonathan zur Begrüßung.

»Gibt Schlimmeres.« Sie klang wie ein verstimmtes Bar-Piano und sah aus wie eine russische Dreikampfolympionikin aus den 60er Jahren. Wiltraud hob ihre grauen Backsteinbacken und sträubte die inzwischen weiß gewordenen Härchen auf ihrer Oberlippe. Sie hatte schon immer zu enge Hosenanzüge in Altrosa, Senfgelb und Feuchtlila getragen und sprengte dann und wann einen Knopf. Sie war die Einzige im Betrieb, die an ihrem Schreibtisch noch rauchen durfte, und zugleich das göttliche Wesen, das entschied, was für diesen Betrieb gut oder böse war.

Diese Frau wusste Bescheid. Sie hatte sich einst ihren Posten erobert, als sie noch eine Figur wie Ingrid Steeger vorzeigen konnte. Damals, als ihr Chef noch »Moppeltittchen« zu ihr gesagt hatte, wenn sie ihn nach anstrengenden Überstunden vom Überdruck befreite, und er sich vierzehn Jahre lang ihretwegen von seiner Frau scheiden lassen wollte.

Sie rauchte ihr Zigarillo zu Ende und drückte es in einem überfüllten Aschenbecher aus, den sie in den Papierkorb leerte. Anschließend goss sie sicherheitshalber ihren Milchkaffee hinterher, in dem sich ein guter Schuss Wodka befand.

Jonathan stand stumm vor ihr, senkte den Kopf und betrachtete seine Schuhspitzen.

»Warten Sie noch einen Moment, Jonathan«, sagte sie endlich. »Der Chef telefoniert noch.«

Jonathan setzte sich auf den Stuhl vor ihrem Schreibtisch. Wiltraud von Grimm war die einzige Frau in diesem Laden, mit der er nie im Bett gelandet war. Mittlerweile war sie siebzig Jahre alt, bewies den Jüngeren aber täglich ihre Überlegenheit. Sie war sich ihrer Macht bewusst als Sprachrohr, Putzfrauentest und Stützstrumpfträgerin: Nur, was sie liebte, wurde anerkannt.

»Es wird personelle Änderungen bei uns geben, Jonathan, die möglicherweise auch Sie betreffen. Passen Sie auf sich auf«, sagte sie schließlich.

»Ich tue mein Bestes. Aber jeder hat mal einen schlechten Tag.«

»Ach, Jonathan, bitte!« Wiltraud wedelte mit der Hand vor ihrer Nase, als wolle sie einen unangenehmen Geruch verscheuchen. »Ihre sexistischen Orgasmus- und Ejakulationsstorys gelten mittlerweile als überholt. Alte Fürze. Es weht ein neuer Wind. Sie sollten sich vielleicht etwas anderes einfallen lassen.«

Zum zweiten Mal innerhalb von vierundzwanzig Stunden eine schmerzhafte Attacke auf sein Leben. Wollten sie ihn abservieren? Stand ihm sein Makel auf die Stirn geschrieben?

Jonathan starrte zum Fenster hinaus. Es regnete in Strömen. Seit Tagen war der Himmel dunkel und traurig.

»Die neue Keuschheit«, schlug die Chefsekretärin leise vor, »Prüderie, sich aufheben. Das ist der neue Trend.«

»Der Tag ist viel zu schön für solche trüben Gedanken«, sagte er. »Mein Gott, ich liebe diese Jahreszeit.«

»Wir sind im Hochsommer«, entgegnete Wiltraud, »es sollte heiß sein. Was haben wir früher geschwitzt in diesen Räumen. Vierzig Grad ohne Klimaanlage. Der Betriebsrat hatte durchgesetzt, dass wir aus gesundheitlichen Gründen ohne Büstenhalter und Höschen arbeiten durften.«

»Das war vor meiner Zeit! Schade, dass ich das nicht miterleben konnte.«

»Aber es gab keinen leichtfertigen Sex«, stellte Wiltraud klar, »wir haben uns alle zusammengerissen. Es war schwer, aber wir hatten damals noch Respekt voreinander.«

Jonathan verkniff sich jeden Kommentar. Kurz darauf schwenkte Wiltraud ihren Daumen zur Tür der Chefredaktion. »Seine Exzellenz, der seit Jahren nur über die alten Zeiten redet und wie gut es damals war, hat einen neuen Liebling entdeckt.«

Eine Betriebsverjüngung? Gehörte er jetzt schon zum alten Eisen?

»Ihnen wird eine neue Vorgesetzte vor die Nase gesetzt, ob Sie wollen oder nicht. Und sie mag Ihre Sachen nicht. Nicht nur das, sie hat unsere Majestät überzeugt, dass nichts aus Ihrer Feder veröffentlicht werden darf, was ihr nicht gefällt.«

Diese Frauenzeitschrift druckte Woche für Woche Rezepte asiatischer Pilzgerichte und Basteltipps. Wie man seine Babywiege oder den Rollstuhl repariert, Flöte spielen in der Schwangerschaft, Frauenliteratur zum Vorlesen, die auch Männer interessiert. Schinken oder Käse vor oder nach dem Fensterputzen. Schottenröcke oder Jeans. Und er war nun mal der Spezialist für die körperliche Liebe. Du meine Güte, er war der raffinierte Briefkastenonkel für die intimsten Frauenfragen. Seine Leserinnen liebten ihn, er sorgte für Auflage. Mit ihm lagen sie richtig. Mit seinen Ratschlägen war ihr Liebesieben glücklicher als das anderer Frauen. Ohne ihn wären ihre Lustbarkeiten nur halb so schön. Er war zuständig für Sex mit Staubsaugern oder Turnschuhen, exotische erotische Sitten bei den Amazonasindianern und bei Krokodilen. Das hatte er sich im Lauf der Jahre hart erarbeitet.

»Und wer ist sie?«, fragte Jonathan.

»Darf ich Ihnen noch nicht sagen, aber Sie werden sie schon noch kennenlernen.«

Jonathan stand auf.

»Und Finger weg!«

»Kein Interesse!«

»Es ist eine politische Besetzung«, sagte Wiltraud, »ihr Vater und der Chef regeln damit ein uraltes Problem. Was will man da machen?«

Trotz rauchte aus Jonathans Ohren. Vielleicht sollte er seine letzten raren Schüsse auf diesen neuen Feind abfeuern?

»Übrigens, wenn es stimmt, dass Sie nur noch sieben Schüsse haben …«, sagte Wiltraud verschwörerisch.

Jonathan fuhr in die Höhe. »Woher …?«

Sie legte den Zeigefinger an die Lippen, schüttelte den Kopf und lehnte sich zufrieden zurück.

»Kopf hoch, und halten Sie wenigstens die Ohren steif.

Sie werden schon noch merken, welche Bürde von Ihren schmalen Schultern fällt, wenn Sie sich nicht mehr mit Sex herumschlagen müssen. Ich weiß, wovon ich rede. Diese Spielchen habe ich nach sieben Abtreibungen schon vor fünfunddreißig Jahren abgebrochen. Man fühlt sich wie im Himmel.«

»Ihr Wort in Gottes Ohr«, sagte Jonathan leise.

Wiltraud von Grimm beugte sich weit nach vorne. Ihr Schreibtisch ächzte.

»Wenn ich dir einen Tipp geben darf, mein Junge«, raunte sie, griff nach ihm und zog ihn zu sich. »Mach dir eine Liste.«

Das vertrauliche Du, ein wichtiges Thema, oft besprochen in der Redaktion. Nun war er ein Duzfreund der Chefsekretärin, ob er wollte oder nicht.

»Sieben Schuss – sieben Frauen, verstehst du? Du hast nichts zu verschenken«, sagte Wiltraud.

Jonathan schüttelte erst den Kopf, dann nickte er. Wiltraud streichelte seine Hand. Alle seine Härchen stellten sich auf.

»Jeder Mann träumt von seinen Lieblingsfrauen, die er wenigstens einmal im Leben durchvögeln will, oder?«

Jonathan atmete schneller. Er war fasziniert von dieser Idee. Promis, Stars, Adlige, Sportlerinnen, Politikerinnen, Wissenschaftlerinnen, vielleicht sogar Massenmörderinnen? Sie hatte recht. Davon träumte er ohnehin regelmäßig. Jetzt war die Gelegenheit, den Traum in die Praxis umzusetzen.

»Claudia Schiffer«, flüsterte er, »Katarina Witt, Julia Roberts, Heidi Klum, Penelope Cruz?«

»Nicht schlecht«, flüsterte die Chefsekretärin zurück, »aber denk nach, denk an dich! Sind das wirklich deine geheimen Träume?«

»Bundeskanzlerin Angela Merkel?«, flüsterte er errötend.

»Schon besser.«

»Ruth Westheimer, 80, Sexualtherapeutin, mein großes Vorbild.«

»Sehr gut«, lächelte Wiltraud zufrieden. »Ich kann dich bei der Auswahl unterstützen. Wir gehen gemeinsam deine Liste und den Zeitplan durch. Jeder Schuss muss wasserdicht angelegt sein.«

»Danke«, sagte Jonathan aufrichtig, erfreut über diese ungeahnte Zukunftsperspektive.

»Der wegweisende Rat war nicht umsonst«, hauchte die Chefsekretärin vergnügt. »Ein Schuss gehört mir, du kleiner Schlingel.«

Als Jonathan sich auf seinen Warteplatz zurückzog, betrachtete er Wiltraud von Grimm mit ganz neuen Augen. Was bedeutete die leibliche Hülle bei so viel Lebenswillen? Ihm war, als hätte sie ihm neue Kraft eingehaucht.

Kapitel 6

»Es liegt mir nicht, Nummer zwei zu sein!«

Nelson Aldrich Rockefeller

Die Chefsekretärin warf Jonathan einen warnenden Blick zu, denn in diesem Moment wurde die Tür zur Chefredaktion geöffnet, und Jonathan sah eine Frau herausstolzieren, die ungefähr in seinem Alter war. Ihre Gesichtszüge strengten sich an, nicht vor Stolz zu platzen, und das Bemühen, unauffällig, bescheiden und kollegial zu wirken, verursachte merkwürdige Zuckungen um ihren Mund. Das Hüftschwenken und Stolzieren brach ab, als sie mit dem Knie gegen einen Bürostuhl stieß. Sie stöhnte auf und ließ ihre Akten fallen, die sie an die Brust gepresst gehalten hatte. Warum drückten Frauen immer alles an ihre Brust?

Jonathan klaubte den Papierkram auf, und nach einem routinierten Blick unter ihren Rock richtete er sich hastig auf. Unterwäsche aus vollelastischer Baumwolle mit Bauch-weg-Effekt. Die Füße in flachen Schuhen ungewöhnlich groß. Kräftige Waden.

Sie kam ihm seltsam bekannt vor. Aber in seinem Archiv war sie sicher nicht verzeichnet. Aus Jonathans Sicht war sie nicht unbedingt das Ideal für seine erotische Best-of-Liste. Ein Kostüm wie aus dem Otto-Versand, aschblonde Haare, kühle graue Augen unter ungezupften Augenbrauen, blass, Sommersprossen, kein Make-up, keine Sonnenstudio-Bräune, kein Schmuck – ein Fremdkörper in diesem schicken Laden voller aufgeputzter Frauen.

Dazu eine Peter-Maffay-Warze oben am Mundwinkel, haselnussbraun, reif wie zum Abpflücken. Ein paar Kilo zu viel auf den Rippen, ein eingequetschter Busen, Speckröllchen und ein Rock, dessen Bund sicher Spuren auf ihrer Haut hinterließ. Aber doch knackig und gut im Fleisch.

Eine Gänsehaut überlief ihn. Eine Frau wie frisch vom Land. Völlig ungewohnt. Er roch Heu und Milch von der Kuh, und ganz unwillkürlich roch er noch vaginale Säfte darunter. Faszinierend, dass es so etwas noch gab. Mit einem vollen, sinnlichen Mund, einer Oberlippe wie Julia Roberts, einem leichten Überbiss und einer Unterlippe, die leicht nach unten hing und die sie gerade nach vorne schob. Alles ungeschminkt. Nackte Tatsachen. Jonathan begann zu vibrieren. Solche Lippen umschlossen jedes Glied sanft, aber fest. Dass ein großer Mund mit dicken Lippen für die Fellatio geradezu ideal war, konnte sich jeder – egal ob Mann oder Frau – gewiss auch ohne einschlägige Erfahrung leicht vorstellen. Erst vor ein paar Wochen hatte er darüber geschrieben, was die Auflage von Paula leicht gesteigert hatte.

Andererseits war sie die Frau, die man ihm ab jetzt vor die Nase setzen wollte. Sie würde ihm all die Freiheiten nehmen, die er sich in vielen Jahren erkämpft hatte.

»Ich bin Jonathan Kaiser«, sagte er, »schön, dass Sie da sind.«

Sie musterte ihn verächtlich. Lügen haben kurze Beine.

»Lea Liebermann«, sagte sie. »Ich denke, wir sehen uns noch.«

Und dann verschwand sie wie ein Wesen aus einer anderen Welt. Die Chefsekretärin sah Jonathan an und hob die Schultern.

Die Redakteurin für Kochen, Magersucht, Fettleibigkeit und Diäten hielt Lea Liebermann vor dem Chefsekretariat auf und schüttelte ihr die Hand.

»Ich bin Olivia Faust«, strahlte sie. »Sie sind neu hier? Willkommen in unserer hübschen kleinen Familie.«

»Irgendein Blödmann hat mir ein Zorro-Zett aufs Auto gekratzt«, sagte Lea finster. »Wenn ich rauskriege, wer das war, schneide ich ihm die Eier mit einem stumpfen Messer ab.«

»Wie wäre es mit einem Sparschäler?«, riet Olivia. Das war ihr Gebiet.

Sie strahlten sich verständnisinnig an.

»Ich bin Lea«, sagte die Neue vergnügt. »Kann ich hier irgendwo einen Kaffee kriegen?«

»Aber ja. Bei uns gibt es den besten Kaffee auf der Welt. Dafür bin ich zuständig.«

»Was für ein Glück, dass wir uns getroffen haben. Ich bin mir sicher, dass es mir hier gefallen wird.«

***

Jonathan blickte den beiden hinterher. Er, der Hahn im Revier, sah sich mit einem Problem konfrontiert, das er noch vor kurzem leicht geknackt hätte. Jonathan, der schon im Kindergarten sein Praktikum als Frauenarzt absolviert hatte. Der heranwachsende Jonathan, der seinen älteren Bruder wie eine strenge Mutter versorgt hatte. Der Gymnasiast Jonathan, der bei dem Versuch scheiterte, seine Biologielehrerin zu entführen. Der Student Jonathan, die Inkarnation Dr. Grzimeks, dessen Doktorarbeit über den Geschlechtstrieb der Hängebauchschweinchen abgelehnt wurde. Der Staatsbürger Jonathan, der nur Frauen wählte, deren Brüste ihm gefielen, weil er der Ansicht war, dass die Welt so besser regiert würde. Der philosophische Jonathan, der Hegel, Marx und Kant nach geilen Stellen durchblätterte. Der Feinschmecker Jonathan, der mit der längsten Praline der Welt und Mann-ist-der-dick-Mann liebäugelte. Und schließlich der Single Jonathan Kaiser, erfolgreicher Frauenheld, der garantiert nichts anbrennen ließ, ein Mann, dem die Frauen zu Füßen lagen, weil er etwas hatte, was andere Männer nicht hatten: Er war ein Held der Orgasmusfindung. Nicht nur bei sich. Stolz darauf, noch jede Frau auf seine sensible Art zum glücklichen Höhepunkt geführt zu haben. Einer, der sie sammelte wie schöne Schmetterlinge, ohne sich an sie binden zu wollen. Sammeln, ordnen, sichten, eine keusche deutsche Tugend, die ihm Erfüllung brachte.

Jonathan wurde klar, dass das Leben, wie er es kannte, vorüber war. Und sein neues würde ihn vor ungeahnte Probleme stellen, gegen die es sich zu wappnen galt. Also musste er als Erstes die ultimative Liste der sieben Frauen erstellen, die er noch beglücken wollte. Jeanette Biedermann, Heidi Klum, Nena, Anne-Sophie Mutter, Katja Flint, Anne Will, Christine Neubauer, Anke Engelke und nicht zuletzt Charlotte Roche. Schwer zu entscheiden, in welcher Reihenfolge, und in jedem Falle aufwendig, an sie heranzukommen. Lady Chatterley und Madame Bovary waren ja nicht mehr unter ihnen. Blieb eine, mit der er in die große Runde einsteigen konnte, zum Üben sozusagen.

»Lea Liebermann«, schrieb er auf seinen Notizblock und unterstrich den Namen.

Kapitel 7

»Macht ist die einzige Lust,
derer man nicht müde wird.«

Oscar Wilde

»Jetzt!«

Jonathan folgte dem Wink der Chefsekretärin und betrat das Büro seines langjährigen Vorgesetzten, der ihm in diesem Moment den Rücken zudrehte, weil er aus dem Fenster sah. Jonathan stellte sich neben ihn. Die Aussicht aus dem Chefbüro ging auf einen Swingerclub. Oder war es doch eine Weight-Watchers-Filiale? Egal. Eine Reihe teurer Autos parkte davor.

»Schöne Aussicht«, stellte Jonathan fest.

»Die Finanzkrise zieht ihre Kreise«, stellte Großhaupt fest. »Da war früher mehr los. Überall Flaute, keine Nachfrage mehr seitens der Verbraucher. Der Mittelstand geht in die Binsen, Arbeitsplätze fallen weg. Wir hängen alle am Tropf der Banken.«

»Sind wir gerüstet?«, fragte Jonathan voller Sorge. »Ich meine, es geht mich ja nichts an, aber hat unser Verlag eine sichere Finanzdecke?«

»Die Zeiten sind schwerer als früher.«

Ja, früher. Früher war für jeden alles besser. Auch Jonathan konnte ein Liedchen davon singen. Für die einen sackten die faulen Gelder in den Keller, ihm ging der Lebenssaft zur Neige.

Der Herausgeber, Geschäftsführer und Chefredakteur in Personalunion platzierte sich in seiner ganzen Breite hinter seinem Schreibtisch. Wie seine Chefsekretärin hatte er in seiner Zeit beim Frauenmagazin zwanzig Kilo zugenommen. Seine Haare hingegen waren weniger und grau geworden, immerhin baumelte hinten ein dezentes Lagerfeld-Schwänzchen. Sein Markenzeichen waren Kappen aller Art, die er nie abnahm. Er besaß über dreihundert solcher Kopfbedeckungen, die er täglich wechselte, um seinen Mitarbeitern ohne viele Worte klarzulegen, wie es um ihn und um die Welt stand. Heute hatte er eine schwarze Baseballkappe auf, die er mit dem Schild nach hinten trug.

»Wir müssen miteinander reden«, sagte er, »als alte Freunde.«

Jonathan nahm eine Tasse lauwarmen Pulverkaffee aus der Thermoskanne. Sparmaßnahme.

»Es tut mir leid für Sie, Jonathan«, sagte Großhaupt. »Wie viele Schüsse haben Sie gleich noch mal?«

Jonathan starrte ihn entsetzt an.

»Es spricht sich eben herum. Gehört sozusagen zu meinem Beruf. Man hat so seine Quellen«, sagte sein Chef. »Ich weiß über alles Bescheid. Schließlich bin ich Journalist.« Großhaupt blinzelte kumpelhaft. »Nicht dass ich mich einmischen will … Wie viele Schüsse?«

»Genau sieben«, sagte Jonathan. »Noch.«

»Sieben ist eine gute Zahl. Die sieben Zwerge, die sieben Gebote …«

»Zehn«, verbesserte Jonathan.

»Alles klar, zehn. Da müssen Sie wohl abstinent bleiben, oder? Ich könnte das nicht durchstehen. Ich kann nicht einmal mein Gewicht halten. Wissen Sie, dass ich genau zehn Kilo zu viel wiege? Ist das nicht witzig? Da haben wir ja etwas gemeinsam.«

»Sieben. Es sind sieben!«

»Ich liebe Ihre Präzision.«

Jonathan bemerkte, dass Großhaupts Trauermienenspiel verflog, und fragte sich, ob das nun ein gutes oder schlechtes Zeichen war.

»Bis vor ein paar Jahren habe ich keinen mehr hochgebracht, aber jetzt kann ich immer«, sagte sein Chef. »Dreimal hintereinander. Gar kein Problem. Die Frauen können das jederzeit bestätigen.«

»Nicht nötig«, sagte Jonathan, »ich glaube Ihnen auch so.«

»Und das ohne Viagra. Alles reine Nervensache.«

»Ich beneide Sie.«

»Ich werde Ihnen das Geheimnis verraten.«

Großhaupt lächelte ihm wohlwollend zu und begann damit, seine heroischen Leistungen im Bett ausführlich aufzuzählen, darunter war auch ein Vierstundenritt, bei dem er »drei Stuten gleichzeitig gezähmt und befriedigt« hatte. Zahllose Dankesschreiben könne er zeigen. Disziplin, Zärtlichkeit, Know-how und Bestimmtheit führten zum Ziel. Wichtig war mindestens in der Woche zwier, wie Luther schon sagte, besser mehr. Großhaupt empfand eine gewisse vornehme Genugtuung über seine Leistung.

Jonathan wartete auf das versprochene Geheimnis, während sein Chef mit seinen Erläuterungen fortfuhr, wie man zwischen den allseits befriedigenden Nummern erholsame Nickerchen einschieben sollte, frische Luft schnappen, heiße Bäder nehmen, Burger essen, Ärger, Stress und Trübsal wegblasen, Dampf ablassen und Lebensglück säen sollte, um schnell wieder bereit zu sein.

»Wenn ich Ihnen da ein paar ganz spezielle Tipps geben darf?«

Jonathan spitzte die Ohren. »Aber immer.«

Der Chefredakteur zog eine Schreibtischschublade auf und wühlte darin herum.

»Früher nahm man zur Aufmöbelung der Manneskraft Extrakte aus Stechapfel, Bilsenkraut, Alraune oder aus einem Gebräu, in dem zerstoßene Stierhoden, Katzenhirn, Menstruationsblut und allerlei Pilze verrührt wurden.«

Er stellte eine Reihe kleiner Dosen und Fläschchen vor sich auf. Pulver aus Rhinozeroshörnern und Yohimbin aus der Rinde eines afrikanischen Baumes. Dazu Spargel- und Austernextrakt und so weiter.

»Marquis de Sade bediente sich der Spanischen Fliegen. Filmstar Errol Flynn, der angeblich 13 000 Frauen beglückte, bestäubte sein Glied mit Kokain.«

Jonathan winkte ab.

»Am besten ist es natürlich, wenn Sie Ihr Geschlechtsteil die nächsten vier Wochen dreimal täglich eine halbe Stunde lang in Klosterfrau Melissengeist tauchen«, verriet Großhaupt. »Ich habe eine Mischung mit einem Toilettenreiniger angesetzt. Brennt wie verrückt, aber es härtet ab und ist gesund.«

Er reichte Jonathan eine kleine Flasche. Offensichtlich hatte der egomanische Chef sein Problem nicht so richtig verstanden.

»Wir könnten eine Titelgeschichte draus machen. Eine Serie – sieben Schüsse, sieben Folgen«, schlug Großhaupt vor. »Die Auflage würde sich verdoppeln.«

Jonathan schüttelte den Kopf. Hunderttausende von Frauen würden ihn bemitleiden und verachten. Für zwei Euro pro Heft.

»Ein Vollblutjournalist wie Sie müsste da sofort in den Startlöchern stehen.«

Jonathan blieb stumm.

»Dann ein Buch. Das könnte ein internationaler Bestseller werden«, lockte Großhaupt.

»Vielleicht in dreißig Jahren«, murmelte Jonathan.

Großhaupt stöhnte. »Das Eisen schmieden, solange es heiß ist! Vielleicht sollten Sie sich zwei Tage freinehmen?«

Sie sahen sich eine lange Weile schweigend an.

»Sie könnten in den Vorruhestand treten«, sagte Großhaupt schließlich.

»Was?« Jonathan zuckte zusammen.

»Frührente.«

»Ich bin fünfunddreißig.«

»Sie sind neununddreißig.«

Wollten sie ihn jetzt schon loswerden? War das eine erste Vorwarnung für eine fristlose Entlassung?

»Wir werden auf jeden Fall Freunde bleiben«, sagte der Chefredakteur und erhob sich mit einem schweren Seufzer. Er drehte seine Kappe um. »Satans Sohn« stand da über dem verblichenen Schild.

Kapitel 8

»Die Selbstsucht ist die Wurzel aller Verderbtheit.«

Johann Gottlieb Fichte

Am zweiten Abend nach der schrecklichen Nachricht spürte Jonathan seine neue Körperlichkeit wie ein Science-Fiction-Held, den man soeben darüber aufgeklärt hatte, dass er noch nie ein richtiger Mensch gewesen war, sondern ein Roboter. Er fürchtete sich vor dem Treffen mit Liliane, ging ins Bad und wühlte in den vielen Schachteln mit Tabletten, die ihm sein Bruder verschrieben hatte. Er schluckte genau vierzehn Stück und spülte sie mit einem Piccolo hinunter, pisste im Sitzen neben die Kloschüssel und duschte eilig.

Sein Telefon klingelte.

»Bist du so weit? Ich habe eine Riesenüberraschung für dich«, verkündete Liliane.

»Ich will ehrlich zu dir sein«, sagte Jonathan bedächtig. »Ich habe heute nicht so richtig Lust.«

»Ach, komm schon!«

»Mir geht’s nicht gut, ich gehe früh ins Bett.«

»Ich sorge dafür, dass es dir bessergeht«, versprach Liliane, »wir reden, wenn du gekommen bist.«

Jonathan wusste, dass Liliane nicht besonders scharfsinnig war, wenn es um das Gefühlsleben der Männer ging. Liliane, Kettenraucherin, als Alkoholikerin und heimliche Lesbierin verdächtigt – bissig, launisch, extravagant, provokant, schräg, witzig, aber ehrlich, selbständig, vernünftig, egomanisch.

»Ich hab’s dir doch gesagt, Liliane, ich bleibe zu Hause.«

»Tu mir das nicht an!«

Liliane, die unter schwersten Orgasmusschwierigkeiten litt, und keiner außer Jonathan kannte ihr Geheimnis. Abgesehen natürlich von seinen ganzen Vorgängern, die sich an ihr die Zähne ausgebissen hatten. Jonathan war es, der sie fachkundig und feinfühlig aus ihrem Dornröschentraum erweckt hatte. Inzwischen hatte sich das Dornröschen in eine Löwin verwandelt.

»Du hörst mir nicht zu«, sagte Jonathan kurz angebunden. »Ich bin total erledigt. Ich hatte einen Scheißtag, und jetzt tschüs, meine Liebe, bis auf ein andermal.«

»Fick dich«, hörte er Liliane noch, dann war die Leitung tot. Er sank auf seine Couch und spürte, wie in seinem Inneren die Tabletten zu wirken begannen.

In seinem Kopf pochte es anders als in seinem Herzen, seinem Bauch und vor allem in seinem …

»O mein Gott!«

Er fühlte seinen unregelmäßigen Puls und suchte nach einem Fieberthermometer.

Das Telefon.

»Bist du es, Liliane?«

»Gibt’s was Neues, Junge?«, vernahm er die Stimme seines Bruders.

»Nein, Michael.«

»Wie hältst du dich?«

»An manchen Tagen besser als an anderen«, antwortete Jonathan kummervoll.

»Gib die Hoffnung noch nicht auf.«

»Ich fühle mich körperlich etwas durcheinander.«

»Denk positiv«, riet Michael.

»Ich habe alle deine Tabletten eingenommen.«

»Brav. Hast du jemals die Schwarzwaldklinik gesehen?«

Jonathan saugte an seiner Unterlippe. Seit seinem Teenageralter war die Beziehung zwischen ihm und seinem Vater zwiespältig, und das nicht so sehr wegen dessen Unart, das alte Familienunternehmen zu verjubeln. Seinem Vater dämmerte damals, dass es seinem Sohn nicht gelang, anders zu werden als er selbst. Sprunghaftigkeit samt periodischer Weinerlichkeit, mangelhaftes Verantwortungsbewusstsein und eine tiefverwurzelte Neigung, faul und unehrlich zu sein.

Als sich sein Bruder Michael schon in frühen Jahren vom Saulus zum Paulus wandelte und als vorbildhafter Arzt, Gatte und Vater im Kirchenchor seiner Kirchengemeinde zu singen begann, übernahm er die erzieherische Verantwortung für Jonathan. Und als Erstes versuchte er ihm seinen reflexartigen Hang zur Selbstbefriedigung auszutreiben. Jonathan dachte nicht daran, sich mit Belehrungen des älteren Bruders auch nur zu befassen, und setzte ihn davon in Kenntnis, dass er keine Lust hatte, sich von einem Mann, der sich gegen die Empfängnisverhütung stellte, hinsichtlich seines Lebenslaufs bekehren zu lassen. Nachdem er nach Jahren der Irrungen und Wirrungen seine Berufung als Festangestellter bei einer Frauenillustrierten gefunden hatte, entschuldigte sich sein Vater unter Tränen, je an ihm gezweifelt zu haben, und Jonathan verzieh ihm. Der Bruder allerdings misstraute ihm noch immer und blieb hartnäckig.

»Wunder gibt es immer wieder«, sagte Michael jetzt in seinem priesterlichen Singsang. »Meine Frau und die Kinder beten jeden Abend für dich.«

»Deine Kinder kannst du dir sonst wohin stecken.« Er knallte den Hörer auf die Gabel.

»Blöder Hund«, knurrte er. Das Telefon klingelte nach wenigen Sekunden erneut.

»Ist schon gut«, versicherte ihm Michael. »Wir verstehen das doch. Du stehst sehr unter Stress.«

»Du machst dir gar keinen Begriff.«

»Ich habe eine geniale Idee, wie ich dir helfen kann.«

»Ich danke dir, Michael. Mach’s gut.«

***

Jonathan starrte hungrig in seinen leeren Kühlschrank. Der Verzicht auf Sex weckte offenbar ähnliche Ersatzgelüste wie der Versuch, mit dem Rauchen aufzuhören. Wahrscheinlich würde er auch bald ähnlich fett. Er wühlte in seinem Vorratsschrank und fand eine Dose Hering in Senfsoße, die er lüstern im Stehen verschlang. Es war beinahe wie Sex. Er griff nach einer Dose Katzenfutter, als es an der Tür klingelte. Nicht einmal, sondern in einem Morsecode, den er nicht entziffern konnte.

»Alles halb so schlimm«, sagte Michael, als Jonathan ihm die Tür öffnete, »alles nur eine Frage des Umgangs.« Er schwenkte eine Schachtel, ging an ihm vorbei und ließ sich im Wohnzimmer auf einem Sessel nieder.

»Hast du ein paar Minuten Zeit?«

»Ich habe eine Verabredung«, sagte Jonathan, ohne sich zu setzen, »die kann ich nicht mehr absagen.«

Michael klopfte ein Kissen zurecht.

»Geh mit ihr schön essen, gib ihr einen Abschiedskuss und leg dich endlich mal allein in dein Bett.« Schwang da nicht so etwas wie Neid oder Eifersucht in der Stimme des Bruders?

»Es ist Liliane.«

»Das ist gut«, sagte Michael. »Liliane und du, ihr beide seid füreinander bestimmt.«

Jonathan sah ihn misstrauisch an.

»Ich weiß, wie es um euch steht.«

Liliane war seit über drei Monaten Jonathans Hauptdauergeliebte. Eine der längsten Beziehungen, die er je gehabt hatte, vielleicht weil sie sich nicht beschwerte, wenn er mit anderen Frauen ins Bett ging, oder wenigstens so tat, als würde es ihr nichts ausmachen. Sicher weil sie für Jonathan wie eine dominante Mutter war – oder eine mütterliche Domina –, die ihn pflegte, versorgte und sich um ihn kümmerte. Zu viel mittlerweile, wie er jetzt missmutig feststellte. Dabei bevorzugte Jonathan sonst Kindfrauen, die er als ambitionierter Pädagoge pflichtbewusst und dabei leidenschaftlich gerne in die Geheimnisse seines Kunsthandwerks einwies. Jonathan suchte gerne den sicheren Schutz Lilianes und ließ dabei die Seele baumeln, während sie ihm mit Fesselspielen einen dreifachen Orgasmus bescherte. Sie war genau wie er, stoppte seine Ejakulationszeit und verglich sie in Tabellen mit ihren Spasmen.

»Lass dir Zeit«, sagte Michael in das gemeinsame Schweigen hinein, »setz dich zu mir. Gehe es langsam an.«

Er nahm vorsichtig auf der Couchkante Platz. Bettkantengespräche dieser Art mit seinem Bruder konnte er nicht ausstehen. Von zehn Ratschlägen waren ihm neun zuwider, und den zehnten kannte er schon.

»Ich weiß, dass du jemanden brauchst, der dir in deiner Situation Rat gibt.«

»Du kennst Liliane nicht«, murrte Jonathan.

»Ein wenig schon«, lächelte Michael, »und du weißt ja, dass ich ein großer Menschenkenner bin. Ihr habt so viel gemeinsam.«

Ja sicher, auch abgesehen vom Sex verfügten Jonathan und Liliane über viele Gemeinsamkeiten: Sie bumsten zu Ravels Bolero, teilten die gleichen Ideale und hegten dieselbe Verachtung gegen alles, was ihnen fremd war: Rassismus, Frauenfeindlichkeit, Kinderarbeit. Man konnte also ohne Übertreibung sagen, sie waren wie aus demselben Holz geschnitzt. Allerdings war Liliane eine momentan arbeitslose Psychotherapeutin, die sich als schlechtbezahlte Beraterin für die neue Vox-Serie Abenteuer Liebe – Die ultimative Partnerrettung herumschlug. Und Jonathan hatte das Gefühl, dass sie ihn zu sehr an sich binden wollte.

»Liliane ist ungeheuer vielseitig«, erklärte Michael seinem Bruder und schnüffelte mit angeekelter Miene an einem hauchzarten Slip, den er zwischen Polsterteilen des Sessels hervorgezerrt hatte. »Aber auch sehr sensibel. Ich an deiner Stelle würde sie anrufen und euer Treffen verschieben.«

»Wegen Migräne?«

»Grippe«, schlug Michael vor. »Verdacht auf Magen-Darm-Grippe. Ansteckungsgefahr. Eine kleine Auszeit wird dir guttun. Kommt Zeit, kommt Rat.«

»Liliane kann ich so nicht abservieren. Nicht mit sieben Schuss«, sagte Jonathan tonlos. Er nahm Michael den Slip aus der Hand und schnüffelte selber daran. Von wem war der nur?

»Sie braucht Sex«, erläuterte er. »Körpersäfte sind ihr Ein und Alles.«

»Wirst du ihr gestehen, wie es um dich steht?«

»Was würdest du tun?«

»Ich würde es ihr erst später sagen, nicht gleich jetzt.«

Jonathan ging in sich, soweit er nur konnte, und verspürte unangenehm seine allererste Phase der Entsagung. Sollte er auf die Knie fallen, sein Haar zerwühlen? Vielleicht konnte er tatsächlich ein Buch schreiben, wenn sich das alles gesetzt hatte. Eine Abrechnung mit der billigen Welt. Zahllose feinsinnig erzählte Episoden über sein sensibles Verhältnis zu Frauen.

Michael weckte Jonathan aus seiner verdrossenen Kreativität, während er die Schachtel öffnete, die er mitgebracht hatte.

»Hör mir zu. In deiner Lage musst du wissen, wie man einen Orgasmus vortäuscht.«

»Als Mann?« Jonathan schüttelte den Kopf. »Wie stellst du dir das vor?«

»Ich hab da etwas für Fälle wie dich vorbereitet.«

Er zeigte Jonathan eine kleine durchsichtige Ampulle, gefüllt mit weißlich sämiger Flüssigkeit.

Jonathan erinnerte sich. Schon als sie klein gewesen waren, hatte sich der ältere Bruder Hunderte von Stunden mit seinem »kleinen Elektromann« beschäftigt und mittels Batterien und Drähten nicht nur Lämpchen und Klingeln zum Leben erweckt, sondern auch seinen weißen Mäusen Stromschläge verpasst. Er hatte mit seinem Chemiebaukasten wie Jung-Frankenstein die Hauskatze enthaart, während Jonathan selber durch Museen geschlichen war, um die Brüste marmorner Statuen ohne Arme zu studieren.

»Ist das Sperma?«, fragte Jonathan unsicher.

»Kein richtiges, aber besser als nichts«, sagte sein Bruder. »Es ist ganz einfach. Wenn es so weit ist, drückst du hier hinten auf die Ampulle.«

Michael drückte zu. Aus der Spitze der Ampulle spritzte milchiger Saft.

»Sie spürt etwas Klebriges und weiß, dass du gekommen bist.«

»Und ich?«

»Du hältst dich zurück. Du schlüpfst unter die Zudecke, machst das Schlafzimmerlicht aus, dann einmal rein und einmal raus …«

»Ich bin ein sehr oral geprägter Mensch.« Jonathan schwenkte eine der Ampullen vor seinem Gesicht hin und her. »Wenn du verstehst, was ich meine.«

»Du musst ihr klarmachen«, fuhr der Bruder fort, »dass du deine Sexgewohnheiten ändern möchtest. Mach sie ihr als neue interessante Varianten schmackhaft. Du musst sie dazu bringen, mit dir zu schlafen, ohne dass du dich ausziehst. Und sieh immer zu, dass es dunkel ist. Lass dir was einfallen. Ich rate dir, bring es a tergo hinter dich.«

»Ich weiß nicht«, jammerte Jonathan, »das ist so gar nicht meine Art. Das sieht nicht gut aus. Das hemmt irgendwie …«

Michael führte den Mechanismus noch einmal vor. »Hast du alles verstanden?«

Jonathan nickte stumm und zählte die Ampullen.

»Es ist eine Zwanzigerpackung«, klärte ihn der Bruder auf. »Ich gebe sie dir umsonst. Wenn du sie verbraucht hast, wende dich vertrauensvoll an mich. Du bist ja in einer guten Kasse. Das kriegen wir schon hin.«

Michael sprang auf und ging zur Tür.

»Ehrlich gesagt«, rief er Jonathan zu, »ich glaube auch nicht wirklich, dass es funktioniert, aber ich drück dir die Daumen. Halt die Ohren steif. Ich habe einen Patienten, der sehr gut damit leben kann. Es ist besser als gar nichts.«

Jonathan schloss die Tür hinter ihm.

»Und du musst die Ampulle anwärmen«, hörte er Michaels Stimme aus dem Treppenhaus.

Die Schachtel mit dem falschen Sperma in der Hand, setzte sich Jonathan einsam auf seine Couch und saugte an dem Slip. Plötzlich fiel ihm ein, wer ihn hier vor vielen Jahren vergessen hatte. Es war das Höschen der Frau seines Chefs, verloren damals, als sie noch nicht unter den schweren Gallenkoliken gelitten hatte. Als Single räumte man ja nie so gut auf.

Michaels Medikamente flössen durch seine Adern – und in seiner Unterhose erwachte mit leisem Zittern die Mutter aller Erektionen: Die Schlange, die Adam und Eva dazu verführt hatte, am Apfel zu naschen. Jonathan untersuchte beunruhigt die Pillenmischung seines Bruders und stellte fest, dass er neben Aufputschern und Beruhigern zwei blaue Pillen namens Viagra eingenommen hatte.

»Du Schwein«, sagte er und las den Waschzettel: Wirkung innerhalb 30-60 Minuten, bis zu ca. 4 Stunden. Dosierungen: 25, 50 und 100 mg, Standard 50 mg.

Zweihundert Gramm vergifteten sein Blut.

Es wurden bereits Fälle von nicht-arteriitischer anteriorer Optikusneuropathie beobachtet. Dies führt in seltenen Fällen zu Einbußen der Sehfähigkeit oder zur Erblindung, las er weiter. Ob es ein Gegenmittel dafür gab?

Er rief seinen Bruder an, während sich die Dinge um ihn herum in blaue Schleier hüllten.

Niemand hob ab, nur der Anrufbeantworter. Michaels sonore Stimme, die jeder Hysterie vorzubeugen versuchte.

»Bist du wahnsinnig geworden, du Idiot?«, schrie Jonathan. »Wieso verschreibst du mir Viagra?«

Verzweifelt stieg er unter die Dusche und brauste sich zehn Minuten eiskalt ab. Erbarmungslos stand sein Geschlechtsteil wie eine Eins. Noch nie hatte er sich Potenzverstärker eingeworfen, stolz darauf, seine männlichen Gaben stets aus eigenen natürlichen Kräften abzusondern. Nun hatte er das Gefühl, zu platzen. Alles in ihm schrie danach, von diesem Zustand befreit zu werden. Eine Selbstreinigung.

Vielleicht floss das erregende Gift mit seinem Sperma ab? Auch wenn es dann nur noch sechs Schüsse waren, die ihm blieben.

Er holte sein Adressbuch hervor und blätterte verzweifelt: Charlotte, Franziska, Friederike, Isabelle, Julia, Olivia, Regina, Vera … Alle mit seinem Geheimzeichen als willige Kollegin markiert. Aber während sein Penis tickte wie eine Eieruhr, stellte er fest, dass die alten Gespielinnen für solche Notfälle nicht mehr in Frage kamen. Es blieb nur Liliane.

Sie meldete sich schon nach dem zweiten Piepton.

»Verzeih mir«, sagte Jonathan. »Ich will mich mit dir treffen, wenn du mich noch haben willst.«

»Ruf mich am Wochenende wieder an«, erwiderte Liliane, »ich bin nicht dein Spielzeugpüppchen.«

Liebesentzug war ihre Spezialität.

»Ach, komm schon«, drängte Jonathan, »wir vermissen dich!«

Sein Schwanz stimmte zu. Während Jonathan ihn in seine Hose zwängte, konzentrierte er sich darauf, sämtliche Kontonummern und Passwörter aufzuzählen, um ihn zu beruhigen. Er griff nach der Sperma-Ampulle und versteckte sie in seinem Sonnenbrillenetui.

Kapitel 9

»Harmlos flog manch Wörtlein aus,
böse ist es angekommen.
Sagst Du etwas gradheraus,
wird’s gewöhnlich krummgenommen.«

Sprichwort

»Wir treffen uns also in der St.-Kilian-Kirche«, sagte Liliane in ihr Handy.

Jonathan seufzte auf. »Es ist so kalt draußen.«

»Ausgemacht ist ausgemacht«, sagte Liliane. »Es war deine Idee, Liebling.«

»Können wir nicht ins Heizkraftwerk fahren?«

»Nur ein Quickie, alter Mann, und vergiss deine Kamera nicht.«

Sex im Beichtstuhl? Sicher war das ursprünglich seine Idee gewesen, aber die Zeiten hatten sich nun einmal schlagartig geändert.

»Also bis gleich«, sagte Liliane forsch und legte auf.

Jonathan fröstelte. Lilianes Stimme war dünn und hoch. Minnie Maus.

Bei seiner Ankunft waren die Tore der St.-Kilian-Kirche geschlossen, und Liliane stand davor.

»Ich warte schon seit zehn Minuten«, sagte sie säuerlich.

Jonathan tastete nach seinem Brillenetui. Vielleicht sollte er ihr auf der Stelle gestehen, was mit ihm passiert war? Zu spät. Sie griff zwischen seine Beine.

»O, là, là«, stieß sie hervor, »das ist doch nicht normal.«

Wesentliche Voraussetzungen für ein Gespräch über sexuelle Probleme sind Sachkenntnis, Klarheit über die persönlichen Bedürfnisse und die Überzeugung, dass eine Lösung möglich ist – wie oft hatte Jonathan das schon in seiner Sexkolumne geschrieben.

»Ich muss mit dir reden«, sagte er jetzt hilflos.

»Ich beschwere mich doch gar nicht!« Liliane, dünnes spitzbusiges Nordgewächs mit Hüftknochen wie Pflugscharen, äußerlich kühle Schönheit, Glaskinn, schmale blasse Lippen. Psychologin auf dem zweiten Bildungsweg, immer im Job. Kaltblütig wie ein Fisch und sofort geistesabwesend beim Sex, wenn es nicht nach ihrem Geschmack ging.

»Es ist nur so: Ich hab ihn nicht dermaßen stark in Erinnerung.«

Jonathan spürte erste leichte Nebenwirkungen: Magenbeschwerden, Rücken-, Kopf- und Muskelschmerzen. Seine Nase trocknete aus und verstopfte. Sein Glied fühlte sich leicht pelzig an.

Werden Sie sich über den Stellenwert der Sexualität in Ihrem Leben und in der Beziehung zu Ihrem Partner klar. Wie wichtig ist Ihnen die Sexualität? Ja, das musste klargestellt werden.

Liliane knetete seinen Pimmel durch die Hose.

»Wir müssen mehr miteinander sprechen«, sagte er. »Miteinander reden ist wichtig. Was ist uns in der Sexualität wichtig, welche Erwartungen, Wünsche und Bedürfnisse haben wir?«

»Halt die Klappe, Schatz.«

Sie öffnete ihren Mantel. Darunter war sie nackter als nackt. Und er hatte einen Weltklasseständer, der sich inzwischen beinahe taub anfühlte.

»Ist für uns der Geschlechtsverkehr unverzichtbarer Bestandteil der Sexualität, oder können wir auch ganz oder zumindest teilweise mit Spielarten der Sexualität leben, die keine Erektion voraussetzen?«, flüsterte Jonathan ihr ins Ohr.

»Herrgott, was haben wir denn da?«, rief Liliane, während sie an seinem Reißverschluss herumriss. Jonathan berührte den heiligen Behälter, in dem seine Spermaspritze untergebracht war.

»Kannst du dir vorstellen, mit mir neue Wege innerhalb der Sexualität auszuprobieren?«

»Was meinst du, was wir gerade tun?«

Jonathans Puls erhöhte sich. Ein immer schrilleres Pfeifen in seinen Ohren. »Lass uns zu mir fahren«, bat er. »Gehen wir miteinander ins Bett. Lass uns kuscheln und plaudern.«

Liliane musterte ihn wie einen Perversen.

»Willst du mich verarschen?«

Jonathan hob beide Hände und ergab sich.

Wie viele andere Frauen war auch Liliane ihm zunächst mit einer gewissen Zurückhaltung begegnet, als sie sich kennenlernten. Ihre Züge verrieten wenig Sinnlichkeit, und sie hatte, wie Jonathan in seinem Archiv dokumentiert hatte, eine extrem stoppelige Behaarung über schmalen, hoch angesetzten Schamlippen, die dem Partner wenig Freude versprachen. Das war natürlich eine irrtümliche Annahme gewesen und hatte sich als bisher heftigste Fehleinschätzung seines Lebens erwiesen. Sie war unersättlich und dauernd auf sexuelle Experimente aus. Küche, Keller, Fahrstuhl, U-Bahn, Parkplatz, Restaurant, Friedhof, Kuhstall. Nun stand sie eben auf Kirchen. Und er hatte sie drei Monate lang begehrt.

»Wir suchen eine andere Kirche«, besänftigte er sie. »Aber lassen wir es nicht zu, dass wichtige Gespräche auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verschoben werden.«

»Reden ist Silber, Sex ist Gold«, gurrte Liliane.

Nach langem Herumirren fanden sie endlich ein Gotteshaus, das nicht abgesperrt war. Jonathan kannte es von seinem Bruder, der ihn regelmäßig dazu zwang, zusammen mit ihm und seiner Familie am Sonntag die Hochmesse zu besuchen, in der er im Kirchenchor als wohltönender Bariton brillierte. Sie zogen die schwere Tür auf, atmeten den heiligen Geruch von Weihrauch und Schimmel ein, tasteten sich die knarrenden Stufen hoch auf die Empore und setzten sich nebeneinander auf die Bank vor der Orgel. Liliane atmete schneller, als sie den Knopf für das elektrische Gebläse zog, ihre Hände über die Manuale legte und mit ihren Fußspitzen die Pedale berührte. Zaghaft spielte sie den Anfang der Pastorale. Das trübe Oberlicht legte sich in schrägen vergitterten Strahlen über sie. Jetzt teilten sie ein Geheimnis. Jonathan fand sie nervtötend attraktiv und erstickte beinahe an ihrem Duft. Ihr Mantel öffnete sich, die Reizwäsche darunter war in päpstlichem Purpur gehalten. Die Muskeln ihrer Oberschenkel bewegten sich.

Nein, jetzt ist nicht die Zeit für Bedenken, dachte Jonathan. Diese grandiosen Momente, in denen sich Geilheit mit tiefer Religiosität paarte, waren einzigartig.

Liliane schwang sich herum, setzte sich auf die Klaviaturen und klemmte sich Jonathan zwischen die gespreizten Schenkel. Die Orgelpfeifen gaben dröhnende Laute von sich, während die beiden an die verschiedenen Register stießen und die Klangfarben änderten. Atonale Musik, erzeugt von einem wippenden, kreisenden Frauenhintern und dem Rhythmus, in den Jonathan allmählich fand. Dazu sang Liliane wie ein böser Engel, dass ihre spitzen Schreie die Kirchenkuppel erfüllten. Und die Glocken läuteten zur vollen Stunde.

»Großer Gott, du bringst mich um«, quietschte Liliane, während Jonathan verbissen ihren schnellen Rhythmus abzubremsen versuchte. Liliane überfiel Jonathan mit wilder, ausgehungerter Gier. Bäuche und Hüftknochen rieben sich lustvoll, Schenkel und Knie stießen gegeneinander auf den Manualen dieser Orgel aus dem 18. Jahrhundert. Ihr Hinterteil wippte auf den Tasten, und ihre Fersen trommelten auf die Pedale.

Plötzlich füllte sich die Kirche. Zwanzig Uhr, der Kirchenchor versammelte sich wie immer an diesem Tag zur Abendprobe, lauschte fassungslos und betete zu Gott. Was für eine gewagte Komposition. Dort oben spielte ein Prophet des Glaubens. Noch nie im Leben hatten sie so viel empathische Frömmigkeit empfunden.

Erschöpft trat Jonathan den strategischen Rückzug aus Lilianes Schoß an. Kurz bevor er einen seiner kostbaren Schüsse riskiert hatte, war sie endlich gekommen. Jetzt glitt ihr Hintern von der Tastatur. Atemlose Stille, und aus dem Kirchenraum erklangen rasender Beifall, Jubel und Halleluja.

»Und du?«, flüsterte Liliane. Sie war eine Frau mit Sinn für Gerechtigkeit. »Ich will hier raus.«

Liliane zog den Mantel zusammen. Sie gingen ein paar Stufen nach unten und brachten sofort die Treppe zum Knarren. Der Chor sang das Ave-Maria. Jonathan hob den Kopf und lauschte.

»Da singt mein Bruder mit«, stellte er nach einer Weile leise fest.

»Dein Bruder?«

Sie kauerten auf dem obersten Absatz der Treppe zur Empore.

»Du kennst ihn doch.«

»Nein.«

»Er spricht mit mir über dich.«

»Ja, ich kenne ihn, aber nur ein wenig.«

Sie fröstelten in der feuchten Luft. Liliane kicherte.

»Wir kommen hier nicht raus, bevor sie aufhören.«

»Wir haben Zeit.«

»Wozu?«

»Keiner kann uns stören, wenn wir leise miteinander reden.«

»Worüber?«

Der Chor stimmte Segne, du Maria an.

»Zum Beispiel über uns.«

Maria durch ein Dornwald ging.

»Ich könnte dir einen runterholen.«

Sie warteten zwei Stunden, bis die Chorprobe zu Ende war, und konnten gerade noch aus der Kirche fliehen, bevor sie zugesperrt wurde.

»Jetzt bist du dran. Was sein muss, muss sein. Zu mir oder zu dir?«

***

Der Fernseher lief stumm, als sie seine Wohnung betraten, und zeigte Schlägereien mit Neonazis. Jonathan griff nach der Fernbedienung und zappte sich durch die Kanäle. Eine Wiederholung von Menschen, Tiere & Doktoren erschien auf dem Bildschirm. Ein Rauhaardackel lag auf dem Operationstisch. Ihm wurde ein Bypass gelegt.

Jonathan schenkte Liliane und sich ein Glas Wein ein.

»Hast du eigentlich manchmal Selbstzweifel und Ängste?«, fragte er, nachdem sie angestoßen hatten. »Zum Beispiel, nicht mehr attraktiv genug zu sein, um wirklich geliebt zu werden?«

Liliane schüttelte den Kopf. »Ich hab ja dich! Was will man mehr?«

»Ich mache mir manchmal Sorgen um meine Gesundheit«, murmelte Jonathan.

»Das ist nicht so schlimm, wir lieben uns doch, oder?«

Sie leerte ihr Glas und schenkte sich erneut ein.

»Vielleicht sollten wir mal eine kleine Sexpause einlegen«, schlug Jonathan vor.

Liane stand auf, schälte sich aus Mantel und Reizwäsche und eilte splitternackt ins Badezimmer.

»Wollen wir es wieder mal im Bett machen?«, rief sie ihm zu.

***

Jonathan lag schon schlafend im Bett, als sie sich ihm näherte. Sicher täuschte er das nur vor, um sie aufzureizen. Sie deckte ihn auf, kraulte ihm den Schwanz, bemerkte dann eine merkwürdige Ampulle, die in seiner Hand versteckt war, und nahm sie an sich.

Jonathan seufzte im Schlaf, während sie die Spitze abbrach und sich die milchige Flüssigkeit in die Hand spritzte. Dann zwickte sie ihn in die Arschbacke.

Jonathan setzte sich jäh auf. Die Nebenwirkungen von Viagra griffen verstärkt nach ihm, gleichzeitig verschaffte sich die angedrohte Herabsetzung des Reaktionsvermögens Geltung. Als er sich aufbäumen wollte, war es schon zu spät. Liliane ließ sich breitbeinig auf seinem Kopf nieder und senkte dabei ihre Muschi auf seine Nase. Abnorme visuelle Wahrnehmungen überwältigten ihn. Vor seinen Augen schwebte ein großer weißer Arsch, wippend wie ein gestrandeter Zeppelin im Sturm der Gezeiten, und sein Mund wurde von einer feuchten, klebrigen Monsterkrake verschlungen. Tausend Meter unter dem Meeresspiegel wehrte er sich gegen den Angriff und stieß mit seiner einzigen Waffe, seiner Zunge, zu, um das Ungeheuer zu bekämpfen.

Liliane griff beglückt nach seinem Penis, um ihn mit einer kameradschaftlich kräftigen Massage in ihr persönliches Kriegsspielzeug zu verwandeln.

Schwindelgefühle, Hitzeschübe und hohes Fieber durchwallten Jonathan. Er schnappte nach Luft. Wo war seine Sperma-Ampulle?

»Ich habe ein unerträgliches Stechen im Schwanz!«, schrie er in die Vagina.

»Ja, das ist gut«, keuchte Liliane zurück, »hör nicht auf. Ich bin bald so weit.«

»Wer bist du?«, schrie Jonathan. »Weiche von mir, böser Geist!«

»Ja, komm mit mir!« Liliane schrie aus voller Brust. Gläser zerschellten. Die Spülmaschine schaltete sich ein. Fenster sprangen auf. Jonathan warf Liliane von sich, bildete mit seinen Zeigefingern ein Kreuz und hauchte sie an. Zwei Tage zuvor hatte er Knoblauchspaghetti gegessen, soweit er sich erinnerte.

»Versuche mich nicht, Teufelin!«

»Herrgott noch mal«, Liliane klang allmählich verärgert, »reiß dich gefälligst zusammen.«

»Wenn Ihr Partner auf das, was Sie gesagt haben, momentan nicht reagieren kann«, sagte Jonathan, nachdem er zu sich gekommen war, »dann lassen Sie ihm Zeit, es zu verdauen. Drängen Sie ihn nicht zu einer Stellungnahme, vereinbaren Sie stattdessen einen neuen Termin!«

Liliane kratzte sich unter ihrer linken Brust. Sie holte die Sperma-Spritze hervor und drückte sie an seine Stirn. »Was ist das?«

Sofort stand Panik in seinen von Viagra getrübten Augen.

»Ich kann es dir erklären«, sagte Jonathan. Was blieb ihm anderes übrig? Also gestand er ihr, wie es um ihn stand, kniete sich vor sie hin und weinte und flehte.

Gespräche können natürlich auch missglücken, sagte er sich später. Das zeigt sich zum Beispiel darin, dass die Diskussion in gegenseitigen Vorwürfen und Schuldzuweisungen endet, ein Partner beleidigt schweigt und kein Fortschritt erkennbar wird.

Liliane machte es kurz.

»Sieben Schuss?«, fauchte sie ihn an. »Weißt du eigentlich, was du mir da antust?«

»Wir können natürlich immer noch Sex haben«, schlug Jonathan vor, »dreimal täglich, dreimal hintereinander, immer wenn du möchtest.«

»Und du?«

»Ich muss da ein wenig vorsichtig sein. Einen Orgasmus kann ich mir leider nur noch in jedem siebten Jahr erlauben.«

»Das kann nicht dein Ernst sein!«

»Je nach Lebenserwartung«, fügte er schnell hinzu.

»Und wo bleibt das Gemeinsame?«

»Aber ich liebe dich doch«, sagte Jonathan in der Hoffnung, dass sie doch zu den Frauen gehörte, die mit Sex ohne Liebe wenig anfangen konnten.

»Ich dich auch, aber was soll ich mit dir anstellen? Was kannst du eigentlich sonst noch?«

Jonathan überlegte eine Weile. Sie hatte recht.

»Starkwindsurfen? Drachenfliegen? Tiefseetauchen?«, bohrte sie nach. »Nicht einmal Tennis kannst du spielen.«

»Das kannst du ja selber nicht.«

»Egal.«

»Wir könnten es gemeinsam lernen.«

»Dafür gibt es Bessere als dich.«

»Wir könnten zusammensitzen und fernsehen, bei einem Glas Wein?«

Liliane schnaubte.

»Wir könnten uns unterhalten.«

»Worüber?« Liliane schwieg. »Hör zu, ich muss gehen«, sagte sie dann abrupt.

»Nein, lass es uns noch mal versuchen!«

»Bei aller Liebe«, schüttelte sie den Kopf, »Behindertenbetreuung ist nicht mein Ding.«

»Moment. Warte doch mal. Bitte!« Jonathans Verzweiflung war zum ersten Mal in seinem Leben echt. »Du kannst jetzt nicht gehen. Sieh mich doch an.« Schon wieder kamen ihm die Tränen. Das wurde langsam peinlich.

»Ich habe nein gesagt.«

»Komm schon. Sei doch nicht so.«

Jonathan wühlte hastig in den Schätzen der untersten Schublade seiner Schlafzimmerkommode.

»Moment«, rief er Liane nach, »das schenke ich dir.«

Er drückte ihr einen kleinen Goldfisch in die Hand. »Zur Erinnerung an drei Monate inniger Liebe«, lächelte er müde.

»Wird da einer sarkastisch?«, sagte Liliane. Sie musterte das goldene Stück und brachte es zum Summen. »Ein goldener Muschikribbler? Wie sinnig. Den kannst du dir sonst wo reinschieben.«

»Nein, nein, er ist nur für dich.«

Liliane steckte ihn ein. »Mal sehen, wozu er sonst noch gut ist«, sagte sie.

Er stieß einen gutturalen Laut aus, der zu einem langsamen, freudlosen Stöhnen wurde.

»Jetzt komm mir nicht mit der Weichei-Nummer!«

»Ich bitte dich. Ich flehe dich an.«

Liliane zog ihren Mantel an.

»Dann geh halt«, sagte Jonathan, um deutlich zu machen, dass er sie verließ und nicht sie ihn. Das festzustellen war für die Selbstachtung allemal wichtig.

»Ich gehe nicht, weil du es willst, sondern weil ich es will«, hielt Liliane dagegen, während sie ihre Requisiten aus dem Badezimmer räumte.

»Und tschüs «, sagte sie dann und stolzierte zur Wohnungstür.

»Darf ich dich anrufen, wenn es mir bessergeht?«, rief Jonathan ihr nach.

»Du kannst mich mal. Ich gehe jetzt. Und wenn du dein Ding noch einmal in meine Richtung wedelst, kriegst du eins in die Eier, dass dir schwindlig wird!«

Jonathan wurde es jetzt schon ganz blümerant. »Ich garantiere dir, dass du nie mehr in deinem Leben ein sexuelles Erlebnis haben wirst, nicht einmal mit dir selbst.«

Es war zu Ende und vollbracht. Die Tür schlug zu.

Als er allein war, öffnete Jonathan noch einmal seine Schublade und zählte die batteriebetriebenen Muschikribbler, die er vor Jahren als Sonderposten angeschafft und seitdem seinen Freundinnen als liebenswert augenzwinkerndes Standardabschiedsgeschenk in die Hand gedrückt hatte. Von den fünfzig funkelnden Exemplaren waren noch neun übrig. Ob er sie noch jemals loswurde?

***

Eine Stunde später wanderte Jonathan immer noch einsam durch seine Wohnung und versuchte sich sinnvoll abzulenken. Abschied nehmen und eine vernünftige Trauerarbeit, das war leichter gesagt als getan. Seit Jahren wollte er den Staubsaugerbeutel auswechseln. Nun war es an der Zeit, sich diesen nützlichen Dingen zuzuwenden. Eifrig untersuchte er das Gerät und erinnerte sich daran, dass er schon immer seine CD-Sammlung alphabetisch umsortieren wollte. Jetzt wurde ihm blitzartig klar, dass er kaum CDs besaß. Ravels Bolero, den er dann und wann als schlichte rhythmische Vorlage benutzte. Ein paar entsprechende Verdi-Ouvertüren, wenn es kapriziöser zugehen sollte. Für Leidenschaftliche James Brown, James Last für Schwerfällige. Etwas arabische Musik für Ethno-Liebhaberinnen. Für schlichte Frauen Pur und Peter Maffay. Für gerade Volljährige einen Hip-Hop-Sampler, für Reifere Peter Alexander. Das war’s dann schon.

Seine Versuche, das Thema zu wechseln, scheiterten, als er den Kühlschrank abtaute. Er spürte, dass das Verlassenwerden ganz offensichtlich zu den menschlichen Urängsten gehörte. Diese Angst traf ihn endlich wie eine Bombe, die das komplette Fundament seines Lebens erschütterte, als er alle weiblichen Utensilien aus dem Badezimmer auszuräumen versuchte, um alles zu vergessen, was er geliebt hatte. Er entdeckte längst vergessene Schätze: eine uralte Enthaarungscreme, einen verdreckten Ladyshaver, eine Hunderterschachtel vor Ewigkeiten abgelaufener Kondome, drei Spiralen, ein Diaphragma, eine Kontaktlinse, eine Zahnspange, ein Pfefferspray und ein Springmesser.

Als er seine Vergangenheit um sich herum ausgebreitet sah, bekam er einen Weinkrampf. Das Leben war völlig aus den Fugen geraten. Er riss sich zusammen, sortierte die Utensilien in einen großen Pappkarton und beschloss, diese Kostbarkeiten den Bedürftigen der Stadt zukommen zu lassen. Vielleicht sollte er sein Leben ohnehin künftig karitativen Zwecken widmen.

Wie magnetisch fühlte er sich von der Kammer angezogen, in der sein Lebenswerk versteckt war. Er griff unter die Amor-Statue, die als Fernsehleuchte diente, und fand den Schlüssel. Jonathan fühlte sich um Jahre gealtert, als er seine Geheimkammer betrat, einen großen begehbaren Kleiderschrank im Schlafzimmer, den er sich für seine Zwecke umgebaut hatte. Als sexomanischer Weiberheld und gleichermaßen ordentlicher Deutscher war er stolzer Besitzer der sicher weltweit größten Sammlung sexueller Obsessionen. Ereignisse und Ergebnisse versammelt an einem sakralen Ort der Andacht. Katalogisiert, um Verwechslungen zu vermeiden. Wer erinnerte sich schon nach längerer Zeit genau an den Körperbau einer alten Liebschaft, die inzwischen zwanzig Jahre älter und zwanzig Kilo schwerer geworden war? Ob die rechte oder die linke Brust größer oder empfindlicher gewesen war? Wie stark Nippel, Warzenhöfe, Schamlippen und Klitoris ausgeprägt waren? Und ob sie ihre Erregung laut oder leise mit einem Hauchen, Summen, Zwitschern, Quietschen, Kreischen oder völlig stumm zum Ausdruck gebracht und ob sie nach Zitrone oder Honig gerochen hatte?

Und natürlich war jede einzelne seiner Ejakulationen sauber aufgelistet. Jonathan begann zu zählen. Wie verschwenderisch er sich doch hingegeben hatte.

Nun stand er zwischen den Trümmern seiner Existenz.

Jonathan wandte sich von seinem überwältigenden Gesamtwerk ab und suchte mit fliegenden Fingern nach der prallvollen Mappe, in der Lilianes Daten gesichert waren. Keine Frau nahm so viel Platz ein wie sie.

Er setzte sich an den Küchentisch und breitete das Material vor sich aus. Er spürte, wie die Konzentration der Glückshormone rapide zunahm, während er es ordnete und sichtete: ein Slip, ein Büstenhalter, ein Zehennagel, Fotos und kurze Videos, aufgezeichnet mit seinem Handy. Diverse Kopulationen und Nahaufnahmen. Saubere Notizen über Lilianes Maße: außer den primären und sekundären Geschlechtsmerkmalen noch Mund, Nabel, Zehen, Achselhöhlen. Sinnliche Eindrücke – Hören, Riechen, Spüren, reinlich geordnet in Tastsinn usw. Schließlich: Wann? Wie? Wo? Warum? Wie oft? Wie lange? Orte, Stellungen, diverse Lautgebungsunterschiede, ausgewertet mit dem Statistikprogramm in seinem Computer. Der Geilheits-Quotient – wie ein Lehrer einen Schüler beurteilt. Von sehr gut bis ungenügend. Notizen dazu: Liliane bemühte sich beim Blasen sehr. Fachlich zwar kompetent und gut vorbereitet, fehlten ihr die Kooperationsbereitschaft und die Teamfähigkeit. Bei der unangekündigten Stegreifaufgabe entsprach ihre Leistung nicht ihrem Talent. Liliane neigt zur Faulheit. Trotzdem: Liliane weist Mängel auf, die in absehbarer Zeit behoben werden können.

War er zu streng gewesen?, fragte sich Jonathan und blätterte weiter.

Lilianes Grundkenntnisse beim Analverkehr sind lückenhaft. Ihr Sinn für Hilfsbereitschaft bei Erektionsschwierigkeiten, Zivilcourage beim Geschlechtsverkehr im öffentlich-rechtlichen Bereich, die Fähigkeit zur Selbsteinschätzung sowie die Verantwortungsbereitschaft und Pünktlichkeit bei der gemeinsamen Orgasmusbildung sind nur schwach ausgeprägt. Mit etwas Fleiß kann das sicher besser werden.

Ja, er war zu streng gewesen! In späteren Beurteilungen steigerte sie sich zur Musterschülerin, eine Eins nach der anderen.

Jonathan sichtete die Fotos. Seine Vernunft sagte ihm, dass er alles, was ihn noch an sie erinnern konnte, vernichten musste, um seinen Leidensweg zu verkürzen. Er kramte nach einer Mülltüte, um Lianes Vermächtnis zu entsorgen.

Aber was war, wenn einer der neugierigen Hausbewohner auf die Idee kam, im Müllcontainer herumzuwühlen? Vielleicht nur, um nach seinem letzten Kontoauszug zu suchen?

Wie oft wurden weggeworfene geheime Akten für Erpressungen benutzt oder tauchten zumindest in den Schlagzeilen der Bild auf.

Verbrennen? Oder in einem einsamen Waldstück vergraben? Er hatte keinen Spaten und kannte kein geeignetes Waldstück. Er kam ins Grübeln. Abschied nehmen und eine vernünftige Trauerarbeit, das dauerte manchmal eine ganze lange Nacht.

Kein Wunder, dass er am nächsten Morgen nach beunruhigenden Träumen wie gerädert aufwachte.

Kapitel 10

»Herzlichkeit und froher Sinn
bringen Freunde und Gewinn.«

Sprichwort

Auch an diesem Morgen parkte auf Jonathans Stammplatz vor dem Verlagsgebäude wieder die kleine Karre vom Vortag. Das war kein Zufall mehr. Er unterdrückte die Versuchung, den Seitenspiegel abzubrechen, und kreiste auf der Suche nach einer Parklücke durch die Straßen der tristen Umgebung. Vor dem Swingerclub stellte er sein Auto unter dem Schild Nur für Privatkunden ab.

Der Rückzug in die heile Welt. Das Paula-Logo führte Jonathan ins alte Paradies.

Julia, die Empfangsdame, trank stilles Wasser. Tag und Nacht viel Wasser trinken, um Schwangerschaftsstreifen vorzubeugen. Das war momentan der Trend. Ein Bein wippend über das andere geschlagen, nahm sie gutgelaunt Anrufe entgegen, während sie gleichzeitig in einem Konkurrenzblatt blätterte.

»Alle gehen inzwischen damit hausieren«, sagte Julia ins Telefon und winkte Jonathan zu. »Unlängst hat mir einer sogar sein ärztliches Attest gezeigt. Siebentausend Schuss. Ist das viel?«

Jonathan blieb stehen.

»Nur noch vierzig?« Julia brach in Gelächter aus. »Nein, kein falsches Mitleid mit diesen Typen«, sagte sie und gab ihm Zeichen, dass sie gleich für ihn da war. »Wir Frauen können doch nur froh sein, dass wenigstens ein paar von ihnen aus dem Verkehr gezogen sind …«

Jonathan versuchte vergeblich, seine Ohren auf Durchzug zu stellen, und wippte stattdessen unruhig – und synchron mit Julias Beingewippe – auf den Füßen, bis sie endlich aufgelegt hatte.

»Wie sieht’s aus, Jojo?«, trällerte sie los und lächelte ihr breitestes Empfangsdamen-Lächeln. »Was, glaubst du, bist du für ein Männertyp? Eher Latin Lover, Macho oder Schönling?«

Schroff attackierte er Julias gute Laune. »Wer von euch Weibern steht seit gestern auf meinem Parkplatz?«

»Ich weiß es«, sagte Julia. »Aber nicht in diesem Ton.«

»Ich will meinen Platz wiederhaben!«

»Wenn du dich so feindselig benimmst, dann bist du ein Machotyp, der sich als Latin Lover verstellt. Und das ist noch schlimmer, als schwul zu sein, ohne es zuzugeben!«

Und diese junge Frau hatte er noch vor einem Vierteljahr als ungeheuer witzig und schlagfertig klassifiziert. Jonathan musste unbedingt die Notizen in seinem Archiv korrigieren.

Valentin, sein einziger männlicher Kollege, steuerte zielstrebig auf ihn zu und verschwand, kaum dass er die Situation erfasst hatte, wieder im Flur.

»Moment«, rief Jonathan ihn um Hilfe.

»Und was bietet der Macho uns Frauen an?«

Er ließ Julia einfach reden und verdrückte sich.

Sein Freund war weg, und so machte er sich auf den Weg zum Kaffeeautomaten. Zwei Kolleginnen waren in ihr Gespräch vertieft, während er nach seiner kübelgroßen Tasse suchte, auf der sein Name stand: Jojo! So wurde er hier genannt.

»Wo ist meine Tasse?«, zischte er. Hier fanden systematische Enteignungen statt. Symbolische Kastrationen, die ihn foltern und erniedrigen sollten.

»Du bist jetzt ruhig, Jojo«, sagte Vera Hübner, Redakteurin für Haushalt und Verbraucherschutz, kühl – Tests, Tipps und Tricks für den Alltag, Sex mit batteriebetriebenen Handstaubsaugern – und hob ihre Kaffeetasse an die Lippen.

»Wenn ich mal einen Tag keinen Sport mache, bin ich einfach kein Mensch mehr!«, wandte sie sich dann wieder Friederike Roll zu.

Friederike Roll, Redakteurin für Besser Wohnen, Haus und Garten – Phantasien mit Resten, so zaubern Sie schnell eine gemütliche Kuschelatmosphäre, wie man seinen Mann im Bett mit altem Blechspielzeug betören kann.

»Ehrlich gesagt, ich brauch das nicht unbedingt«, sagte sie mit unschuldigem Blick. »Ich kann essen, was ich will, ich nehme einfach nicht zu!«

»Nett«, entgegnete Vera zuckersüß, während sie Friederikes Rock befingerte. »Den wollte ich mir auch kaufen, fand ihn dann aber doch zu billig.«

Jonathan griff nach einer der weniger verdreckten Tassen und schnüffelte daran. Er unterdrückte seine Cupulaphobie, die Angst vor fremden Tassen, und starrte den beiden Frauen nach, die sich plappernd ihren Arbeitsplätzen näherten. An ihren Hinterteilen war wirklich nichts auszusetzen.

Jonathan beschloss, sein Verhältnis zu den Kolleginnen neu zu bewerten, unter Hinzuziehung seines heimlichen neuen Maßstabs. Diese Idee baute ihn auf. Mit dem Kaffeebecher mit Aufschrift Olivia – Finger weg! in der Hand drehte er auf dem Weg in seinen Büroverschlag die gewohnte Runde.

»Einen wunderschönen Tag, Jojo«, lächelte Jasmin ihm zu. »Du hast rote Flecken im Gesicht.«

Jasmin Bachstein, verantwortlich für Mode, trug einen Nadelstreifenanzug im Herrenschnitt. Ihr nussbraunes Haar zu einem lockeren Zopf gebunden, war sie ein Anblick wie das Titelbild eines Hochglanzmodemagazins, einfach perfekt.

»Hast du eine wilde Nacht gehabt?«, fragte sie.

Jonathan wusste, dass sich hinter der seriösen Verkleidung eine alte Partylöwin verbarg. Am Wochenende trieb sie sich immer in zweifelhaften Discos mit zweifelhaften Typen herum. Zumindest redeten ihre Kolleginnen so über sie.

»Das kannst du laut sagen«, sagte er mit einem frivolen Zwinkern.

»Du kannst es einfach nicht lassen, was? Wann wirst du endlich erwachsen?«

»Ich arbeite daran. Und wann werdet ihr Mädels hier in diesem Betrieb endlich richtige Frauen?«

»Was willst du damit sagen?« Sie musterte ihn so ablehnend wie einen Zeugen Jehovas.

»Wann gibt es hier endlich schwangere Frauen mit Doppelnamen, Ehemännern und Eigenheimen?«

Sie musterte ihn missbilligend. »Hausfrau und Mutter?«

Seit sieben Monaten trafen Jasmin und Jonathan sich an jedem dritten Samstagnachmittag bei ihr, um miteinander Doktor- und Erziehungsspiele zu spielen. Sie besaß ein altes Puppenhaus und einen Medizinkasten für Kinder von drei bis sieben Jahren, mit dem sie sich als Vater und Mutter vergnügten. Das machte sie nur mit ihm.

Jasmin sah ihm mit einem tiefen Seufzer in die Augen. »Irgendetwas ist mit dir passiert, Jojo. Man hört, dass dich deine Lebensgefährtin im Stich gelassen hat.«

»Ich war nur drei Monate mit ihr zusammen«, winkte Jonathan ab.

»Das ist viel für deine Verhältnisse.«

»Und übrigens war ich es, der sie verlassen hat.«

Jasmin schüttelte den Kopf. »Müssen es immer die Männer sein, die uns Frauen verlassen?«

Jonathan errötete. »Natürlich nicht, aber in diesem Fall …«

»Heute gibt es drüben im Griechen-Bistro übrigens Lammnieren mit Kartoffelpüree und Bohnen als Mittagstisch«, beendete Jasmin das Gespräch, »und für Vegetarier Tofu auf Lammnierenart mit Kartoffelpüree und Bohnen. Kommst du mit?«

Kapitel 11

»Überhaupt ist Bedürfnis nach Einsamkeit ein Zeichen dafür,

dass in einem Menschen Geist ist,

und der Maßstab dafür,

was an Geist da ist.«

Kierkegaard

Jonathans einziger männlicher Kollege klopfte an seine Tür und streckte den Kopf hinein. »Wir müssen reden. In einer Stunde? Du gehst vor.«

»Du gehst vor«, sagte Jonathan zu Valentin, »ich komme nach.«

Er legte den Kopf in die Hände. Woher komme ich? Wo bin ich? Wohin will ich?

Beinahe fünfzehn Jahre war er nun schon hier in diesem Haus, nachdem er zuerst sein kurzes Theologiestudium wegen Glaubenszweifeln und dann das Biologiestudium nach drei Semestern abbrechen musste, das er sich als leidenschaftlicher Tierpfleger im städtischen Zoo finanziert hatte. Seine Hängebauchschweinchenhaarallergie war damals der Grund gewesen, sich nach einer sitzenden Stellung unter Menschen umzusehen. Und so kam er als klassischer Quereinsteiger – learning by doing – in den Verlag. Seine Vorbildung erwies sich als nützlich, und so stieg er schnell aus den Gewölben des Archivs auf und wurde schließlich Assistent der damals zuständigen Redakteurin für Sex, Liebe und Partnerschaft. Er bewährte sich in den Rubriken Erotische Träume und Ihr Sex-Horoskop und übernahm dieses Traumressort, als seine Vorgesetzte nach einer Geschlechtsumwandlung zu einer Auto-, Motor- und Sport-Illustrierten wechselte. Er entdeckte in sich das Weib im Manne und ein Talent, sich besser in Frauenseelen hineinzuversetzen, als sie selbst es konnten. Er war das Zugpferd von Paula. Wenigstens bis jetzt.

Das Telefon klingelte.

»Du meine Güte, was muss ich hören?«, erklang die besorgte Stimme seines Vaters.

»Können wir nicht später …«, sagte Jonathan. Er spürte seine volle Blase, lechzte nach Nikotin und nach einem Gespräch mit seinem einzigen Freund in diesem Haus.

»Ich bin dein Vater. Muss ich das von deinem Bruder hören? Hast du zu wenig Vertrauen zu mir, um dich an mich zu wenden?«

»Tut mir leid, ich musste erst mal Luft holen.«

»Das kann ich verstehen. Ich habe noch 7000 Schüsse. In meinem Alter müsste das genügen.«

Konrad Kaiser war gerade siebzig geworden. Er hatte vier Ehen hinter sich und verlebte seine Zeit in Saus und Braus mit wechselnden Geliebten, die gerade nicht mehr unter das Jugendschutzgesetz fielen.

»Wie hat eigentlich Liliane reagiert?«, fragte er.

Details

Seiten
Erscheinungsform
Neuausgabe
Jahr
2015
ISBN (eBook)
9783958244078
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2015 (Dezember)
Schlagworte
Comedy Roman Komödie Tommy Jaud David Safier Thorsten Steffens Humor Roman Feelgood-Roman Neuerscheinung eBooks
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Titel: Noch sieben Schuss, dann ist Schluss
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